«Unser Gesundheitswesen ist pervers», sagte Mathias Binswanger im TagesWoche-Interview. Der Ökonomieprofessor belege seine «flotten Sprüche und Anekdoten» nicht mit Fakten, kritisiert jetzt Felix Schneuwly, Gesundheitsexperte von Comparis.
«Unser Gesundheitswesen ist pervers», meinte Mathias Binswanger am 5. März im TagesWoche-Interview. Der Ökonomieprofessor belegt seine flotten Sprüche und Anekdoten nicht mit empirischen Fakten. Grund genug also, die Binswanger’schen Thesen zu hinterfragen.
Mythos künstlicher Wettbewerb: Wettbewerb ist der Motor der Evolution. Es gibt keinen «künstlichen Wettbewerb». In Kuba, wo Mathias Binswanger froh war, möglichst rasch der prekären Hygiene eines Spitals zu entkommen, gibt es Staatsmonople. Dort besteht der Wettbewerb darin, sich mit Parteitreue und/oder Korruption Zugang zu den rationierten Gütern und Dienstleistungen zu beschaffen. Wäre der Wettbewerb um Effizienz und Qualität, also um das beste Preis-Leistungs-Verhältnis, den Staatsmonopolen nicht überlegen, hätten wir heute überall Sozialismus.
Fehldiagnose Fallpauschalen: Hätte Binswanger Statistiken analysiert, wüsste er, dass unsere Spitäler schon vor der Einführung der Fallpauschalen bestrebt waren, die Effizienz zu steigern. Denn der haushälterische Umgang mit Personal und Geld ist in jedem System mit beschränkten Ressourcen eine moralische Pflicht. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer ist schon vor der Einführung der Fallpauschalen stetig gesunken. Und sie sinkt jetzt weiter, weil die Medizin Fortschritte macht. Das Problem sind die nachgelagerten Behandlungen (Reha, Spitex), die nicht mit den kürzeren Spitalaufenthalten abgestimmt werden.
Fehlanreize: In jedem System richten sich die Menschen nach den Anreizen. Wenn die verursachten Kosten gedeckt werden und nicht die Wirkung bzw. die Qualität der erbrachten Leistungen bezahlt werden, muss sich auch Mathias Binswanger nicht wundern, dass die mit dem Patienten verbrachte Zeit ein reiner Kostenfaktor ist. Das gilt ganz speziell auch für die im Interview angesprochene Psychiatrie. Ginge es Binswanger um das Wohl der Patienten, wie er im Interview behauptet, und um die Solidarität der Versicherten, müsste er verlangen, dass die Kassen für das Erreichen vereinbarter Therapieziele bezahlen? Er müsste angesichts fehlender Qualitätstransparenz auch die freie Arzt- und Spitalwahl als reine Farce kritisieren.
Statt wissenschaftliche Fakten zu präsentieren, bleibt der Zyniker Binswanger bei seinen persönlichen Erfahrungen
Keine Vorbilder, bloss schlechte Erfahrungen: Die einfache Frage, «Gibt es denn Länder, die wir uns als Vorbild nehmen sollten?» beantwortet Mathias Binswanger mit dem Negativbeispiel USA. Dies, obwohl auch dort nicht alles schlecht ist. Er weiss doch sicher, dass die staatlichen Gesundheitssysteme Skandinaviens gut funktionieren. Der regulierte Wettbewerb in Holland, Deutschland und der Schweiz aber auch. Die staatlichen Systeme sind günstiger, weil die Kapazitäten besser ausgelastet und die Wartezeiten deshalb etwas länger sind. Der Wettbewerb ist etwas teurer, weil er nur mit Überkapazität funktioniert und individuelle Präferenzen besser berücksichtigt. Statt wissenschaftliche Fakten zu präsentieren, bleibt der Zyniker Binswanger bei seinen persönlichen Erfahrungen: «Die hygienischen Bedingungen im Spital in Kuba waren ein heilsamer Schock, weil ich unter allen Umständen sofort wieder raus wollte.»
Der skeptische Wissenschaftler: Binswangers Skepsis ist grundsätzlich wichtig und richtig. Ein Wissenschaftler muss Hypothesen stets kritisch überprüfen. Sein Beispiel der britischen Kolonialmacht, die in Vietnam für jede tote Ratte eine Prämie bezahlte und so einen Anreiz schaffte, Ratten zu züchten, ist ein Beispiel für Fehlanreize. Hätten die Briten die Prämien für tote Ratten mit der gemessenen Reduktion der Rattenschäden kombiniert, hätte sich für die Vietnamesen die Rattenzucht nicht gelohnt. Würde im Gesundheitswesen für das Erreichen von Therapiezielen bezahlt, kämen unnötige Untersuchungen und überflüssige Behandlungen viel weniger häufig vor.