Jeder Franken zählt

In der Regel äussern sich Politiker und Experten in endlosen Debatten zum Thema Mindestlohn. Hier erzählen drei Frauen über ihr Leben mit einem Lohn, der nirgends hinreicht.

Einfach ausgeben liegt nicht drin, wenn das Geld für einen Monat reichen muss. (Bild: Michael Würtenberg)

In der Regel äussern sich Politiker und Experten in endlosen Debatten zum Thema Mindestlohn. Hier erzählen drei Frauen über ihr Leben mit einem Lohn, der nirgends hinreicht.

In der Schweiz erhält jeder Zehnte, der mit ­einem Vollzeitpensum arbeitet, weniger als 4000 Franken Lohn. Eine im Auftrag des Schweize­rischen Gewerkschaftsbunds (SGB) erstellte Studie der Universität Genf kommt zum Ergebnis, dass mehr als ein Drittel dieser Tieflohnbezüger eine Berufslehre absolviert hat. Ein Skandal in der ­reichen und teuren Schweiz, findet der SGB und will das mit einem gesetzlichen Mindestlohn von 4000 Franken monatlich oder 22 Franken pro Stunde ändern.

Besonders verbreitet sind die tiefen Löhne im Detailhandel, aber auch in der Gastronomie und anderen Dienstleistungsbranchen. Wenig erstaunlich ist, dass vor allem Frauen schlecht bezahlt werden. Sie machen zwei Drittel aller Tieflohnbetroffenen aus. Und wohl deshalb ist kein Zufall, dass wir auf der Suche nach Menschen, die wenig verdienen, ausschliesslich Frauen fanden. Zumindest waren nur Frauen bereit, darüber zu reden. Aber auch sie nicht ohne Vorbehalte: Die Angst, den Job zu ver­lieren, sitzt allen im Nacken. Auf ihren (verständ­lichen) Wunsch hin haben wir deshalb die drei Frauen, die hier ihre Lebenssituation schildern, mit anderen Namen ausgestattet.

Selbstständige Frauen

Wenn ihr Lohn auf dem Konto sei, sagt Nina Keller, bezahle sie als Erstes ihre Rechnungen. Immer. «Sonst kann ich nicht mehr ruhig schlafen.» Sie müsse wissen, wie viel ihr nach Abzug von Miete, Krankenkasse und anderen unumgäng­lichen Kosten noch bleibe. Etwa 300 bis 400 Franken, sagt sie.

Keller arbeitet mit einem 100-Prozent-Pensum als Verkäuferin im Textilbereich. Obwohl sie zur Abteilungsleiterin aufgestiegen ist, beträgt ihr monatlicher Lohn gerade mal 3800 Franken brutto. Ausbezahlt werden 3350 Franken. Davon gehen allein für die Miete der Einzimmerwohnung in Basel 1000 Franken weg; eine weitere happige Ausgabe, sagt die 27-Jährige, sei die Krankenkassenprämie von 430 Franken monatlich. «Wenn ich nicht mit Flick- und Änderungsarbeiten für unser Geschäft zusätzlich etwa 200 Franken verdienen würde, wüsste ich nicht, wie durchkommen.»

«Ohne den Zusatzverdienst mit Flick- und Änderungsarbeiten würde ich nicht durchkommen.»

Soeben habe sie die letzte Rate für die Steuern 2011 bezahlt, die jeweils jährlich etwa 4500 Franken ausmachen. Einen 13. Monatslohn, mit dem Nina Keller die Steuerschuld begleichen könnte, kriegt sie nicht. In den Ferien einmal verreisen? Davon kann sie nur träumen. Ausgang? Ganz selten. Dass es so auf Dauer nicht weitergeht, ist für die junge Frau klar, aber: «Welche Alternativen, was für Perspektiven habe ich?»

Gelernt hat sie Schneiderin; es sei ihr schon bewusst gewesen, sagt sie, dass dieser Beruf sie nicht reich mache. Aber erstens wollte sie ihn unbedingt erlernen – «die Stoffe, die Farben und damit etwas zu gestalten, das hat mich seit der vierten Primarklasse fasziniert». Zweitens war ihr nicht klar, wie schwer es wirklich werden würde, als Schneiderin einen Job zu kriegen. Sechs Jahr lang habe sie sich mit einem kleinen Teilzeitpensum in einem Geschäft und als Selbstständige mit Flick- und Änderungsarbeiten durchgeschlagen. Hin und wieder gab es auch mal einen Auftrag für einen Massanzug.

Aber ausser, dass sie nun als Verkäuferin einen regelmässigen Lohn hat, ist ihre finanzielle Situation nicht viel besser geworden. Am meisten ärgere sie sich über die Haltung, sagt Nina Keller, mit der diese tiefen Löhne gerechtfertigt würden: dass Frauen eh einen Partner hätten, der sie unterstützt. «Als ob es selbstverständlich wäre, dass Frauen nicht selbstständig sind.»

Wenig Geld, wenig Anerkennung

Milena Suter ist 23 Jahre alt, gelernte Coiffeuse und arbeitet seit letztem Herbst mit einem 80-Prozent-Pensum als Verkäuferin in einem Kleiderladen in Basel. Ihr Nettolohn beträgt 2500 Franken, einen Dreizehnten erhält sie nicht. Sie wohnt bei ihrer Mutter, zusammen mit ihrem jüngeren Bruder. Eine eigene Wohnung, sagt sie, könnte sie sich mit diesem Lohn niemals leisten. Aber es sei okay, sie habe ein sehr gutes Verhältnis zu ihrer Mutter, und ausserdem «kann ich sie so ein bisschen unterstützen». Etwa 1000 Franken monatlich steuert ­Milena Suter zur Haushaltskasse bei.

«Ende Monat habe ich nichts mehr, null.» Obwohl sie sehr sparsam mit dem Geld umgehe: «Ich rauche nicht, trinke keinen Alkohol», und im Ausgang achte sie darauf, nicht mehr als fünf Franken auszugeben. «Ich hocke dann halt einen Abend lang bei einem Eistee.» Es geht alles irgendwie, aber es ist ein Knorz. Es sei nun mal so, sagt Suter, «Geld regiert die Welt. Und wenn du keines hast, zieht es dich runter, macht dir ständig Sorgen.»

«Nicht jeder Mensch ist gleich, und nicht alle haben die gleichen Möglichkeiten.»

Was ihr am meisten zu schaffen macht, ist, dass sie keinen Rappen auf die Seite legen kann. Falls einmal etwas Unvorhergesehenes passieren würde, wäre sie aufgeschmissen. Das bedeutet aber auch: keine Ferien. Wie gerne würde sie verreisen, fremde Orte kennenlernen, an einem Strand liegen, sich erholen. Denn – der Job sei streng, sehr streng. «Du stehst den ganzen Tag, musst immer präsent sein, von morgens um neun bis abends um acht.»

Und deshalb findet Milena Suter, dass ein Mindestlohn von 4000 Franken für ein Vollzeitpensum das Mindeste wäre. Eine Frechheit sei es, wie gewisse Leute dagegen argumentieren. Wie kürzlich ein Politiker im Fernsehen: Man solle sich halt «in den Arsch kneifen», damit man weiterkomme und besser verdienen könne.

Solche Sprüche bringen die junge Frau regelrecht auf die Palme. «Was denkt sich so einer? Dass jeder Mensch, wenn er nur will, es zum Erfolg bringen kann?» Nein, sagt sie, das könne eben nicht jeder, «nicht jeder Mensch ist gleich, und nicht alle haben die gleichen Möglichkeiten». Überhaupt, solche Herren würde sie gerne fragen, wer ihnen die Anzüge verkaufen soll.

Denn, was Milena Suter ausser dem tiefen Lohn für ihre Arbeit gewaltig stört, ist die Geringschätzung, mit der manche Leute Verkäuferinnen begegnen. Generell Leuten, die auf der Lohnskala tief unten angesiedelt sind. Das Gleiche habe sie nämlich schon als Coiffeuse erlebt. «Als ob wir einfach dumm wären.»

Manchmal keine Kraft mehr

Carmen Garcia muss nicht nur für sich allein sorgen, sondern zudem für ihr dreijähriges Kind. Auch sie arbeitet im Verkauf, auch sie in einer Mode­boutique. Damit sie wenigstens einen Tag pro Woche mit ihrer kleinen Tochter verbringen kann, mit einem 80-Prozent-Pensum. Dafür erhält die gelernte Detailhandelsangestellte mit absolviertem Meisterkurs monatlich 3000 Franken, plus 200 Franken Kinderzulage, Gratifikation keine.

Die Dreizimmerwohnung in Basel kostet 1300 Franken, die Krankenkasse für Mutter und Kind 230 Franken, der subventionierte Platz im Tagi 388 Franken. Alimente bezahlt der arbeitslose Vater ihrer Tochter keine. Ohne zusätzliche Unterstützung wüsste die alleinerziehende Mutter nicht, wie sie den Lebensunterhalt bestreiten könnte. So erhält sie via Alimentenbevorschussung 600 Franken für ihr Kind vom Staat sowie 300 Franken Sozialbeitrag an die Wohnungsmiete.

«Es trifft mich im Stolz, dass ich trotz harter Arbeit auf fremde Hilfe angewiesen bin.»

Es fällt der 33-Jährigen nicht leicht, darüber zu reden. Es treffe sie im Stolz, sagt sie, dass sie auf fremde Hilfe angewiesen sei, obwohl sie so hart ­arbeite. Eine böse Überraschung erlebte sie, als sie wegen eines krankheitsbedingten Arbeitsausfalls noch weniger Lohn als sonst erhielt. «Dabei bin ich auf jeden Rappen angewiesen.» Ihr Arbeitgeber berief sich auf eine Klausel im Vertrag, wonach ihr nur 80 Prozent zustehe, falls sie wegen Krankheit ausfalle. «Klar, ich war blöd, dass ich das nicht gesehen habe, als ich den Vertrag unterschrieben habe», sagt sie, das werde ihr garantiert nicht mehr passieren. «Falls ich einmal eine neue Stelle haben sollte, werde ich jeden Satz im Vertrag überprüfen.»

Ja, eine neue Stelle, das wärs. Aber zum einen gibt es nicht massenweise Angebote, und zum anderen ist sich Garcia bewusst, dass die Arbeits­bedingungen im Detailhandel generell nicht die besten sind. Aber für eine Weiterbildung oder Umschulung auf einen anderen Beruf fehle ihr das Geld. «Ach», sagt sie, «ich mag gar nicht daran denken, wie es weitergehen soll.» Dieser strenge Job, der ständige Existenzkampf, «ich habe manchmal einfach keine Kraft mehr». Der gesetzliche Mindestlohn würde die Situation vieler Frauen verbessern, meint sie.

Der Staat solls richten

Ganz anderer Meinung sind die Gegner. Sowohl der Bundesrat als auch Arbeitgeberverbände und bürgerliche Politiker warnen davor, dass ein national gesetzlich vorgeschriebener Mindestlohn den jetzt gut funktionierenden Arbeitsmarkt gefährde, ja, ­sogar manche Menschen in die Arbeitslosigkeit treiben würde.

Niederschwellige Jobs zu vergeben, ­würde sich für die Unternehmen nicht mehr lohnen, weil sie dann mehr kosteten als einbrächten, heisst es von dieser Seite. Löhne müssten statt­dessen ­zwischen den Sozialpartnern mit Gesamt­arbeits­verträgen ausgehandelt werden, und: Letztlich gebe es staatliche Zuschüsse für diejenigen, deren Lohn für den Lebensunterhalt nicht reiche.

Im Jahr 2011 war laut dem Bundesamt für Statistik (BfS) ein knappes Drittel der Sozialhilfeempfänger erwerbstätig, davon 35,8 Prozent Vollzeit. Mindestens 10 Prozent der Sozialhilfeempfänger in der Schweiz, so das BfS, könnten als Vollzeit-Angestellte von ihrem niedrigen Lohn nicht leben und seien deshalb auf die Unterstützung durch die Sozialhilfe angewiesen.

Dass der Staat so Arbeitgeber subventioniert, die sich ausserstande sehen, existenzsichernde Löhne zu zahlen, sagen die Gegner nicht laut. Vor allem aber scheinen sie nicht zu wissen, wie entwürdigend es ist, wenn man trotz tagtäglicher Arbeit noch beim Sozialamt betteln muss.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 17.05.13

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