Mit Kirkuk ist den Kurden ihr historisches Zentrum in die Hände gefallen. Zurückziehen werden sie sich nicht mehr. Ihre Eigenständigkeit ist auch mit eigenen Ölexporten gewachsen. Die Bildung eines kurdischen Staates werden die Nachbarn aber vorerst nicht zulassen.
Der Vormarsch der Jihadisten im Irak hat in der multiethnischen Ölstadt Kirkuk, wo Kurden, Araber, Turkmenen, Chaldäer und Assyrer leben, neue Fakten geschaffen. Die kurdischen Peshmerga-Verbände haben die Kontrolle über die Millionenstadt übernommen, die sie als ihr historisches Zentrum betrachten. Sie haben auch verlassene Stellungen der irakischen Armee in den angrenzenden Provinzen Niniveh und Diyala besetzt.
Diese umstrittenen Gebiete werden von den Kurden als Bestandteil ihrer autonomen Region beansprucht. Sie waren von ex-Diktator Saddam Hussein in den Jahren 1968 bis 2003 arabisiert worden. Eine demokratische Lösung mit Volksabstimmungen hätte eigentlich über den Paragraphen 140 in der neuen irakischen Verfassung gefunden werden sollen. Das ist aber nie geglückt; alle Fristen verstrichen ungenützt. Die Kurden wurden immer ungeduldiger.
Unterstützung gegen ISIL erwartet
Jetzt ist ihnen Kirkuk praktisch zugefallen. In den betroffenen Gebieten hätte nach dem Rückzug der irakischen Truppen ein Sicherheitsvakuum geherrscht. Die Peshmergas seien in Stellung gebracht worden, um Sicherheit und Stabilität wieder herzustellen, erklärte der Premier der kurdischen Regionalregierung Nechirvan Barzani. Andere Regierungsmitglieder wurden noch deutlicher und gaben klar zu verstehen, dass sich die Peshmergas nicht mehr aus diesen «eroberten» Gebieten zurückziehen werden.
Mit der Besetzung soll zudem möglichst verhindert werden, dass sich weitere Flüchtlingsströme Richtung Irakisch-Kurdistan bilden. Die rund 200’000 Mann starken Peshmergas sind im Gegensatz zu den irakischen Truppen gut motiviert, bestens geführt und werden von einem effizienten Geheimdienst, dem Asayish, unterstützt. Die Kurden hatten sich stets geweigert, ihre Peshmergas in die nationale, irakische Armee einzugliedern.
Jetzt wird von ihnen erwartet, dass sie sich auch im Kampf gegen die Gotteskrieger der ISIL (Islamischer Staat im Irak und der Levante) engagieren. Bei seinem überraschenden Besuch in Teheran am Montag bekam Barzani die Aufforderung zu hören, die Peshmergas sollten die irakische Regierung gegen die sunnitischen Extremisten unterstützen. Ein Anliegen, das ohne Zweifel für einmal auch die USA mit Teheran teilen.
Sympathien für Rebellion
Die kurdische Regierung betonte, es gebe Koordination mit der irakischen Armee. Tatsächlich ist das Misstrauen zwischen Erbil und der Regierung von Premier Nouri al-Maliki abgrundtief. Und die Kurden hegen durchaus Sympathien für den moderateren Teil der Rebellen, die sich jetzt gegen Maliki und seine Politik der Vernachlässigung und sein Ausgrenzen der Sunniten erhoben haben. Der ins türkische Exil geflohene ehemalige sunnitische Vizepräsident Tarek al-Hashimi sagt, sie bestünden aus 11 oder 12 Gruppen, darunter viele Stammeskämpfer, und ISIL sei nur ein geringer Teil.
Ein zentraler Streitpunkt zwischen Erbil und Bagdad war stets die Verteilung der Erdöleinnahmen. Der irakische Staat lebt zu 95 Prozent aus dem Verkauf von Erdöl. Die Wirtschaft in den drei autonomen kurdischen Provinzen hatte sich dank Stabilität und Sicherheit in den letzten Jahren gut entwickelt. Viele internationale Firmen liessen sich hier nieder, um im ganzen Irak Geschäfte zu tätigen. Die Kurden hatten sich einen Anteil von 17 Prozent am Staatsbudget erstritten, beklagten sich aber immer wieder, Bagdad würde zu wenig Geld überweisen. Die kurdische Region hat deshalb die eigene Ölförderung forciert und Transportwege ausgebaut und Ende Mai zum ersten Mal direkt über die Türkei Öl exportiert. Bagdad hat gegen Ankara bei einem internationalen Schiedsgericht geklagt.
Neue Fakten geschaffen
Mit dem eigenen Ölexport wurden ebenso neue Fakten geschaffen wie mit der militärischen Kontrolle von Kirkuk und den umstrittenen Gebieten. Die kurdische Bevölkerung ist in ihrer grossen Mehrheit für die Eigenstaatlichkeit. Die Regierung hat in ihren offiziellen Stellungnahmen immer eher gebremst und etwa argumentiert, wenn eine demokratische Lösung der Kirkuk-Frage gelinge, würde das die Kurden bestärken, im Irak zu bleiben. Solange es möglich ist, die Eigenständigkeit Schritt für Schritt auszubauen, ist es auch nicht so entscheidend, ob die Kurdengebiete auch juristisch völlig unabhängig sind, was derzeit weder die Türkei, noch die USA, noch der Iran tolerieren würden.
Barzani hat zu einer politischen Lösung der akuten Krisen aufgerufen, etwa mit der Bildung einer Regierung der nationalen Einheit in Bagdad. Auch die Kurden gehören zu den entschiedenen Gegnern einer dritten Amtszeit für Maliki, der die Parlamentswahlen Anfang Juni zwar gewonnen, aber nicht genügend Stimmen hat, um alleine eine Regierung zu bilden.
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Wer bekriegt wen im Irak und warum? Und welche einstigen Gegner paktieren nun miteinander? Die «New York Times» bringt Klarheit in die verworrenen Verhältnisse im Mittleren Osten.