In Polen herrscht der Egoismus der Erschöpften

Der Rechtspopulist Jaroslaw Kaczynski wittert seine Chance zur Rückkehr an die Macht. Vor der Sejm-Wahl am Sonntag zeigt das wirtschaftlich so erfolgreiche Polen Symptome eines kollektiven Burnout-Syndroms, wie ein Augenschein in Posen zeigt.

People walk past election posters in Legionowo, near Warsaw, Poland, Thursday, Oct. 22, 2015, ahead of Sunday's parliamentary elections. Opinion polls show opposition conservative Law and Justice with slightly more support than the ruling pro-business Civic Platform party. (AP Photo/Alik Keplicz)

(Bild: ALIK KEPLICZ)

Der Rechtspopulist Jaroslaw Kaczynski wittert seine Chance zur Rückkehr an die Macht. Vor der Sejm-Wahl am Sonntag zeigt das wirtschaftlich so erfolgreiche Polen Symptome eines kollektiven Burnout-Syndroms, wie ein Augenschein in Posen zeigt.

Mit dem Oktoberwind weht das eingebildete Echo eines Rilke-Gedichts über den Posener Altmarkt: «Herr, es ist Zeit, der Sommer war sehr gross…» Doch nun dies: Herbsttage. Nebel. Nieselregen. Von der Grösse des vergangenen Sommers künden allein die letzten Holzterrassen vor Cafés und Restaurants. «Herr, gib uns noch zwei südlichere Tage!», scheinen die Besitzer mit Rilkes Worten zu flehen. Aber nein, in der grauen Wirklichkeit bleiben die Stühle gestapelt. Die Party ist vorbei. Arbeiter rücken an, um alles abzuräumen. Es sind Bilder mit Symbolcharakter.

Die moderne Messemetropole Posen mit ihrem historisch wertvollen, touristisch attraktiven Zentrum ist so etwas wie die Stein gewordene Vorzeigestadt des polnischen Wirtschaftswunders, von dem Ökonomen seit Jahren schwärmen. Seit dem EU-Beitritt 2004 ging es im Land durchweg bergauf. Die Arbeitslosenquote sank von 19 auf aktuell acht Prozent. Selbst im globalen Grosskrisenjahr 2009 schaffte Polen ein Wachstum, als absoluter Primus in Europa. In Posen, im boomenden Westen des Landes, der von seiner Nähe zu Deutschland profitiert, herrscht seit Jahren nahezu Vollbeschäftigung. Im Sommer waren hier weniger als drei Prozent der Menschen arbeitslos.

«Wozu über Politik reden?»

Und dennoch. Trotz alledem herrscht im Wirtschaftswunderland Polen vor der Parlamentswahl am Sonntag eine Wechselstimmung, die im Herzen Europas ein politisches Erdbeben auslösen könnte. Nach acht Jahren liberalkonservativer Regierung steht die nationalistische PIS des Rechtspopulisten Jaroslaw Kaczynski vor einer Rückkehr an die Macht. Manche Umfragen verheissen der PIS sogar eine absolute Mehrheit der Mandate. In den Albträumen mancher EU-Politiker droht Polen bereits zu einem zweiten Ungarn zu werden, wo der Europa-Verächter Viktor Orban autoritär regiert. Wie kann das sein?

Die wenigen Menschen auf dem Posener Altmarkt schlagen ihre Kragen hoch und beschleunigen auf dem freien Platz im schwachen, aber bereits mit Winter drohenden Wind ihre Schritte. Gesprächsbereit ist hier kaum jemand. Adam, 21, bleibt kurz stehen, fragt aber mürrisch zurück: «Wozu über Politik reden?» Die Sejm-Wahl ist für den Anglistik-Studenten kein Thema, für das es sich lohnen würde, in der Oktoberkälte zu frieren. «Ich bleibe am Wochenende zu Hause», verkündet er knapp und eilt weiter.

1,5 Millionen junge Menschen haben Polen seit dem EU-Beitritt 2004 verlassen

Krzysztof Malinowski hat mehr Zeit. Er hat es auch wärmer. Der Politologe und stellvertretende Leiter des Posener West-Institutes residiert nicht weit vom historischen Altmarkt entfernt. Über die Wahlmüdigkeit der jungen Polen, von der die Demoskopen seit Langem berichten, wundert er sich nicht. «Die Regierungen von Donald Tusk und Ewa Kopacz haben insgesamt eine erfolgreiche Politik gemacht», sagt er zwar im Rückblick auf die vergangenen acht Jahre, in denen die liberalkonservative Bürgerplattform (PO) die Geschicke des Landes bestimmt hat. Doch Malinowski schränkt nachdrücklich ein: «Die PO hat ihre eigenen Versprechen nicht erfüllt. Darunter leiden vor allem die Jüngeren.»

Wer in Polen von der Schule oder der Universität ins Berufsleben wechselt, erhält in aller Regel einen schlecht dotierten, zeitlich befristeten Arbeitsvertrag. Der Volksmund spricht von «Müllverträgen». Oft folgt auf einen Müllvertrag ein weiterer, und erst nach langen Jahren im Hamsterrad der Marktwirtschaft ist so etwas wie ein gesicherter beruflicher Erfolg möglich. Es sei ein «Rattenrennen», sagen Soziologen, bis hin zur totalen Erschöpfung. Diagnose: kollektiver Burnout bei den Jungen, weit vor der Zeit. Wer das nicht will, wandert ab, nach Grossbritannien, Skandinavien oder Deutschland. «1,5 Millionen junge Menschen haben Polen seit dem EU-Beitritt 2004 verlassen», berichtet Malinowski.

Farm owner Andre Nowakowski (L) watches as Beata Szydlo main opposition party Law and Justice (PiS) candidate in the upcoming parliamentary election selects an apple during a visit to his farm in Zdzary near Nowe Miasto, central Poland October 16, 2015. REUTERS/Kacper Pempel

Auch draussen, vor den Fabriktoren, ist fast niemand bereit, auf die Fragen eines Journalisten zu antworten. Eine hagere Frau Mitte vierzig, die ihren Namen nicht nennen mag, erzählt nach einigem Zögern dann doch von der Furcht in der Belegschaft. «Natürlich haben wir alle Angst um unsere Jobs. Die meisten von uns haben eine Familie zu ernähren.» Sie fingert eine Zigarette aus der abgegriffenen Kunstledertasche, zündet sie an und kommt dann doch ins Reden. Die Lage im Land sei insgesamt nicht gut, zumal «jetzt auch noch die Flüchtlinge zu uns kommen sollen». Sie werde PIS wählen.

Die VW-Arbeiterin bekennt, sich vor allem nach Sicherheit zu sehnen. Genau damit wirbt die PIS – und schürt zugleich die Angst. Kaczynski und selbst der vermeintlich gemässigte Präsident Duda warnten zuletzt vor der Ausbreitung von Krankheiten durch den Zustrom von Flüchtlingen nach Europa. «Cholera auf den griechischen Inseln, Ruhr in Wien: Parasiten und Bakterien, die in den Organismen dieser Menschen harmlos sind, können hier bei uns gefährlich werden», erklärte Kaczynski. Und Duda ergänzte, die Bevölkerung müsse «vor allen Risiken von Epidemien geschützt werden».

Holz im Heizkessel ist die Flüchtlingskrise

Die Flüchtlingskrise hat den Wahlkampf auf der Zielgeraden noch einmal befeuert, obwohl Polen bislang nicht direkt betroffen ist. Die liberale Kopacz-Regierung hat sich im September lediglich dazu bereit erklärt, im Zuge der geplanten EU-Umverteilung einige Tausend Schutzsuchende aufzunehmen. Vielen Bürgern des ethnisch und religiös fast homogenen Landes mit seinen mehr als 90 Prozent Katholiken geht das allerdings bereits zu weit.

Krzysztof Malinowski hat dafür nur eine Erklärung: Egoismus. Polen habe ein Vierteljahrhundert einschneidender Reformen hinter sich. «Die Menschen haben das Gefühl: Wir haben uns unglaublich abgerackert, und jetzt bekommen wir von aussen ein Problem», erklärt der Politologe. «Dieser Egoismus ist da.» Es ist der Egoismus der Erschöpften.

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