Inmitten der Erschütterung

Es war das grösste Erdbeben seit 1932, das Nepal verwüstete. Die Schäden gewaltig, die Betroffenheit enorm. Wer an jenem Samstag, als der Boden schwankte, auf dem Markt in Kathmandu stand, weiss, was Glück heisst.

Überleben nach dem starken Erdbeben in Nepal. In den Lagern Wasserknappheit, die nepalesische Armee brachte Wasser in Tanklastern. (Bild: Veronika Wulf)

Es war das grösste Erdbeben seit 1932, das Nepal verwüstete. Die Schäden gewaltig, die Betroffenheit: enorm. Wer an jenem Samstag, als der Boden schwankte, auf dem Markt in Kathmandu stand, weiss, was Glück heisst.

Um sechs Uhr morgens war mein grösstes Problem noch Brechdurchfall. Es war Samstag, der 25. April, ich war mit meinem Freund in einem Hotelzimmer im Touristenviertel Thamel in Kathmandu. Wir waren mit Freunden aus Deutschland und Frankreich auf einem internationalen Markt verabredet, auf dem es Spezialitäten aus verschiedenen Ländern, Kleider und Schmuck gab.

Auch unsere nepalesische Freundin verkaufte dort jeden Samstag Taschen und Schals. Falls es mir besser ginge, würden wir nachkommen, sagten wir. Einige Stunden später – es ging mir tatsächlich besser – verliessen wir gegen 11 Uhr das Hotel und das Viertel. Das war unser Glück.

Der Markt fand auf einem offenen Gelände statt, mit einem Säulendurchgang, einem Teich und Verkaufsständen. Nur ein niedriges Gebäude war in der Nähe. Ich wollte gerade zwei Stufen hinaufsteigen, als mir die Stufen plötzlich entgegen kamen – wörtlich.

Die Katastrophe, das Entsetzen

Ein tiefes Grummeln war zu hören. Ein Schwarm Krähen flog kreischend auf. Das Gelände schwankte wie ein riesiges Schiff im Sturm. Ich kapierte recht schnell: ein Erdbeben. Das Wort schwirrte durch die Münder der Anwesenden. Und doch verstand ich gar nichts. Ich wurde hin- und hergeworfen, bis mich jemand am Arm packte und auf den Boden zog. Es krachte.

Menschen kreischten, fielen, hielten sich in den Armen, Freunde und Fremde. Ich tröstete und wurde getröstet. Als könnte man gemeinsam gegen die Naturgewalt ankommen. Manche holten ihre Handys heraus und filmten. Ein kleines Kind, in den Armen seiner Mutter, legte die Handflächen zum Gebet aneinander. Mein Freund stand einige Meter entfernt. Sein Blick kreuzte meinen, Entsetzen in den Augen. Die Erde bebte noch immer.

Nach fast einer Minute wurde es ruhiger. Ich war nicht sicher, ob die Erde noch bebte oder nur mein Körper. Viele Menschen flohen. Der Teich war übergeschwappt und hatte den Hof unter Wasser gesetzt. Scherben und Geschirr lagen herum, kaputte Gartenleuchten, der Kopf einer Buddha-Statue. Eine Säule aus Ziegelsteinen war zusammengebrochen, eine ein Meter hohe Vase war von ihrem Sockel gefallen. Doch keiner war ernsthaft verletzt.



Zerstörung überall: Ein Strassenzug in Thamel nach dem Erdbeben.

Zerstörung überall: Ein Strassenzug in Thamel nach dem Erdbeben. (Bild: Veronika Wulf)

Mehrere Stunden verharrten wir am Ort. Ein paar halbvolle Kaffeetassen und Teller mit angebissenen Crêpes standen noch auf den Tischen. Und immer wieder die Nachbeben. Ich starrte auf den Wasserspiegel des Teichs, ob er erzitterte, ich beobachtete einen Hund, ob er unruhig wurde. Eine Mauer, auf der ein Zaun mit Eisenspitzen stand, wackelte bei jedem Beben bedrohlich.

Zuflucht in den Zelten des Militärs

Jeder versuchte mit dem Handy, Familie und Freunde zu erreichen. Erfolglos, lange waren die Netze tot. Später erreichten wir unsere französischen Freunde, die nicht auf dem Markt waren. Sie waren unverletzt. Als sie nach dem Beben auf die Strassen getreten waren, kam ihnen eine Menschenmenge entgegengerannt, erzählten sie. «Tiger!», schrien die Leute. Das Beben hatte den Tigerkäfig im Zoo zerstört.

Später gingen wir auf eine grosse Wiese in der Nähe, ein ummauerter Platz vor dem Gebäude des Vize-Präsidenten. Nach und nach trafen wir unsere deutschen, französischen und nepalesischen Freunde: Erleichterung, bei jedem Einzelnen. Das Militär hatte grosse Zelte aufgebaut.



Blick über das improvisierte Camp für die vom Erdbeben betroffenen Menschen.

Blick über das improvisierte Camp für die vom Erdbeben betroffenen Menschen. (Bild: Veronika Wulf)

Wir beschlossen, die Nacht dort zu verbringen. Immer mehr Menschen kamen dazu. Es war wie ein grosses Picknick oder Musikfestival, wären da nicht die Sirenen und die Nachbeben gewesen. Langsam drangen die Informationen zu uns durch: Der Aussichtsturm war eingestürzt, ein grosses Kaufhaus zerstört, die ersten Toten wurden gemeldet. Wir grübelten: Ob die europäischen Medien wohl über das Erdbeben berichteten? Eine kleine Meldung vielleicht, dachten wir.

Die kargen Nächte im Hilfscamp

Am Nachmittag wagten wir uns zurück in das Touristenviertel Thamel. Wir sahen eingestürzte Häuser und Mauern, umgeknickte Masten und herunterhängende Stromkabel, Spalten in Strassen und Gebäuden. Unser Hotel, das «Happy Home», war abgeschlossen, davor der Boden aufgeplatzt. In der gleichen Strasse lehnte ein hohes Gebäude an dem nebenan.

Das Haus meiner nepalesischen Freunde stand noch, hatte aber Risse. Wir holten Decken, Schlafsäcke, Toast und Wasserflaschen und gingen zurück zum Zelt. Hunderte Menschen hatten sich dort versammelt. Babys und Alte, Touristen und Einheimische. Wir hörten, dass es bereits 500 Tote gab, dass die Medien weltweit Eilmeldungen veröffentlichten, dass sie Bilder von Leichen unter Trümmern zeigten. Wir versuchten, unsere Eltern zu erreichen, schickten Nachrichten.



Wasserausgabe für die Camp-Bewohner, während die sanitären Anlagen schon lange am Anschlag waren.

Wasserausgabe für die Camp-Bewohner, während die sanitären Anlagen schon lange am Anschlag waren. (Bild: Veronika Wulf)

Zum Abendessen assen wir ein paar trockene Kekse und weissen Toast. Ich ass und trank wenig, um nicht oft zur Toilette zu müssen. Viele Menschen im Camp hatten Durchfall, Toiletten gab es keine, Abfalleimer waren voll, Fäkalien und Müll sammelten sich an den Rändern der Wiese. Körper an Körper legten wir uns schlafen. Babys schrien, Taschenlampen leuchteten in schlafende Gesichter, Stimmengewirr die ganze Nacht durch. Und immer wieder vibrierte die Erde.

Und alles lag noch im einsturzgefährdeten Hotel

Am nächsten Tag scharten sich alle um die Zeitungsverkäufer: «7.9 auf der Richterskala», stand da. Das grösste Erdbeben seit 1932. 1382 Tote. Die Bilder schockierten uns. Warum waren wir zufällig am richtigen Ort? Warum haben wir überlebt? 

Unser Hotel war noch immer geschlossen, telefonisch war niemand zu erreichen. Wir wollten unsere Pässe holen, solange das Haus noch stand. Keiner wusste, was noch kommen würde. Alle hatten Angst vor dem ganz grossen Beben, das alles zerstörte. Die Gerüchte überschlugen sich. Im ersten Stock sahen wir ein offenes Fenster, zwischen den Häusern eine Leiter. Nach langen Diskussionen mit dem Nachbarn lieh er sie uns. Mein Freund kletterte durch das Fenster. Er landete im dunklen Treppenhaus. Schon seit einiger Zeit war der Strom in der Stadt abgeschaltet. Kaum eine Minute später stand mein Freund wieder mit unseren Pässen da.



Fassade weg: Die Strassenzüge waren nach dem stärksten Beben der vergangenen Jahrzehnte verwüstet.

Fassade weg: Die Strassenzüge waren nach dem stärksten Beben der vergangenen Jahrzehnte verwüstet. (Bild: Veronika Wulf)

Später im Camp erzählte uns jemand, unser Hotel sei jetzt offen. Wir gingen noch einmal zurück, doch es war zu. Nach vielen Telefonaten und zwei Stunden Warten kam jemand mit dem Schlüssel. «Macht schnell», rief er uns zu. Es hatte seit Stunden keine stärkeren Beben mehr gegeben. Wir dachten, es sei vorbei. Trotzdem rannten wir die Treppe hoch.

Im ersten Stock zog sich ein langer Riss über die Wand. Die Zimmertür ging nur schwer auf. Überall lag der Putz verstreut. Wir grabschten blind nach unseren Sachen. Plötzlich grummelte es. Ich hörte ein lautes «Krrrk», das ganze Haus wankte, sieben Stockwerke über uns. Ich rannte, die Hände über dem Kopf, raus aus dem Zimmer, raus aus dem Haus, auf die Strasse, Richtung Kreuzung. Menschen hasteten aus ihren Häusern, ein aufgeschreckter Schäferhund fiel meinen Freund an. Pässe, Handys, Geld – wir hatten alles im Hotel gelassen.

Die Situation überforderte auch die Botschaft

Zurück im Camp wusste keiner etwas mit sich anzufangen. Man sass herum, lief herum und starrte ins Leere. Keiner weinte, keiner stritt, keiner schrie. Manche spielten Karten. Die Kinder tanzten zusammen. Ich beneidete sie um ihre Unbeschwertheit. In den wenigen offenen Läden in der Stadt wurde das Wasser knapp. Das Militär kam mit einem Tanklaster, Menschen standen mit Flaschen und Schüsseln an. Zwei meiner Freunde gingen abends los, um nach Essen zu suchen. Nach zwei Stunden kamen sie zurück. Mit einer Wassermelone.



Die Armee stellte Zelte für die Menschen auf, die nach dem Erdbeben nicht in ihre Häuser zurück konnten.

Die Armee stellte Zelte für die Menschen auf, die nach dem Erdbeben nicht in ihre Häuser zurück konnten. (Bild: Veronika Wulf)

Der nächste Tag lief ähnlich ab. Die Zahl der Toten stieg weiter, die Hygiene im Camp sank. Da das Hotel noch stand, gingen wir ein letztes Mal rein, warfen alles in die Rucksäcke und rannten wieder raus. Diesmal ohne starkes Beben.

Wir gingen zur deutschen Botschaft. Die Leute dort konnten nicht viel tun. Sie hatten weder eine Vermissten-Liste, noch Internet, Essen oder Trinken, noch die Möglichkeit, einen Flug umzubuchen. Einen Platz auf ihrer kleinen Wiese im Innenhof boten sie uns an. Doch die sei auch schon voll. Einen Ratschlag hatten sie noch: Verlasst so schnell wie möglich das Land.

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Drei Tage nach dem ersten Erdbeben ging mein Flug zurück nach Deutschland, der meines Freundes fünf Tage später. Wir wussten nie, ob Taxis oder Busse fahren, deshalb ging ich schon am Abend vorher zum Flughafen. Dort gab es seit Tagen lange Schlangen. Alle wollten schnell das Land verlassen. Ich schlief auf dem Fussboden, wie viele andere. Bei jeder Bodenbewegung schreckte ich hoch. War sie gering, war es ein Flugzeug, war sie stärker, ein weiteres Nachbeben.

Dann, endlich, hob das Flugzeug ab: Es tat gut, dem wackelnden Boden zu entfliehen. Kein Wasser und kein Essen mehr zu sich zu nehmen, das andere dringender benötigten. Doch es tat weh, Freunde und eine zerstörte Stadt zu hinterlassen. Und Tausende Obdachlose. In der Luft begann ich langsam zu realisieren, was in den letzten Tagen passiert war. Wie viel Glück wir hatten. Mir flossen die Tränen übers Gesicht.

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