Jeder gegen jeden und alle gegen die Flüchtlinge

Die Schweiz und Europa schieben sich die Verantwortung für Asylsuchende gegenseitig zu. Nötig wäre aber eine Flüchtlingspolitik jenseits egoistischer Auslegungen des Dublin-Abkommens.

Syrian refugees rest after arriving at the Central train station in Milan, Italy, Thursday, June 11, 2014. With thousands of refugees arriving in Italy each day aboard smugglers' boats from Libya, Italy is letting many migrants just melt away, not registe (Bild: Keystone/Luca Bruno)

Immer mehr Flüchtlinge streben in den Norden, die Zielländer wollen sich dieser Herausforderung so wenig wie möglich stellen. Es wird Zeit, dass sich die Schweiz und Europa auf eine gemeinsame Flüchtlingspolitik verständigen.

Letzte Woche war unsere Justizministerin Simonetta Sommaruga beim deutschen Bundesinnenminister Thomas de Maizière in Berlin. Dort erörterte sie die Probleme, die sich mit dem Flüchtlingsstrom übers Mittelmeer für die europäischen Zielländer ergeben.

Man war sich in Berlin gemäss offizieller Meldung einig, dass die Migrationspolitik eine europäische Verbundaufgabe sei. Zugleich wurde bekräftigt, dass sich alle Staaten, die im sogenannten Dublin-Abkommen verbunden sind, an die Regeln halten müssten. Dies umfasst auch die vollständige Sicherstellung der automatischen Registrierung von Asylsuchenden an der Schengen-Aussengrenze.

Und genau da liegt das Problem. Einerseits wollen Menschen in wachsender Zahl übers Mittelmeer nach Europa gelangen, andererseits wollen die Zielländer sich dieser Herausforderung so wenig wie möglich stellen.

Versäumnisse des Südens, Gleichgültigkeit des Nordens

Das Dubliner Übereinkommen wurde im Juni 1990 von 12 EG-Mitgliedstaaten unterzeichnet, inzwischen haben es neben den 28 EU-Mitgliedern auch die Nicht-EU-Staaten Norwegen, Island und die Schweiz übernommen. An sich handelt es sich um ein Vereinheitlichungsprojekt wie viele andere: Es strebt eine Standardisierung der Aufnahmepolitik an, es will eine korrekte Abwicklung sicherstellen und insbesondere mit dem EDV-gestützten Informationsaustausch (System Eurodac) vermeiden, dass in mehreren Ländern Asylanträge eingereicht werden können. 

Das Abkommen hat eine grosse Schwäche: Es bürdet die Aufnahmelast weitgehend den Ländern der Erstankunft auf und enthält keine Regeln, wie die Flüchtlinge nach objektiven Kriterien und festen Kontingenten auf die Dublin-Gemeinschaft verteilt werden sollen.

Wir haben sie gesehen, die Bilder der unregistrierten Flüchtlinge, welche von der Insel Lampedusa herkommend, die Böden der Eingangshalle des Mailänder Bahnhofs belegen.

Wenn in Italien nicht alle Ankünfte registriert werden und so die Möglichkeit besteht, dass Flüchtlinge weiterreisen und in anderen Ländern einen Asylantrag stellen können, wird dies  – gerade in der Schweiz – als typische Nachlässigkeit des «unseriösen» Südens gesehen. Das Gegenstück zum Registrierungsversäumnis ist jedoch die weitgehende Gleichgültigkeit gegenüber der Last der Mittelmeerländer Italien und Griechenland.

Für ein Jahr «Mare nostrum»

In Italien sind seit Jahresbeginn rund 130 000 Flüchtlinge angekommen. Darunter sind viele, die durch die italienische Marine vor dem sicheren Tod gerettet worden sind. Nachdem im vergangenen Jahr vor Lampedusa 366 Männer, Frauen und Kinder beim Brand eines Flüchtlingsboots umgekommen waren, startete Italien aus eigenem Antrieb für ein Jahr das Rettungssystem «Mare nostrum». Zum Dank wurde Rom mit dem Vorwurf eingedeckt, es vergrössere damit den Flüchtlingsstrom nur, denn damit würden sogenannte Anreize geschafft.

80 Prozent der geflüchteten Syrer verteilen sich auf fünf EU-Staaten.

Im Oktober läuft diese Aktion aus. Italien erwartet, dass die EU diese Aufgabe übernimmt. Eigentlich müsste ganz Europa ein «Mare nostrum» sein. Mit «Frontex plus» steht ab dem 1. November ein schwacher Ersatz in Aussicht.

Unterdessen hat es neben den tagtäglichen Katastrophen Mitte September vor Malta erneut ein grösseres Unglück gegeben: Über 500 Migranten ertranken, weil Schlepper ein Schiff versenkten. Entsetzte Reaktionen, wie sie im Vorjahr in ganz Europa zu vernehmen waren, blieben diesmal aus.

Verweigerungshaltungen hüben wie drüben

Man ist versucht, darin den typischen Staatenegoismus auch in der EU festzustellen. Es gibt in diesem Bereich keine verbindliche Solidarität unter den Mitgliedstaaten und auch nur eine sehr beschränkte Solidarität gegenüber Menschen, die aus den verschiedensten Gründen auf der Flucht sind. Die harzige Kooperation im grossen europäischen Raum erinnert an die Verweigerungshaltungen, wie sie im Kleinen von einzelnen schweizerischen Gemeinden bei der Bereitstellung von Asylunterkünften betrieben werden. Eine bequeme Rechtfertigung für unkooperatives Verhalten ist das Argument, man möchte vermeiden, dass «die Stimmung kippt»; ein Argument, das zu diesem Kippen geradezu einlädt.

In Europa kommt schnell die irrige Meinung auf, «die ganze Welt» wolle hierher kommen. Dem hält Vincent Cochete, Europa-Direktor des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) entgegen, dass von den rund 51 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, bloss ein ganz kleiner Teil nach Europa will, derweil ein grosser Teil in den schwachen Nachbarländern des Südens unterzukommen versucht. Die Türkei, sozusagen zwischen Süden und Norden gelegen, zählt ohne die aktuellen Belastungen aus dem Syrienkonflikt rund 1,5 Millionen Flüchtlinge.

Es gibt in der Flüchtlingspolitik keine idealen Lösungen. Es bleibt aber die Aufgabe, unter den unidealen die besseren anzustreben.

Diejenigen, die nach Europa kommen, verteilen sich sehr ungleich. 80 Prozent der geflüchteten Syrer verteilen sich auf fünf EU-Staaten. Die meisten Flüchtlinge landen in Deutschland (bis Jahresende rechnet man mit einem Anstieg auf 200 000) und innerhalb Deutschlands landet etwa die Hälfte in den drei Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg.

Das Departement Sommaruga hat in den letzten Tagen angeboten, Italien bei der Flüchtlingsregistrierung technisch zu unterstützen. Die wichtigere Hilfe würde allerdings darin bestehen, punkto Aufnahmezahlen, aber auch Behandlung der Aufgenommenen (zum Beispiel in der Familienzusammenführung und der Beschäftigung) mit dem guten Beispiel voranzugehen. Dies in Verbindung mit dem Ziel, einer gesamteuropäischen Flüchtlingspolitik näherzukommen.

Filtern im Herkunftsland

Es gibt in der Flüchtlingspolitik keine idealen Lösungen. Es bleibt aber die Aufgabe, unter den unidealen die besseren anzustreben. Rein nationale Lösungen tragen die schlechte, aber verständliche Tendenz in sich, möglichst wenig von der Gesamtaufgabe zu übernehmen, weil man sich insbesondere vor der eigenen Wählerschaft nicht dem Vorwurf aussetzen will, mit einer zu gutmütigen Humanität  «blöd» dazustehen. Kollektive Haltungen eines Nationenverbundes (Dublin) enthalten dagegen die Chance, dass man seinen Anteil beiträgt, weil es andere ebenfalls tun. Es braucht dringend eine gemeinsame Kontingentspolitik.

Da geht es um nötige Soforthilfe. Die längerfristigen Massnahmen zur Reduktion der Flüchtlingsströme durch die Bekämpfung politischer und wirtschaftlicher Elendsverhältnisse in den Herkunftsländern wie etwa Eritrea müssen gewiss ebenfalls angestrebt werden, sie sind oder wären aber kein Rechtfertigungsgrund, keine Soforthilfe zu leisten.

Da erfahrungsgemäss über 90 Prozent der Flüchtlinge wieder zurück müssen, liegt der Gedanke nahe, die rund 10 Prozent akzeptabler Menschen bereits in den Herkunftszonen zum Beispiel in UNHCR-Lagern herauszufiltern und den anderen mit dem Grenzschutz der «Festung Europa» die vergebliche Reise gleichsam zu ersparen. Anders gesagt: punktuelle Humanität in Kombination mit grossflächiger Notwendigkeit zum Inhumanen.

Wiedereinführung des Botschaftsasyls?

Im Kleinen könnten die europäischen Botschaften in Krisengebieten solche «Lager» bilden, wie es sie in der Flüchtlingsgeschichte immer wieder gegeben hat (in Chile 1973 oder in Prag 1989). Die Schweiz strich «als letztes Land» im April 2013 das Botschaftsasyl. Zuvor waren in der Ära von Justizminister Christoph Blocher Tausende von Anträgen in Damaskus und Kairo einfach schubladisiert worden.

Gemäss einer viel beachteten Stellungnahme von Oktober 2013 ist für Sommaruga auch die Wiedereinführung des Botschaftsasyls eine «Überlegung» wert. Das könne die Schweiz aber nicht alleine, sondern nur mit anderen Ländern zusammen tun. Am anderen Ende der Fahnenstange liegt die «Lösung» derjenigen, die per Initiative nur noch Flüchtlinge zulassen wollen, die direkt (also nicht über ein Nachbarland) in die Schweiz kommen, also eigentlich keine.

Das bei manchen doch zu Recht bestehende schlechte Gewissen lässt sich ein wenig beruhigen, wenn wir uns anstrengen, den kleinen Prozentsatz der Aufnahmen möglichst gross zu halten. Dass man «nie alle» aufnehmen kann – ein Slogan, der sicher einen wahren Kern enthält – darf uns nicht dazu verleiten, weniger zu tun, als wir tun können.

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