Jetzt sieht auch die Linke das Wanderarbeiter-Elend

Die SP war bisher für die Personenfreizügigkeit mit der EU. Jetzt dämmert es den Genossen, dass sich hinter dem positiven Begriff viel Elend versteckt.

Zimmer in Zürich, 1961: Italienischer Saisonnier macht Pause. (Bild: keystone)

Die SP war bisher für die Personenfreizügigkeit mit der EU. Jetzt dämmert es den Genossen, dass sich hinter dem positiven Begriff viel Elend versteckt.

Die immer noch linke «WochenZeitung» (WoZ) war von den Aussagen der Zürcher SP-Nationalrätin Jacqueline Badran offenbar derart erschüttert, dass sie der linken Politikerin unterstellte, sie «vermische» wohl gewisse Dinge. Das Blatt meint: «Badran will die Analyse erzwingen.» Und vermerkt verständnislos: «Auch wenn dabei einiges unklar bleibt.»

Klare, linke Analyse

Dabei ist die Zürcher Politikerin, als «eine der wenigen linken Kritikerinnen der Personenfreizügigkeit» (WoZ) in ihrer Analyse glasklar: «Das System der vier Freiheiten – der Kapital-, der Personen-, der Waren- und der Dienstleistungsfreiheit – ist meines Erachtens eine neoliberale Fehlkonstruktion, in der die Gewinnerin immer das Kapital ist», hält Badran fest. Und: «Die Linke sieht die Personenfreizügigkeit gern als Konzept der freien Menschen in einer freien Welt.» Dabei seien «95 Prozent der Migration unfreiwillig». Denn: «Die europäische Bevölkerung wird zu mobilen Humankapitaleinheiten degradiert, die nach den Bedürfnissen der Konzerne herumgeschoben werden.»

Zum Beispiel nach Bern: Rumänische Hilfsarbeiter hausten da neulich in Luftschutzkellern unter der Post elendiglich und mussten für Hungerlöhne im Gebäude darüber Asbest sanieren. Bis die Ausbeuterei aufflog. Worauf ihre deutsche Firma sie gleich wieder aus Bern entfernte. Solcher Beispiele sind inzwischen viele. Und Badran stellt fest: «Was die Linke mit den flankierenden Massnahmen tut, ist nur eins: die Kollateralschäden eines ausbeuterischen Systems verwalten.» Sie fragt: «Was bringt es, wenn ein Arbeiter im Ausland ausgebeutet wird – und dann hierher kommt und noch immer ausgebeutet wird, einfach ein kleines bisschen weniger als dort, wo er herkommt?» Das sei «eine Fehlkonzeption des Systems».

System ist alt und gut erforscht

Dieses «System» ist nicht neu. Und es ist inzwischen gut erforscht. Es heisst «Wanderarbeiter-System». Und für Investoren und Fabrikanten ist es keine Fehlkonzeption, sondern ein durchaus profitables Konzept. In Südafrika war es zur Zeit der Apartheid ebenso präsent wie jetzt wieder in Israel. Aber auch in China trägt dieses System viel zum plötzlichen Reichtum einer kleinen Oberschicht bei. Auch im Wallis war es vor 100 Jahren wichtig.

Und überall basiert es auf zwei Wirtschaftskreisläufen: einem primären und einem sekundären. Der primäre Kreislauf ist meist ein Dorf – in Südostafrika, in China, in Palästina, in den Walliser Alpen oder neuerdings eben in Rumänien. Hier wachsen die Menschen auf, bis sie 16 und arbeitsfähig werden. Dann werden sie durch die ­Industrie oder das Gewerbe in teilweise weit entfernten Zentren «bewirtschaftet» – bei minimalem Aufwand für Infrastruktur (Schulen, Spitäler, Altersheime) im ­Tages- oder im Saisonrhythmus.

Für das Wallis rieten Zürcher Ökonomen etwa Ende des 19. Jahrhunderts zu Investitionen, weil dort nicht nur Wasser-, sondern auch Arbeitskraft entsprechend billig sei. Die Söhne der Bergbauern arbeiteten in der Lonza oder in der Alusuisse, bis sie alt und gebrechlich waren. Dann kehrten sie in den Primärkreislauf ihres Dorfes zurück, der durch Kinder, Frauen und Alte aufrechterhalten wurde.

Dieses menschenverachtende System hat die Linke durchs ganze 20. Jahrhundert hinweg stets kritisiert und auch bekämpft. In der Schweiz konkret mit ihrem Kampf für die Rechte der Saisonniers – aus Italien, Portugal und Jugoslawien. Arbeit sollten die Menschen dort finden, wo sie zu Hause sind und mit ihren Familien leben, forderte sie: nicht entwurzelt und entrechtet dort, wo es dem Kapital gerade nützt.

SP plant neues Migrationspapier

Warum vorab die SP dann plötzlich unter dem Titel «Personenfreizügigkeit» jeglicher «Migration aus wirtschaftlicher Not», wie es Badran ausdrückt, zujubelte und zustimmte, ist unklar. Die Ökonomin und SP-Politikerin meint: Da liege «ein blinder Fleck der Linken und Gewerkschaften». Es könnte aber auch einfach der Anti-SVP-Reflex sein: Weil die SVP die Personenfreizügigkeit kritisiert, ist die Linke dafür – und weil das Konzept von der EU kommt, erst recht.

Immerhin: SP-Chef Christian Levrat fordert jetzt neue Kontingente für Ausländer. Badran unterstützt ihn. Und das Thema «Migration» soll in einem neuen SP-Papier neu analysiert und an einem Parteitag breit diskutiert werden.

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 02.03.12

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