Italien bebt – und bewegt sich doch nicht

2009 in L’Aquila, 2012 in Modena: Erneut wird Mittelitalien von einem schweren Erdbeben erschüttert. Dutzende Menschen sterben, auch weil das Land aus seinen Naturkatastrophen nicht lernt.

epa05508415 An injured man is rescued from the rubble by emergency teams in Amatrice, central Italy, following a 6.2 magnitude earthquake, according to the United States Geological Survey (USGS), that struck at around 3:30 am local time (1:30 am GMT). The quake was felt across a broad section of central Italy, in Umbria, Lazio and Marche Regions, including the capital Rome where people in homes in the historic center felt a long swaying followed by aftershocks. According to reports at least 37 people died in the quake. EPA/MASSIMO PERCOSSI

(Bild: Keystone/MASSIMO PERCOSSI)

2009 in L’Aquila, 2012 in Modena: Erneut wird Mittelitalien von einem schweren Erdbeben erschüttert. Dutzende Menschen sterben, auch weil das Land aus seinen Naturkatastrophen nicht lernt.

Die Zeit steht still in Amatrice. Die Zeiger der Uhr am schmalen, mittelalterlichen Stadtturm im Zentrum des Städtchens wirken wie erstarrt. Auch jetzt, in der Hektik der Rettungsarbeiten stehen sie auf 3.38 Uhr. Das war der Zeitpunkt, als am frühen Mittwochmorgen die Erde in Mittelitalien bebte. Genauer gesagt markierte dieser Moment das Ende des mit Stärke 6 schwersten Erdstosses der ganzen Nacht.

142 apokalyptische Sekunden lang bebte der Untergrund und mit ihm Strassen, Häuser und Türme.

Die Folgen dieses Grauens sind vom frühen Morgen an im italienischen Fernsehen zu sehen. Es sind Bilder wie aus einem Krieg. Eingestürzte Gebäude, Trümmerhaufen, Staub und verzweifelte, in warme Wolldecken gehüllte Menschen. Manche stehen vor ihren zu Ruinen zerfallenen Wohnhäusern, andere laufen immer noch schreiend durch die Strassen.

Italienische Flagge

Über 70 Tote wurden bis Mittwochabend im gesamten Erdbebengebiet gezählt, dessen Epizentrum an der Grenze zwischen den Regionen Latium, Marken, Umbrien und Abruzzen lag. Doch wegen der vielen Vermissten könnte die Zahl der Opfer weiter steigen. Von Tausenden obdachlos Gewordenen ist ausserdem die Rede.

Als die Sonne am Mittwoch über Amatrice aufgeht, sieht man immer mehr Rettungskräfte auf den Trümmerhaufen. Manche tragen Helme, andere schaufeln mit rastlosem Gesichtsausdruck und blossen Händen Schutt und Steine zur Seite. Ein Bild aus Amatrice, dem wohl am meisten bei diesem Beben zerstörten und rund 140 Kilometer von Rom entfernten Ort, prägt sich besonders ein. Es sind etwa ein Dutzend Männer, darunter ein Jugendlicher im schwarzen Kapuzenpulli, die auf einem Trümmerhügel einen jungen Mann unter schweren Betonplatten hervorziehen.

Zwei Feuerwehrleute haben sich in den Spalt gezwängt und den Mann mit Schnauzbart auf eine Bahre gehievt. Als er verstört nach etwa vier Stunden unter den Steinblöcken das Tageslicht erblickt, bückt sich ein Helfer mit blauem Hemd und orangefarbener Hose über den Geretteten. Er küsst ihn auf die Wange und legt ihm eine italienische Flagge über die Brust. Eine Geste, deren Sinn vielleicht nur ein bisschen Wärme nach Stunden der Verzweiflung sein soll. 

Unfähig zum Wandel

Aber die Flagge steht auch für ein sich in regelmässigen Abständen wiederholendes Ritual. Regelmässig erschüttern Erdbeben das Land, es herrschen Panik, Verzweiflung und Trauer. Dann folgt bald die Wut der Betroffenen, weil man weiss, wie anfällig Italien für seismische Ereignisse ist. Es wird dann von Bauspekulation, Schuld und grossen Geschäften die Rede sein, aber weniger von nachhaltiger Prävention in der Zukunft. Oft hat man den Eindruck, dass Italien sich mit seinem Status als Nation von Erdbebenopfern abgefunden hat. Beinahe als seien die Beben ein Fanal der Unfähigkeit zum Wandel des ganzen Landes.

Als Fabrizio Curcio, der Chef des italienischen Zivilschutzes, am Mittwoch in Rom vor die Presse geht, vergleicht er das aktuelle Beben mit der Wirkung desjenigen, das vor sieben Jahren 309 Tote in den Abruzzen und der Regionalhauptstadt L’Aquila gefordert hat. Aber in Erinnerung sind auch die beiden Erdbeben aus dem Jahr 2012 in der Emilia-Romagna, ganz zu schweigen von den Katastrophen der vergangenen Jahrzehnte, in Umbrien, im Friaul, in Kampanien und anderswo. Täglich gibt es kleinere, nur von Spezialgeräten erfassbare Erdstösse auf der Apenninenhalbinsel.

  

Sogar Kinder wissen in Italien, dass im eigenen Land die afrikanische und die eurasische Platte aufeinanderstossen und permanent Erdstösse erzeugen. Am Mittwoch traf es vier Regionen mitten auf der italienischen Halbinsel, den nördlichen Zipfel von Latium, einen Teil der Marken, Umbrien und die Abruzzen. Gleichwohl war das Beben so stark, dass man es in Rom, Neapel oder Bologna spürte. Auch am Gran Sasso, dem höchsten Gipfel der Apenninen brachen Gesteinsmassen ab. Im nahegelegenen Norcia und in Urbino wurden historische Gebäude beschädigt. Das Epizentrum soll sich in etwa vier Kilometern Tiefe unter dem 500-Einwohner-Dorf Accumoli befunden haben, sieben Tote und vier Vermisste soll es hier gegeben haben.

Schicksalhaft wirkt auch der Zeitpunkt der jetzigen Katastrophe. Die betroffenen Bergdörfer werden während des Jahres nur von wenigen Hunderten, selten Tausenden Menschen bewohnt. Amatrice etwa hat normalerweise 2600 Einwohner. Über Generationen sind die Bewohner ausgewandert. Im August kommen viele zurück, um die Verwandtschaft zu besuchen, manchmal sind mehr Gäste als Einheimische vor Ort. In wenigen Tagen sollte in Amatrice zudem das Fest der «Spaghetti all’Amatriciana» gefeiert werden, eines berühmten Nudelgerichts. Das Städtchen war auf Feierlichkeiten programmiert. Jetzt sagt Bürgermeister Sergio Prozzi: «Der halbe Ort existiert nicht mehr.» Mindestens 35 Tote gab es alleine hier.

Flüchtlinge als Retter

Auf Luftbildern sieht Amatrice aus wie nach einem Bombardement. Grund dafür sind einerseits die teilweise mittelalterlichen Strukturen – das alte Gemäuer ist derartigen Erdstössen nicht gewachsen. Aber auch viele neuere Gebäude haben nachgegeben, wie zum Beispiel das Krankenhaus am Ortseingang, das eigentlich der sicherste Ort im Dorf sein sollte.

Stattdessen musste das kleine Hospital in der Nacht evakuiert werden. Abdeckungen stürzten zu Boden, von aussen sieht das Krankenhaus aus wie ein Kasten, der jeden Moment in sich zusammenfallen könnte. Unter sämtlichen Fenstern haben sich tiefe Risse ins Mauerwerk gebohrt. Die Patienten sitzen oder liegen seit dem Morgengrauen auf dem nahegelegenen Parkplatz. Ein paar bleiche Krankenschwestern kümmern sich um sie.

Was bleibt, sind Ungewissheiten. Zahlreiche Kinder sollen unter den Trümmern gestorben sein. In Amatrice versuchte eine Gruppe afghanischer Flüchtlinge zwei angehörige Frauen zu retten, ob sie dabei Erfolg hatten, ist unklar. Wie es heisst, sollen in einem Hotel im Zentrum des Ortes auch mehrere Touristen vom Erdbeben überrascht und eingeschlossen worden sein. Warum, lautet die drängendste Frage, wirkt Italien so unvorbereitet auf so zu erwartende Ereignisse wie Erdbeben?

Antworten darauf hatte am Mittwoch kaum jemand. Schon gar nicht der zierliche, 27 Meter hohe, aber immer noch kerzengerade dastehende Stadtturm von Amatrice. Angesichts der Schwere des Erdbebens hätte er eigentlich als Erstes einstürzen müssen.

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