Seit Ungarn die Grenze zu Kroatien geschlossen hat, liegt Slowenien mitten auf der Balkanroute. Die Behörden sind mit dem Flüchtlingsansturm überfordert. Die Geflüchteten müssen bei Temperaturen um vier Grad unter freiem Himmel schlafen.
«Alle sofort setzen. Folgt unseren Anweisungen, und keine Kämpfe.» Diese Ansage ertönt in arabischer und englischer Sprache durch das Niemandsland an der Grenze zwischen Slowenien und Österreich. Die Geflüchteten folgen den Anweisungen. Sie sind hungrig, durstig und von den Strapazen gezeichnet. Rund 1000 Menschen setzen sich auf den kalten Asphalt. Wer den Anweisungen nicht folgt, darf auch nicht weiterreisen, so die Drohung.
Inmitten dieser Menschenmenge sitzt eine Gruppe, die in die Hände klatscht und auf Arabisch Lieder übers Leben und die Freiheit singt. Der Gruppe geht es auch nicht besser als den anderen, aber sie machen eben das Beste daraus. Vielleicht ist die Stimmung bei ihnen auch besser, weil ein Joint durch die Runde geht.
Unter ihnen befindet sich auch der 20-jährige Mohammed aus dem syrischen Latakia. Er möchte nach Dortmund. Dort lebt die Schwester eines Freundes. Mohammed zückt sein Smartphone und zeigt ein Bild, auf dem er im Deutschlandtrikot mit einer deutschen Flagge steht. «Deutschland, Weltmeister», diese zwei Worte hat er gelernt. In seinem Zielland sollen sie ihm ein paar Sympathiepunkte bringen.
Der 20-jährige Mohammed aus Latakia zeigt ein Bild, das seine Liebe zu Deutschland beweisen soll. (Bild: Krsto Lazarevic)
Das österreichische Bundesheer und die Polizei picken sich eine Gruppe heraus und stellen die Menschen in zwei Reihen auf. An einem Kontrollpunkt werden sie noch kurz aufgehalten. Als das Signal gegeben wird, dass es weitergeht, sprinten ein paar junge Männer auf den bereitgestellten Bus zu. Sie drängeln sich am Eingang und kämpfen darum, wer als Erster einsteigen darf.
Sich durchsetzen – oder warten: diese Erfahrung haben die Geflüchteten schon oft gemacht, auf der Balkanroute, die über Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien bis hierher nach Spielfeld führt. Eine Frau im Rollstuhl scheint den Kürzeren zu ziehen. Durch das Gerangel gelangt sie nicht zum Buseingang. Die Panik verfliegt jedoch schnell. Die österreichischen Beamten an der Grenze zu Spielfeld lassen nur 50 Personen gleichzeitig aus der Transitzone heraus. Jeder bekommt seinen Platz im Bus.
Die meisten Menschen vor Ort sind zuvor von der slowenisch-kroatischen Grenze gekommen. Die Fahrt von Brežice nach Spielfeld dauert mit dem Auto rund eineinhalb Stunden. Doch viele Flüchtlinge müssen sich bis zu drei Tage gedulden, bis sie diese Strecke hinter sich bringen. Am Donnerstag besuchte Österreichs Innenministerin, Johanna Mikl-Leitner, Spielfeld, um sich ein Bild von der Situation vor Ort zu machen. Die Ministerin wählte klare Worte: «Wir müssen an der Festung Europa bauen.» Der gewählten Rhetorik der christdemokratischen ÖVP ist anzumerken, dass die rechtsextreme FPÖ ihnen rechts der Mitte derzeit das Wasser abgräbt.
Flüchtlinge in Brezice, vor dem Einsteigen in die Busse Richtung Österreich. (Bild: Krsto Lazarevic)
Im slowenischen Brežice warten im kalten Flüchtlingslager unter freiem Himmel 2000 Menschen auf ihre Weiterreise. Ein Polizist versucht, einer siebenköpfigen Familie zu erklären, wohin es geht. Doch die verstehen kein Wort. Genauso wenig wie sie verstehen, warum sie sich ständig registrieren lassen müssen und immer wieder in ein neues Justizsystem hineingeraten. Hier, auf dem Balkan, wo die nächste Staatsgrenze immer nur wenige Kilometer entfernt ist. Alles, was die Flüchtlinge hier an der Grenze zu Kroatien wollen, ist so schnell wie möglich die 100 Kilometer durch Slowenien zu durchqueren, um nach Österreich zu gelangen.
Die slowenischen Behörden sind sichtlich überfordert. Militär und Polizei aus dem ganzen Land wurden an die Grenzen gebracht. Ein Polizist aus Ljubljana scherzt: «Wenn man irgendwo anders eine Bank ausrauben will, dann wäre jetzt der richtige Moment.» Ein anderer Polizist sagt in einem verzweifelten Tonfall: «Es kommen jeden Tag Tausende. Wir wissen nicht mehr, was wir tun sollen.»
Weil die Polizei vor Ort völlig überfordert ist, werden pensionierte Beamte in den Dienst zurückgeholt und das slowenische Militär zur Hilfe gerufen. Die Grenze zwischen Kroatien und Slowenien ist 670 Kilometer lang. Niemand macht sich hier Illusionen, dass Slowenien es aus eigener Kraft schaffen kann, sie komplett zu kontrollieren.
Der 43-jährige Bassan Tasabhji aus Damaskus darf nach vielen Stunden des Wartens das Flüchtlingslager verlassen. Die Geflüchteten müssen sich in einer Reihe aufstellen. Bevor es in die Busse Richtung österreichische Grenze geht, versorgen freiwillige Helfer die Menschen. Bassan Tasabhji erzählt: «Die Versorgung in Mazedonien und Serbien ist eine Katastrophe. Das sind schlechte Länder, deswegen wollen wir weiter. Wir haben Hunger, und die sperren uns hier ein.»
Als ein Helfer trockenes Brot verteilt, wird der Mann aus Damaskus wütend: «Ist das alles, was ihr habt? Warum behandelt ihr uns so schlecht?» Dem freiwilligen Helfer platzt der Kragen: «Weisst du, wer ich bin? Ich bin freiwillig hier, um zu helfen. Es ist mein eigenes Geld, das ich hier ausgebe.» Der Helfer heisst Adenan Hussain und ist aus London angereist. Er trägt eine Warnweste. Auf deren Rückseite steht geschrieben «We are all equal», wir sind alle gleich. Er schläft in einem nahe gelegenen Hostel für zehn Euro die Nacht.
Hussain erzählt, dass solche Szenen öfter vorkommen: «Die Menschen werden hier eingesperrt und können einfach nicht mehr unterscheiden, wer Freund und wer Feind ist.»
Slowenien ist überfordert, einige Helfer springen ein. (Bild: Krsto Lazarevic)
Seit Ungarn seine Grenze zu Kroatien am 16. Oktober geschlossen hat, liegt das kleine Slowenien mitten auf der Balkanroute. Ein Blick auf die Landkarte hätte gereicht, um zu erahnen, wo die Reise hingeht. Dennoch sind die slowenischen Behörden unvorbereitet. Die Regierung von Viktor Orbán hat ihr Ziel erreicht. Es kommen kaum noch Flüchtlinge über Kroatien und Serbien nach Ungarn.
Das Modell könnte Schule machen. Auch die kroatische Präsidentin, Kolinda Grabar Kitarović, denkt laut über einen Grenzzaun nach. Dazu müsste ihre nationalkonservative Partei HDZ freilich die Parlamentswahlen nächste Woche gewinnen. Die amtierende sozialdemokratische Regierung spricht sich klar gegen Grenzzäune aus. Auch der slowenische Premierminister Miro Cerar schliesst den Bau von Grenzzäunen nicht mehr aus, falls es nicht zu einer europäischen Lösung kommt.
In der Nacht auf Samstag kommen 1370 Geflüchtete mit dem Zug an. Im slowenischen Dobova unweit von Brežice wird eine alte Turnhalle kurzerhand zum Erstaufnahmezentrum umgebaut. Eine Mitarbeiterin des roten Kreuzes kommt sichtlich schockiert aus der Turnhalle heraus und sagt: «Wenn ihr die Hölle sehen wollt. Dort drin ist sie.» Der Boden ist an vielen Stellen nass, alles ist voller Menschen. Doch wenigstens ist es in der Hölle wärmer als draussen. Weil es keinen Platz mehr gibt, müssen viele Flüchtlinge im Freien schlafen.
«Da drin ist die Hölle»: Die Turnhalle in Dobova bietet den Geflüchteten keine menschenwürdige Unterkunft. (Bild: Krsto Lazarevic)
Als Helfer draussen beginnen, Decken zu verteilen, rennen junge Männer auf den Zaun zu, der die Menschen von der Aussenwelt trennt. Die Helfer müssen den brutalen Entscheid treffen, wer zuerst eine warme Decke bekommt. Amnesty International kritisiert den Umstand, dass die Flüchtlinge im Freien auf dem Boden übernachten müssen, wo doch etliche Unterkünfte im Landesinneren frei stehen. «Für solches Verhalten Sloweniens gibt es keine Entschuldigung», so die Menschenrechtsorganisation.
Damit nicht immer die jungen Männer den Vorzug bekommen, schmeissen die Helfer die zusammengeknoteten Decken wie einen Football auf das Feld. Die Polizei verbietet kurzfristig, die Decken weiterzuverteilen, damit es nicht zu Kämpfen kommt. Eine der Helferinnen aus Graz sagt: «Wenn die sich nicht benehmen können, dann haben sie eben Pech gehabt.» Nach etwa einer Stunde haben dann alle Menschen draussen mindestens zwei Decken. Eine, um sie über die Wiese zu legen, eine, um sich zuzudecken. Das Thermometer sinkt auf bis zu vier Grad Celsius.