Samir hat mit «Iraqi Odyssey» einen überwältigenden Film über den Irak gedreht, in dem seine weitverzweigte Familie die Hauptrolle spielt. Ein Jahrhundert voller Krieg, Chaos, Exil – und etwas Hoffnung. Am 27. August hat das Bundesamt für Kultur entschieden, den Film ins Rennen um den Oscar zu schicken. Aus diesem Anlass nochmals das Gespräch mit dem in Bagdad geborenen Schweizer Regisseur vom März 2015.
Archivaufnahmen vermischen sich in Samirs Film mit aktuellem. (Bild: ©DschointVenture)
Was für ein Epos, was für eine Familiengeschichte. Samir geht in seinem neuen Film «Iraqi Odyssey» seiner verzweigten Familiengeschichte auf den Grund – und durchschreitet damit gleichzeitig den Nahen Osten des 20. Jahrhunderts. Ausgehend von Bagdad, wo sein Grossvater die Familie begründete, folgt Samir alten Super-8-Aufnahmen und Familienfotos, die von einem Land erzählen, das in seiner jüngeren Geschichte kaum eine ruhige Stunde erlebt hat. Die frühsten Erzählungen und Aufnahmen datieren noch aus den letzten Jahren des dahingehenden Osmanischen Reiches, die Gegenwart endet schliesslich mit den gewalttätigen interkonfessionellen Wirren nach dem Sturz Saddams und der amerikanischen Besatzung 2003.
Knapp 100 Jahre Weltgeschichte – und mittendrin die Familie Jamal Al-Din. Samirs Grossvater hat im schiitischen Süden, in Najaf, islamisches Recht studiert und dort die freiheitlichen Grundsätze seines Denkens entwickelt, das sich in der Erziehung seiner sieben Kinder niederschlug. Aus den Interviews mit seinen Onkeln, Tanten, Cousinen und seiner spät hinzugeborenen Halbschwester erzählt Samir nicht nur seine eigene Herkunftschronik, sondern arbeitet die zunehmende Entfremdung von der Heimat hervor, die diese mittlerweile über den Globus verteilte Familie erfahren hat.
Wie es soweit kommen konnte, wie ein Land mit derart guten Voraussetzungen – hoher Bildungsstand, natürliche Ressourcen – in Jahrzehnte der Repression und des Chaos abgleiten konnte, dazu hat der Film eine deutliche Antwort: westliche Interventionen. Angefangen von den Briten, die dem Land eine Kolonialherrschaft und schliesslich eine Marionettenmonarchie aufbürdeten, über den Einfluss der nahen Sowjetunion bis zu den USA, die Saddam Hussein zuerst als Gegner der Kommunisten und schliesslich des iranischen Ajatollah-Regimes aufrüsteten, um ihn später mit zwei Kriegen und einem jahrelangen Embargo selbst in die Knie zu zwingen. Die letzte Heimsuchung, die der Irak erleidet, ist noch zu aktuell, um Eingang in den Film gefunden zu haben: die mörderische Herrschaft des «Islamischen Staates» im Westen des Irak.
Kaum Erklärungen sucht der Film indes für die innere Gewalttätigkeit, die mit der Revolution gegen König Faisal II. 1958 einen ersten brutalen Höhepunkt fand, als sein nackter Leichnam vom Volk durch die Strassen Bagdads gezogen wurde, und die während der Baath-Diktatur und bis in die jüngste Vergangenheit nach der US-Invasion fortdauerte. Ihre Entsprechung findet sich allerdings in den Gesichtern, Blicken und Worten von Samirs Verwandten. «Wir wussten, etwas war verloren gegangen und würde nie wiederkehren», sagt ihm eine Halbschwester. Und ein Onkel, der nach Stationen quer durch den Nahen Osten und Europa schliesslich in London gelandet ist, bekennt: von dieser Odyssee gibt es keine Wiederkehr.
Samir, wessen Odyssee meinen Sie mit dem Filmtitel – die rund vier Millionen Exil-Iraker, die wie ihre Familie über den Globus verstreut leben, oder das Land selbst, das von einem Unglück ins nächste zu taumeln scheint?
Samir: Beides. In erster Linie natürlich den Irak, aber ebenso die Diaspora, die sich ja nur über ihre Herkunft erklären lässt und ohne die Geschichte des Irak nicht denkbar ist. Witzigerweise hat mein Onkel, ohne dass ich davon wusste, an einem Buch über den Einfluss der griechischen Mythen in der arabischen Kultur gearbeitet. Sehr lustig ist seine Analogie, dass der Irak Penelope sei (die in der Odyssee nach Homer jahrelang auf ihren Gatten Odysseus wartet und sich weigert, den um sie buhlenden Freiern nachzugeben, Anm. d. Red.), die in diesem Fall jedoch von einem ihrer Freier geschnappt wurde – den USA.
Schaut man sich ihren Film an, in der die Geschichte des Irak auf knapp drei Stunden zusammengefasst wird, ist das Fazit bedrückend. Wird sich das Land je erholen?
Ich bin nicht so pessimistisch. Wenn man die alten, historischen Filmaufnahmen anschaut – da ist man verblüfft von der extremen Kultivierung des Landes. Der Irak, Mesopotamien, hat die ersten Kulturen hervorgebracht, und die Raffinesse der Landschaft hat die Menschen geprägt. Die Konstitution über die zwei Flüsse, die gemeinsame, vielfältige Geschichte – wenn man so will, hätte der Irak, wie auch der Libanon, ein Vielvölkerstaat wie die Schweiz werden können.
Stattdessen scheint der Staat auseinanderzufallen.
Das meinte man. Die letzten eineinhalb Jahre haben mich jedoch verblüfft. Seit letztem Sommer, seit der Abwahl des früheren Ministerpräsidenten al-Maliki, ist in Bagdad eine Koalitionsregierung an der Macht, die nun recht und schlecht sich bemüht, den Staat wieder aufzubauen. Da haben alle gemerkt: Entweder raufen wir uns irgendwie zusammen, oder es wird gar nichts mehr geben. Insofern war der Fall von Mossul an den IS im Juni letzten Jahres das Fanal – alle haben ja Syrien vor Augen und gesehen, was es bedeutet, wenn ein Land wirklich in den Untergang geht. Ich bin sicher, Mossul wird in einem Jahr befreit sein. Und die Kurden sitzen zur Hälfte in Bagdad. Sie profitieren vom Staat und hatten noch nie eine so gute Position in der Geschichte des Irak wie heute.
Der Irak ist ein von Kolonialmächten geschaffener Staat, dessen Grenzen teilweise am Reissbrett gezogen wurden. Auch andere Staaten im Nahen Osten, die koloniale Ursprünge haben, sind daran zerfallen.
Ich bin nicht damit einverstanden, den Irak als künstlichen Staat hinzustellen. Abgesehen von der Westgrenze laufen die Linien entlang natürlich gewachsener, jahrhundertelanger Grenzen – die Berge im Norden, der Schatt-el-Arab im Osten. Der Irak ist keineswegs wie etwa Jordanien quasi in den Sand gezeichnet worden, seine Verwaltungseinheiten existierten schon in der osmanischen Zeit. Seine Geschichte hätte anders verlaufen können, aber das verdammte Öl hat alles konstituiert. Die Engländer haben 1914 Basra in einer Blitzaktion erobert, als die britische Kriegsflotte von Kohle auf Öl umgestellt wurde. Aber wenn man schaut, wie der Irak noch in den 1920er-Jahren ausschaute, als er einer der grössten Reisproduzenten Asiens war, oder als noch zwei Drittel aller Dattelpalmen der Welt im Irak standen, da waren ganz andere Ressourcen vorhanden. All das wurde aufgegeben und ruiniert, zuerst unter den Engländern, dann unter Saddam Hussein.
Beeindruckend sind die alten Filmaufnahmen aus Bagdad. Woher stammen die? Aus dem Familienarchiv?
Grösstenteils nein. Auch im Irak selbst fand sich nichts davon, das ist ja Teil des Elends: das Nationalarchiv ist quasi weg und zerstört, durch Kriege und Plünderungen. Da gibt es kaum mehr was. Zu meinem Leidwesen musste ich mich in den Archiven in Washington, London, Paris, Moskau mit den besten Schätzen eindecken. Alles, was von den 20er- bis zu den 50er-Jahren im Film zu sehen ist, kommt von dort.
«Ich wurde zum stillen Archivar der Familie, es war wie ein stillschweigendes Abkommen.»
Diese Aufnahmen vermitteln ein Bagdad, das sich betreffend des Habitus seiner Bewohner kaum von einer europäischen Stadt unterscheidet. Wie repräsentativ ist dieser Eindruck für den gesamten Irak dieser Zeit?
Das betrifft natürlich nur die Mittelschicht. Aber dass man damals als Frau im tiefen Süden eine Arztpraxis führen konnte, während der Mann noch in Bagdad arbeitet, wie es in unserer Familie der Fall war, war damals völlig gang und gäbe und wurde nicht hinterfragt. Flächendeckend haben Lehrerinnen in gemischten Schulen unterrichtet. Viele Frauen wählten dann auch technische Studien für ihre Ausbildung und wurden beispielsweise Ingenieurinnen. Der Irak hat eine weitaus höhere Durchmischung und Verstädterung als etwa der Iran, weil sich alles entlang den beiden Flüssen abspielte – Eisenbahn, Strassen, Städte. Auf den alten Fotos vom Flussufer sah man überall Dampfer und darauf Menschen, die elegant angezogen waren. Heute ist das religiöse Diktat so vorherrschend, dass sogar im ehemals kommunistischen Zentrum, Najaf, die Frauen verschleiert sind, habe ich auf meiner letzten Reise dorthin festgestellt. Aber auch in Bagdad gibt es viel, viel mehr Frauen mit Kopftuch.
«Iraqi Odyssey» ist nicht ihr erster Dokumentarfilm über das Land ihres Vaters. In «Forget Baghdad» haben Sie 2002 die Geschichte der irakischen Juden, die nach Israel fliehen mussten, erzählt. Trugen Sie da schon die Idee einer Familiendokumentation in sich?
Spasseshalber sage ich immer: «Iraqi Odyssey» trage ich schon mein ganzes Leben mit mir. Aber konkret entstand der Film aus «Forget Baghdad». Als ich mit irakischen Juden im Alter meines Vaters arbeitete, lag es auf der Hand, auch einen Film über Schiiten und Sunniten zu machen. Dieser Film hat sich abgezeichnet. Meine Onkel und Tanten begannen nach «Forget Baghdad», mir ungefragt ihre Briefarchive zu schicken. Ich wurde so zum stillen Archivar der Familie, es war wie ein stillschweigendes Abkommen. Mit «Forget Baghdad» haben sie mich erstmals als seriösen Filmemacher wahrgenommen. In der arabischen Kultur der damaligen Zeit war ja alles, was mit Film und Musik zu tun hat, heikel. «Forget Baghdad» zeigte aber, dass ich es offenbar seriös meine, wirklich etwas kann und auch Anerkennung kriege. Der Film hat mir Türen aufgemacht, bis in die Familie hinein.
«Es gab einen regelrechten Kulturstreit in der Familie, aber den Film am Schluss haben dann alle akzeptiert.»
Ihre Familie stellt die Hauptdarsteller von «Iraqi Odyssey», und in einer Szene laden Sie alle Mitglieder zu einer Vorführung ein, wonach alle klatschen. Wie war die Zusammenarbeit mit ihren Onkeln, Tanten, Cousinen?
Das hat natürlich für heftige Diskussionen gesorgt. Jeder hatte seine eigene Vorstellung. Jedes Detail wurde kommentiert, das Poster kreierte einen Shitstorm, weil ich den Grossvater in seinem Turban zeigte, den er trug, als er noch ein Geistlicher war. Die eine Seite warf mir vor, ihn zu reduzieren, die andere, die noch im Irak wohnt, warf Verwestlichung vor, schliesslich sei dies ja eine traditionelle arabische Kleidung.
Das heisst, ihre Familie hat aktiv mitgeredet?
Natürlich, das ist ja das Schlimme an einer Familie (lacht). Es gab einen regelrechten Kulturstreit in der Familie, aber den Film am Schluss haben dann alle akzeptiert. Mit Schauspielern zu arbeiten, ist wunderbar, da kommt man ans Set und sagt, was läuft und alle folgen, fertig. Bei der Familie beginnt es schon beim Frühstück – Einwände, Klagen, Drohungen. Aber am Ende waren sie doch stolz, auch wenn der Film nicht durchgehend ihre Meinungen deckt.
Hat der Film auch ihre Familie, die von Neuseeland bis Bagdad, von Moskau über Europa bis in die USA quer über den Globus lebt, neu zusammengeführt?
Das war gar nicht nötig. Parallel zur jahrelangen Arbeit am Film kam Social Media auf, und die sind alle auf Facebook dabei, mailen sich Neuigkeiten und Fotos hin und her. Das Verrückte ist, dass sie mehr voneinander wissen als damals, als sie noch in Bagdad wohnten. Man teilt alles, und teilt alles mit, wie jede andere Familie auch.
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«Iraqi Odyssey» von Samir läuft ab 5. März im Kino.