Eine Familie, die 60’000 pro Monat kostet, ein Jugendstraftäter, der sich auf einem Segeltörn vergnügt: Klarer Fall von «Sozial-Irrsinn» – oder? Warum faszinieren uns angebliche Missstände im Sozialwesen, wo es doch eigentlich ganz gut läuft?
Seit vier Monaten ist er auf hoher See und sorgt in Schweizer Boulevardblättern für Aufsehen. Ein verhaltensauffälliger Jugendlicher (14), der an einer sozialpädagogischen Massnahme teilnimmt. Der «Blick» nennt ihn den «Carlos von Schmerikon», sein Segeltörn wird als Ferienplausch kolportiert. Dabei sprechen die Kommentatoren nur über die exorbitanten Kosten, von einem möglichen Nutzen kein Wort.
Der Fall fasziniert und wirft schweizweit hohe Wellen. Nun will das Jugendamt Bern, welche den Segeltörn verschrieb, die «Hochseesegelschule» abbrechen. Die Massnahme hätte «pädagogische Mängel», sagen Jugendamt-Mitarbeiter. Der Zeitpunkt ist hochbrisant. Ausgerechnet nach der Berichterstattung zum «Luxus-Segeltörn» interveniert die Behörde – Zufall oder Öffentlichkeitsdruck? Es hat nichts mit den Kosten zu tun, sagt das Jugendamt gegenüber der «NZZ».
Wo bleibt die Sachlichkeit?
«Sozial-Irrsinn» ist in aller Munde, das Wort hat längst Eingang in das Alltagsvokabular gefunden. Warum beschäftigt uns das Thema straffälliger Jugendlicher in sozialpädagogischen Massnahmen? Und warum können wir nicht einfach sachlich darüber reden?
Punkt eins ist die totale Diskurs-Verwirrung. Sozialhilfe und sozialpädagogische Massnahmen werden munter vermischt, dabei sind es komplett unterschiedliche Gebiete.
Die Sozialhilfe sichert das Existenzminimum, sie sorgt für alles, das «für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich» ist – so steht es in der Bundesverfassung. Die Höhe der Sozialhilfe ist von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich und orientiert sich an festgesetzten Parametern: Grundbedarf, Mietkosten, Kosten für Krankenversorgung. Der Fachverband Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) legt die Richtlinien fest, die für die meisten Gemeinden verbindlich sind. Die Mietkosten werden beispielsweise von den Gemeinden nach regional unterschiedlichen Kriterien bestimmt.
Von sozialpädagogischen Massnahmen spricht man dann, wenn es darum geht, jemanden zu behandeln, der beispielsweise psychische Probleme hat. Das können Massnahmen sein, die auf den ersten Blick erstaunen: Yoga, Reittherapie oder eben Segelausflüge. Häufig helfen diese Therapien, junge Erwachsene in die Gesellschaft zu integrieren.
Die sozialpädagogischen Massnahmen werden meistens von den zuständigen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb) veranlasst. Ein klassisches Beispiel, wenn die Kesb eingreifen, ist häusliche Gewalt: Der neunjährige Robin wird zu Hause geschlagen. Eine Lehrerin bekommt davon Wind und informiert die Kesb. Dann entscheidet ein Gutachter, dass Robin in einem Heim platziert wird. Die Eltern sind Sozialhilfebezüger und können dieses Heim nicht bezahlen – also muss die Sozialhilfe dafür aufkommen. Am Ende fallen die Kosten bei der Sozialbehörde der Gemeinde an.
Eine Flüchtlingsfamilie sorgt für Empörung
So oder so ähnlich könnte es sich in der Zürcher Gemeinde Hagenbuch abgespielt haben, wo sich die Betreuung einer Flüchtlingsfamilie auf 60’000 Franken pro Monat belaufen haben soll (so berichtete der «Blick» vor zwei Wochen). Vier Kinder der Familien mussten in Heimen platziert werden, dazu kam die sozialpädagogische Betreuung – Zoo-Besuch inklusive. Der Fall sorgte schweizweit für Aufsehen und heizte eine Debatte über «Sozialfirmen» und die profitorientierte «Sozial-Industrie» an.
Und der Fall stiess eine Debatte darüber an, wie viel Gemeinden an Sozialausgaben zahlen sollen. Der Konflikt liegt darin, dass die Gemeinden die Sozialkosten – wie im Fall Hagenbuch – ungefragt zahlen müssen und in Einzelfällen unter der finanziellen Last ersticken. Früher, so die Kesb-Kritiker, hätten die Gemeinden selbst entschieden, welche sozialen Massnahmen notwendig seien, und deshalb seien die Kosten auch tief gehalten worden.
Das macht Sinn. Wenn die Gemeinde entscheidet, dann geht es oft in erster Linie darum, Kosten zu sparen.
«Die Devise heisst häufig: Es darf nichts passieren, aber es darf auch nichts kosten.»
Wie liefen die Entscheidungen der Vormundschaftsbehörde vor 2013? Ein Jurist, seine Sekretärin und einige Mitglieder des Gemeinderats entschieden, ob ein Kind, das häusliche Gewalt erlebte, aus der Familie genommen wurde. Man kennt sich in einer kleinen Gemeinde und weiss über schwierige Familien Bescheid. Die Personen entschieden häufig ohne fachliches Wissen, geleitet von subjektiven Eindrücken.
«Als die Vormundschaftsbehörde über die Gemeinden lief, gab es das Risiko, dass die Entscheide nicht primär nach fachlichen Kriterien getroffen wurden», sagt die SP-Nationalrätin Silvia Schenker. Sie arbeitet selbst bei der Kesb Basel-Stadt und kennt die Materie als praktizierende Sozialarbeiterin.
Die Vormundschaftsbehörde sollte professionalisiert werden, darüber «gab es im Parlament einen breiten Konsens», so Schenker. 2006 präsentierte der Bundesrat – damals unter der Ägide von Christoph Blocher – eine Revision zum Kindes- und Erwachsenenschutzrecht.
Nach Einführung der Kesb folgte rasch der erste Aufschrei: Die Behörde war völlig überlastet, zu bürokratisch und kostete zu viel. Im «Club» des Schweizer Fernsehens diskutierten betroffene Eltern über haarsträubende Fälle von Inobhutnahmen – der Fachbegriff für Kindesentzug. Die grundsätzliche Richtung zur Professionalisierung stimmte, aber auf dem Weg dorthin lief noch einiges schief.
Vor zwei Wochen flammte die Debatte mit ungekannter Empörung wieder auf. «Hilfe, die Helfer sind da» skandierte der «Blick», die Kesb treibe «Gemeinden in den Ruin», schrieb die «Basler Zeitung». Was ist daran, an dieser Kritik?
Ein Vergleich zwischen der Situation vor und nach der Kesb-Einführung ist schwierig. Die Verwaltungskosten der Sozialbehörde wurden früher anders verbucht als heute. Das heisst, man weiss nicht genau, wie teuer die Kesb ist – es gibt jedoch Anzeichen dafür, dass die Kesb mehr Kosten verursacht als das frühere Vormundschaftswesen.
Das ist keine Überraschung: Es ging darum, die Behörde zu professionalisieren – und Fachkräfte haben ihren Preis. «Die Devise heisst häufig: Es darf nichts passieren, aber es darf auch nichts kosten», bringt es Silvia Schenker auf den Punkt.
Was bringt ein Segeltörn?
Die Therapien für verhaltensauffällige Jugendliche dienen auch der gesellschaftlichen Sicherheit und schaffen sozialen Frieden. Es gibt Studien, die das belegen. Eine Untersuchung aus der Schweiz zeigt beispielsweise, dass die Folgekosten von psychisch Erkrankten massiv gesenkt werden, wenn frühzeitige Massnahmen getroffen werden.
Und trotzdem regen sich die Gemüter, wenn die hohen Kosten für extravagante Therapien genannt werden. Peter Sommerfeld von der Hochschule für Soziale Arbeit kennt dieses Problem.
«Die mediale Empörung untergräbt die Wertebasis einer demokratischen Gesellschaft und spielt insofern rechten Kräften in die Hände.»
Er sieht ein Defizit darin, dass die Soziale Arbeit so wenig Anerkennung in der Gesellschaft geniesst: «Der Berufsstand der Sozialarbeiter wird zu wenig erklärt. Es bräuchte klarere Darstellung und Begründungen, weshalb eine bestimmte Massnahme getroffen wird.»
Leichter gesagt als getan. Was bewirken denn Segelausflüge für schwererziehbare Jugendliche konkret? Sommerfeld hat darüber eine Dissertation geschrieben. Es sei schwierig, den Nutzen in wenigen Sätzen zu erklären. «Kurz gesagt geht es darum, junge Erwachsene oder Jugendliche mit massiven sozialen Schädigungen in ein geschlossenes soziales System zu bringen, in dem sie aufeinander angewiesen sind.» Dadurch würden Entwicklungen angestossen, die gewisse soziale Defizite beheben, sagt Sommerfeld.
Immer und immer wieder erklären
Der Jugendstraftäter «Carlos» zog vor genau einem Jahr das mediale Interesse auf sich. Im Zentrum der Berichterstattung stand damals ein Sondersetting für 29’000 Franken pro Monat, welches ein Jugendanwalt in Auftrag gab. So viel Ausgaben für einen Messerstecher? Die Bevölkerung konnte nicht nachvollziehen, weshalb dies nötig war. Die Zürcher Justizdirektoren setzten das Sondersetting ab – unter dem Druck der Öffentlichkeit.
Dann, Anfang dieses Jahres, folgt ein neues Gutachten im «Fall Carlos»: Das Sondersetting sei berechtigt gewesen. Mit etwas tieferen Kosten wurde «Carlos» in ein Setting nach Holland verfrachtet. Und in der Presse folgte die Erkenntnis: Vielleicht waren die teuren Massnahmen für «Carlos» gar nicht so verkehrt. Seitdem flaute der mediale Sturm ab.
Offenbar braucht es Erklärungen dafür, was sozialpädagogische Massnahmen nutzen – immer und immer wieder.
Die Debatte, wie sie zurzeit ablaufe, sei «ein Spiel mit dem Feuer», sagt Peter Sommerfeld. «Die mediale Empörung untergräbt die Wertebasis einer demokratischen Gesellschaft und spielt insofern rechten Kräften in die Hände.»
SVP mit Tatendrang, SP mit Abwehrmechanismen
Die SVP zeigt Tatendrang und fordert – inmitten der Empörungswelle über den «Sozial-Irsinn» – eine Sozialhilfe-Reform. Zufall? Der Fall Hagenbuch, Ausgangspunkt der Debatte, wurde von einer verzweifelten SVP-Gemeindepräsidentin angestossen.
Gegenüber der NZZ sagte SVP-Nationalrat Thomas Müller: «Am gegenwärtigen System verdient eine ganze Sozialindustrie gut, inklusive Rechtsanwälten. Auch die Fachhochschulen sind mitschuldig, welche für die Ausbildung der Sozialarbeiter zuständig sind.»
In der Aussage werden sämtliche Themenbereich als buntes Potpourri vermischt: Sozialhilfe, soziale Massnahmen, Soziale Arbeit. Das Thema wird von rechtskonservativer Seite intensiv bewirtschaftet. Und was sagen die anderen Parteien?
Die SP hat im Nationalrat Vorstösse eingereicht, die Transparenz fordern und mehr Erkenntnisse zur Kesb. Die Sozialhilfe wird vehement verteidigt, allerdings fehlen der SP die überzeugenden Argumente gegen den «Sozial-Irrsinn».
Was fehlt, sind handfeste Gründe, weshalb ein Segelausflug für schwererziehbare Jugendliche sinnvoll wäre. Denn: Was passiert, wenn der «Carlos von Schmerikon» nicht in eine Therapie-Massnahme versetzt wird? Dann ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass er später viel höhere Kosten verursacht: kein Job, Sozialhilfe oder gar Gefängniskosten.