Jähes Ende einer Reise ins Glück

Auch wer ständig so zu handeln glaubt, wie es richtig und nötig scheint, kann stolpern. Eine Lappalie kann ins Unglück führen.

(Bild: Patric Sandri)

Auch wer ständig so zu handeln glaubt, wie es richtig und nötig scheint, kann stolpern. Eine Lappalie kann ins Unglück führen.

(Bild: Patric Sandri)

Vor mir liegt die Anfrage der TagesWoche, einen Artikel zum Thema «Der Sinn des Lebens» zu verfassen. Es solle ein persönlicher Artikel sein, aufgrund meines eigenen Lebens. Ich zögerte, zu vielschichtig schien mir das Thema.

Doch ist das Thema tatsächlich so schwierig? Oder haben wir ganz einfach verlernt, in uns hineinzuhorchen, oder wollen wir das vielleicht gar nicht? Doch: Genau dieses Hineinhorchen könnte uns vielleicht eine Antwort geben. Wie fühlen wir uns, wenn wir einem Menschen oder einer Kreatur etwas Schlechtes antun? Wird es uns dann warm ums Herz, sind wir zufriedener als vorher? Vielleicht dachten wir einen Grund zu haben, jemandem etwas anzutun, weil auch wir Opfer wurden.

Aber macht es Sinn, wenn wir Gleiches mit Gleichem vergelten? Aber auch: Wie fühlen wir uns, wenn wir einem Menschen etwas Gutes tun, wenn wir ihm zum Beispiel in einer schwierigen Zeit helfend zur Seite stehen? Wir stellen mit Überraschung fest, dass auch wir dadurch froher werden. Das tönt nach Sonntagspredigt – ist es aber nicht, sondern ganz einfach Lebenserfahrung.
Niemand von uns wurde gefragt, ob er oder sie auf diese Welt kommen wolle. Und die meisten von uns haben in ihrem Leben Augenblicke erlebt, in denen sie sich wünschten, nie geboren worden zu sein. Doch wir sind nun einmal hier.

Gehandelt, nicht nachgedacht

Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich nie über den Sinn des Lebens nachgedacht habe. Dafür habe ich gehandelt. Nicht nach einem Plan, ich habe einfach getan, was mir im jeweiligen Moment als nötig und richtig erschienen ist.

Mein berufliches Ziel war nicht die Politik. Jugendanwältin wollte ich werden. Schon früh war ich mir meiner privilegierten Situation bewusst. Ich hatte vernünftige Eltern, die uns Freiheit liessen, aber auch auf die damit untrennbare Verantwortung hinwiesen. Wir durften ein Instrument spielen, den Pfadfinderinnen beitreten, Sport treiben. Fast wäre ich wegen meiner Leidenschaft für das Eiskunstlaufen aus der Schule geflogen. Und wir Kinder beziehungsweise wir junge Erwachsene durften unsere Berufe selber wählen.

Als im Oktober 1956 die ungarische Revolution ausbrach, angeführt von Studenten und jungen Arbeitern, war an die Aufnahme des Studiums nicht zu denken. Zu aufgewühlt war ich, so voller Hoffnung, dass es einem Land gelingen würde, das Joch der totalitären Herrschaft des Kommunismus abzuschütteln.

Eine kleine Gruppe von Studenten fand sich zusammen, um ihren Kommilitonen in Ungarn zu helfen. Wir organisierten Transporte nach Ungarn, Kleider, Medikamente, Nahrungsmittel und vieles andere mehr. Als die Sowjets einmarschierten, wurden die Grenzen dicht gemacht. Viele konnten rechtzeitig fliehen, andere wurden umgebracht. Doch unsere grenzenlose Enttäuschung und Wut halfen niemandem.

Hilfe für ungarische Flüchtlinge

Nach der Niederschlagung der Revolution sahen wir die einzige Aufgabe darin, unseren ungarischen Kommilitonen, die in die Schweiz geflohen waren, zu helfen. An das Studium war weiterhin nicht zu denken. Zu jener Zeit trat ich auch als Sanitätsfahrerin dem militärischen Frauendienst, damals FHD genannt, bei. Auch nicht, um meinem Leben einen Sinn zu geben. Ich war mir in jener Zeit noch mehr bewusst geworden, was für ein Privileg es ist, in einem freiheitlichen und demokratischen Staat zu leben und wollte einen Minibeitrag zu dessen Verteidigung leisten.

Meine Wahl in den Gemeinderat von Zumikon im Jahre 1970 und vier Jahre später zur Gemeindepräsidentin erfolgte ohne meine Stimme.

Breite Unterstützung

Aber ich bereute den Schritt nie. Es war eine erfüllte Zeit. Ein verkehrsfreies Dorfzentrum wurde gebaut, Bahn und Strasse in einen Tunnel versenkt und auf dem Dorfplatz Kinderspielplätze und Geschäfte und vieles andere mehr erstellt. Noch heute fühle ich Emotionen, wenn ich über den Dorfplatz gehe oder den Kindern beim Spielen in der Kinderkrippe oder im Kinderhort zusehe.

Erneuerbare Energien (in den Siebzigerjahren!) wurden eingeführt. Auch damals fragte ich nicht nach dem Sinn des Lebens, ich versuchte einfach umzusetzen, was ich für richtig befand. Und ich hatte die Unterstützung meiner Kollegen und der Bevölkerung.

Es folgte 1979 die Wahl in den Na­tionalrat, in dem ich mich für die Gleichberechtigung der Frauen, allem voran für das neue Eherecht einsetzte. Mit meinen Anliegen zur Einführung von Katalysatoren, bleifreiem Benzin und schadstoffarmen Fahrzeugen stiess ich damals noch auf taube Ohren.

Nach dem Sinn des Lebens fragte ich auch damals nicht.

In meinem Mann fand ich die grosse Liebe, die bis zu seinem Tod anhielt. Unsere grösste Freude war unsere Tochter Brigitt. Wir waren glücklich und gleichzeitig dankbar.

Ruinierter Ruf

Doch jäh wurde unsere Glücksreise unterbrochen. Eine Lappalie, aufgebauscht und verdreht von den meisten Medien, köpfte unsere beruflichen Karrieren, unser Ruf wurde ruiniert, vielleicht das Schlimmste von allem. Die Kommunikation von meiner Seite war sicher nicht optimal. Doch rechtfertigte dies die Folgen? Das Allerschlimmste war die Wehrlosigkeit. Was immer wir sagten oder schrieben und mit Akten belegen konnten, wurde lächerlich gemacht. Es durfte nicht wahr sein, was wahr war. Mut und Kraft gab mir die Genfer Philosophin Jeanne Hersch, die als Einzige öffentlich gegen das Unrecht auftrat.

Man stellte mich vor Bundesgericht. Da sass ich auf dem Angeklagten-Stuhl, auf dem vor mir ein gewisser Hariri gesessen hatte. Er hatte ein Flugzeug entführt, die Passagiere als Geiseln festgehalten, und, als seine Forderungen nicht erfüllt wurden, eine Geisel ermordet. Ich hatte meinen Mann gebeten, aus dem Verwaltungsrat einer Firma auszutreten, weil Gerüchte wegen Geldwäscherei über diese Firma zirkulierten. Mein Mann beruhigte mich, dass mit der Firma alles in Ordnung sei, was sich auch bestätigte, doch erfüllte er meine Bitte.

Mich beschäftigte zunehmend die Frage, was denn mit unserem Land los war, warum denn niemand diesem Wahnsinn Einhalt gebot, handelt doch unser Land im Grossen und Ganzen pragmatisch und vernünftig. Wenigstens wurde ich freigesprochen, doch das Gericht sprach mir entgegen Gesetz und Praxis keine Entschädigung für meine Kosten zu, es wollte offensichtlich den Volkszorn beziehungsweise den Zorn gewisser Medien nicht provozieren. Eine rechtsstaatlich bedenkliche Konzession.

Das Parlament setzte eine parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) ein. Der Bundesrat ordnete ein Administrativverfahren an, gegen mich wurde eine Strafuntersuchung eröffnet. Eine derartige Verfahrens-Häufung hat es in der Schweiz noch nie gegeben. Sie war auch rechtsstaatlich sehr bedenklich.

Alle Telefone abgehört

Als Präsident der PUK wurde der nachmalige Bundesrat Moritz Leuenberger gewählt. Er liess alle unsere Telefone abhören: die 23 Linien der Anwaltskanzlei meines Mannes, meine, und sogar die Telefonlinie unserer Tochter (!). Aber wo nichts ist, kann auch nichts gefunden werden. Als die illegale Telefonabhörung bekannt wurde, war auch die berufliche Karriere meines Mannes endgültig am Ende. Seine Klienten sagten verständlicherweise, sie wollten keinen Anwalt, dessen Telefone abgehört werden. Vergeblich versuchten wir Auskunft für den Grund der Abhörung zu bekommen. Alle Instanzen bis zum Bundesgericht lehnten eine Auskunft ab. Aus «höheren Interessen» …

Worin diese bestanden haben sollen, blieb uns schleierhaft. So wandte sich mein Mann an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Das Gericht gab ihm einstimmig (!) recht und verurteilte die Schweizerische Eidgenossenschaft. Eine Entschuldigung war nie zu hören, geschweige denn die Rückerstattung der beträchtlichen Kosten. Und die meisten Medien fanden diese Tatsache nicht für erwähnenswert. Ihr Urteil war gefällt.

Was das alles für einen Sinn haben sollte, fragte ich mich nicht. Ich war einfach unendlich traurig und fiel in eine schwere Depression. Wir hätten beide in unseren Leben noch viel leisten und geben können und auch wollen.

Wäre mein Leben anders verlaufen, wenn ich seinerzeit über den Sinn des Lebens nachgedacht hätte? Ich denke nicht. Rückblickend erkenne ich wohl einen roten Faden in meinem Leben. Und ich hoffe, dass das, was ich tat, einen Sinn ergibt, wohl wissend, dass, wer handelt, auch Fehler macht. Doch der grösste Fehler ist, nichts zu tun.

Elisabeth Kopp (76) wurde 1984 als erste Frau in den Bundesrat gewählt. Nach fünfjähriger Amtszeit musste die freisinnige Justizministerin zurücktreten. Sie hatte ihren Mann darauf aufmerksam gemacht, dass gegen eine Firma, in deren Verwaltungsrat er sass, ermittelt würde. Die einst bejubelte Frau wurde innert weniger Wochen zur Unperson, der Sturz war tief.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 28.12.12

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