Integriert ist, wer keinen Ärger macht

Ist Neukölln wirklich überall? Die Suche nach einer Antwort an Basels «Hotspots» der Integration.

Müsste man das Thema Integration in Basel geografisch verorten, das Kleinbasel wäre ein geeigneter Ort. (Bild: Michael Würtenberg)

Ist Neukölln wirklich überall? Die Suche nach einer Antwort an Basels «Hotspots» der Integration.

Die Integration ist auch so ein Thema, bei dem es mehr Meinungen als Personen gibt. Das Spektrum reicht von an Selbstaufgabe grenzender Toleranz bis zur «Das Boot ist voll»-Mentalität. Das mag daran liegen, dass Begriffe an Inhalt verlieren, je häufiger sie gebraucht und je unterschiedlicher sie ausgelegt werden. Ergründen lässt sich die Bedeutung zumindest teilweise im Gespräch mit Leuten, deren Aufgabe sie ist, diese Integration.

Die Klinke an der gläsernen Tür beim Stadtteilsekretariat Kleinbasel kommt selten zur Ruhe. Ständig steckt jemand seinen Kopf durch den Türrahmen und fragt nach den Öffnungszeiten eines naheliegenden Schwimmbades. Oder eine ältere Dame will sich über einen falsch deponierten Abfallsack beschweren. «Manchmal komme ich mir hier vor wie an einem Kiosk», sagt die Leiterin der Anlaufsstelle, Theres Wernli. Mitten im Geschehen, durch die grossen Schaufenster die Klybeckstrasse stets im Blick, weiss Wernli, wie das Quartier tickt. In unmittelbarer Nachbarschaft liegt die «Lady Bar» als Manifestation des modernen Kleinbasler Lebensgefühls, Asylunterkunft und Hipsterhochburg zugleich.

Wernli beantwortet die Frage, ob hier im Quartier die Integration funktioniere mit einer Gegenfrage: «Was ist überhaupt Integration?» Wer wohl besser integriert sei? Die siebzigjährige Nonna, die kaum Deutsch spreche, aber ihr Leben lang hart gearbeitet habe? Der junge Albaner, der sich unermüdlich von Vorstellungsgespräch zu Schnupperlehre zu Praktikumsbesuch durchschlage? Schnell wird klar: In der Gesellschaft gilt wohl als erfolgreich integriert, wer arbeitet. Denn wer Geld verdient, steht auf eigenen Beinen, macht keinen Ärger.

Theres Wernli kennt aber noch einen weiteren Indikator für eine geglückte Integration. «Wenn jemand weiss, wann er den Abfallsack auf die Strasse stellen darf.» Klagen von den Quartierbewohnern hört sie nämlich vor allem dann, wenn wieder irgendwo Abfallsäcke nicht getreu dem im offiziellen Basler Abfallkalender festgehaltenen und für alle verbindlichen Entsorgungsdatum deponiert wurden. Wernli spricht von «Regeln des Zusammenlebens», von «gegenseitiger Reibung», die für Wärme aber auch für hitzige Auseinandersetzungen sorgen könne. Schnitt.

Gas geben und gewinnen

Kletterer nennen den anspruchsvollsten Abschnitt einer Route «Schlüsselstelle». Der Einstieg in die Arbeitswelt kann also als Schlüsselstelle auf dem Weg eines jungen Migranten bezeichnet werden. Sie zu bezwingen bedingt hartes Training, gute Nerven, unerschütterliches Selbstvertrauen. Die Vorbereitung dafür geschieht, in vielen Fällen, in der Schule für Brückenangebote (SBA). Beispielsweise im Schulhaus Letzi in der St.-Alban-Vorstadt.

Bernhard Schuler, Klassenlehrer an der SBA, steht vor seinen knapp 20 Schülern. Er hat eine Vorliebe für Sportmetaphern, will damit wohl die Motivation seiner Jugendlichen befeuern. Gerne ballt er – bewusst oder unbewusst – die Faust und macht damit bei angewinkeltem Arm diese ruckartige Bewegung, dieses Zeichen für «Gas geben».

Auf der Tafel stehen Begriffe wie «Reallohnerhöhung» oder «Teuerungszinsrate», Schulers Klasse gehört zur KVS (Kaufmännische Vorbereitungsschule), die Schüler wollen eine KV-Lehre machen oder eine im Detailhandel. Gerade ist Selbststu­dium angesagt. Eine Pakistanerin erklärt ihrer türkischen Mitschülerin, was eine Bilanz ist. Zwei Jungs, einer aus Sri Lanka, der andere ein Albaner, rätseln über Buchungssätze. Sie alle haben schon Dutzende Bewerbungen verschickt, sind sich Absagen gewöhnt.

«Ein wenig Wettbewerb unter den Schülern schadet nicht»

Vorne, gleich neben der Wandtafel, steht ein Flipchart, darauf die Namen aller Klassenmitglieder. Hinter einzelnen Namen steht, wo diese Schüler eine Lehrstelle oder eine andere Anschlusslösung gefunden haben. Wer auf dieser Tafel steht, hats geschafft.
Schuler ist sich bewusst, dass mit dieser Tafel ein gewisser Wettbewerb entsteht. Es ist in seinem Sinne, wenn sich die Jugendlichen untereinander anspornen.

Er sieht seine Aufgabe nicht alleine im Unterrichten, er will seine Schüler auch erziehen. «Gewisse Dinge muss man manchen gleich zu Beginn klar sagen.» Mit der Kappe auf dem Kopf sitze ihm keiner lange im Klassenzimmer. Oder das duzende «Gäll?» anstelle des höflichen «Gälled Sie?» kostet einen Schüler auch schon mal 50 Rappen pro Verstoss. Schuler will nicht, dass seine Jugendlichen am Vorstellungsgespräch den Eindruck erwecken, sie seien unverschämt. Er will jede und jeden Einzelnen von ihnen nach einem Jahr guten Gewissens in die echte Arbeitswelt entlassen können. Obwohl die SBA keine Migrantenschule sei, sagt Schuler, setze man sich natürlich mit dem Thema Integration auseinander. «Damit Integration erfolgreich sein kann, muss eine Perspektive da sein», ist der Lehrer überzeugt. «Die verschiedenen Nationalitäten sind in unserer Klasse eigentlich nie ein Thema», sagt eine junge türkische Frau. Wenn schon, dann zähle das Wohnquartier.

Die Postleitzahl zählt mehr

Gundeli vs. St. Johann statt Kurden vs. Türken? Auch die Rektorin der SBA, Dagmar Voith, hat den Eindruck, dass dem Wohnort unter den Jugendlichen eine viel grössere Bedeutung zugeschrieben wird als der Herkunft. Sowieso sei eine missglückte Integration in den Arbeitsmarkt weniger von der Nationalität abhängig als von der sozialen Schicht. So sei es beispielsweise entscheidend, dass die Eltern eines jungen Migranten das Schweizer Bildungssystem kennen würden. «In vielen Ländern gibt es nur den Weg über eine Schule», oft sei aber eine Lehre der vielversprechendere Weg. «Wenn Eltern dies einsehen, dann haben die Jugendlichen auch deren Unterstützung», sagt Voith. In dieser Unterstützung durch eine Bezugsperson sieht Voith einen wichtigen Faktor für das Gelingen der Integration in das Berufsleben. Natürlich gehörten dazu auch ein entsprechender schulischer Rucksack und soziale Kompetenzen, ergänzt die Rektorin. Um überdies die kulturelle und soziale Integration der vielen verschiedenen Nationalitäten an ihrer Schule zu fördern, setze man auf eine gute Durchmischung (der Herkunft, aber auch des Wohnquartiers).

Ist die Basler Integrationspolitik also eine reine Erfolgsgeschichte, die brillante Antithese zu Neukölln? Oder gibt es sie auch hier, die Beispiele gescheiterter Migrantenschicksale oder Integrationsverweigerer? Wem der weiter oben als erfolgsentscheidend bezeichnete Berufseinstieg nicht gelingt, landet früher oder später bei der Sozialhilfe. Die TagesWoche hat mit einer Sozialarbeiterin aus dem Umfeld der Basler Sozialhilfe gesprochen, sie will anonym bleiben, denn obwohl sie sich selbst als «Linke und Nette» bezeichnet, übt sie scharfe Kritik an der Basler Sozialhilfe.

Das System gebe den Migranten einen zu grossen Spielraum, man sei viel zu tolerant und lasse sich auf der Nase herumtanzen. Sie berichtet von einem Muslim, einem vierfachen Familienvater, der sich aus religiösen Gründen weigerte, die Strassen zu putzen. Beim Rechtsdienst der Sozialhilfe sei man zum Schluss gekommen, dass man dagegen keine Handhabe habe und resignierte. Der Mann beziehe heute noch über 6000 Franken monatlich Sozialhilfe, weiss die Insiderin.

Nicht-integrierbare Einwanderer

Es gebe auch ganze Einwanderungsgruppen, die schlicht nicht «integrierbar» seien. Bei jungen Eritreern spüre sie beispielsweise keinerlei Motivation zur Mitwirkung. Das Einzige, was man dort zu hören bekomme sei, «ich will dies, ich will das». Mit dieser Einschätzung steht sie nicht alleine da. Der Leiter des Baselbieter Migrationsamtes sprach diesbezüglich im «Beobachter» im letzten Frühling gar von einer «sozialen Zeitbombe» (Artikel online nicht verfügbar).

Gemäss der Insiderin erlaube die Fallbelastung bei den Angestellten der Basler Sozialhilfe keine gründliche Kontrolle der Zahlfälle, «wer will, kann sich da problemlos durchmogeln». Die Amtsleiterin der Sozialhilfe, Nicole Wagner, will diese Kritik nicht auf sich sitzen lassen. Man sei weder personell unterdotiert, noch lasse man sich auf der Nase herumtanzen – den beschriebenen Fall kommentiert Wagner nicht –, sondern man behandle alle Klienten gleich. Wer seine Mitwirkungspflichten verletze, habe Sanktionen zu befürchten. Überdies fördere man die Integration von Migranten, indem man beispielsweise Sprachkurse und Tagesbetreuung für die Kinder von Migranten finanziere.

Die Insiderin kennt aber auch Erfolgsbeispiele aus der Sozialhilfe. Es gebe immer wieder Leute, die auch nach langer Arbeitslosigkeit den Einstieg in den sogenannten ersten Arbeitsmarkt schaffen. Wer Sozialhilfe empfängt, kann an Programmen zur «beruflichen Integration» teilnehmen. Dort können sich die Sozialhilfeempfänger wieder an einen Arbeitsrhythmus gewöhnen, Verantwortung tragen. Erfolgreich seien aber nur diese Personen, die wirklich wollen, weiss die Sozialarbeiterin aus Erfahrung. Diejenigen, die «Gas geben». Da ist sie wieder, diese Handbewegung.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 01.02.13

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