Neuer Präsident, neues Glück? In Argentinien glaubt die junge Generation kaum daran. Mehr Hoffnung schöpft sie aus dem Boden, auf dem sie lebt. Und aus der Lebensform jener Völker, die der Staat einst auszurotten versuchte.
Argentinien gibt es eigentlich gar nicht. Den Staat, der diesen Namen trägt, haben Europäer entworfen, vor etwas mehr als 200 Jahren. Man installierte diesen auf einem Kontinent, der vor Kolumbus‘ Ankunft noch nicht Amerika hiess, sondern in der Sprache der Kuna-Indianer Abya Yala – zu Deutsch: Erde in ihrer vollen Blüte.
Diese Blüte sollte im Laufe der Zeit nach und nach verwelken. Die Einwohner durchlebten stattdessen eine Epoche von Blei und Blut, wurden versklavt oder getötet, während sich Europa reichlich an den Ressourcen des Kontinents bediente. Argentinien, das steht nicht für seine Bevölkerung. Argentinien steht für die noch immer gültigen kolonialen Strukturen.
So überrascht es auch nicht, dass Argentiniens neuer Präsident, der kommenden Sonntag gewählt wird, aus der Oberschicht stammt. Die 32 Millionen Wahlberechtigten haben zu entscheiden zwischen Daniel Scioli, ehemaligem Rennbootfahrer und Geschäftsmann, und Mauricio Macri, Unternehmer und Jetsetter. Für Abya Yala steht keiner der beiden. Noch ist das zweitgrösste Land Lateinamerikas nicht so weit, einen Politiker zu wählen, der sich auf die präkolumbianische Zeit besinnt.
Lehm als Antwort
Doch in Lateinamerika ist in den vergangenen Jahren etwas in Bewegung geraten, auch am Rio de la Plata. Gerade junge Argentinier aus der urbanen Mittelschicht orientieren sich zunehmend an der Lebensweise der Urbevölkerung. Zu Tausenden fahren sie in den Sommerferien in Richtung Bolivien, Peru und Ecuador und suchen dort, was ihre Eltern und Grosseltern in Europa zurücklassen mussten: ihre Wurzeln. Sie wissen, dass diese auch in den Kulturen von Abya Yala zu finden sind. Sie spüren, dass irgendetwas im Gange ist, das mit der Vergangenheit aufzuräumen versucht.
«Im Gegensatz zu unseren Eltern will unsere Generation keine Kredite mehr. Wir wollen konstruieren.»
Sichtbarer Ausdruck dieses Umschwungs, dieser Entkolonialisierung des Denkens, sind die Lehmhäuser, die in Argentinien wie Pilze aus dem Boden schiessen. Häuser aus Erde also, wie sie auf Abya Yala schon immer gebaut wurden. In den Gemeinden kommen die Verantwortlichen kaum nach, die Bauordnungen umzuschreiben – und schon steht wieder ein Lehmhaus bezugsbereit. Architekten bieten Workshops zum Hausbau mit nachwachsenden Materialien an, Universitäten laden Bio-Konstrukteure für Vorträge ein, Fernsehstationen drehen Reportagen über die wiederentdeckte alte Form des Bauens, und selbst bei TED-Talks wurde über Lehm doziert.
Mit dem Lehmbau findet die junge Generation zurück zu alten Wurzeln. Und von dort aus lässt sich vielleicht ein neues, eigenes Argentinien entwerfen. (Bild: Ricardo Tamalet)
Ricardo Tamalet lebt seit drei Jahren in seinem selbstgebauten Lehmhaus. Er sagt: «Lehmbau ist so was wie die Antwort auf das, was allgemein als Krise bezeichnet wird.» Erst als er mit Lehm zu bauen begonnen habe, erzählt der 40-jährige Fotograf, habe er erkannt, wie weit er sich von der Natur entfernt habe und dass die Krisen – die des Landes ebenso wie seine eigenen – hausgemacht gewesen seien.
Insofern gehe es beim Baustoff Erde auch um viel mehr als bloss um Isolation, Feuchtigkeitsaustausch und Energieeffizienz. Es gehe um eine kulturelle Versöhnung, erklärt Tamalet. Darum, sich bewusst zu werden, dass man Europa jahrzehntelang etwas abgekauft habe, das mit einem selber und mit Abya Yala eigentlich nichts zu tun habe.
Tamalet will sich nicht über Politik, Wirtschaft oder Digitalisierung ärgern. Viel lieber versuche er, Dinge zu schaffen. Etwas Konkretes. Etwas, das bleibt. «Im Gegensatz zu unseren Eltern will unsere Generation keine Kredite mehr», sagt Tamalet. «Wir wollen konstruieren.»
Kitt der Gesellschaft
In Argentinien beginnt die Gesellschaft zu realisieren, was in den vergangenen 500 Jahren passiert ist. Man weiss von der Ausbeutung im Bergbau, von den Giften der Agrar- und der Verschmutzung durch die Erdölindustrie, von den Abhängigkeiten vom Finanzmarkt und der Unterdrückung der Indigenen. Und die jungen Argentinier wollen so nicht weitermachen.
Zu ihnen gehört auch der 27-jährige Musiker Bruno Crotti. Vor elf Jahren war er mit seiner Familie nach Spanien emigriert. Als er vor anderthalb Jahren auf einer Reise wieder in seiner alten Heimat war, entschied er zu bleiben – des Lehmbaus wegen. In Argentinien bestehe nicht nur ein Bedarf an Häusern, sagt er. Es bestehe auch das Bedürfnis, dass sich Menschen wieder zusammentun und etwas aufbauen. «Der Lehm ist das ideale Material, das diese beiden Bedürfnisse miteinander vereint.» Wenn er die Wahl habe zwischen Schönheit und Empörung, ziehe er Erstere vor. Die Wahl des Präsidenten hingegen ist für Crotti einerlei. «Weder kenne ich die Kandidaten, noch kennen sie mich.»
Und schon ist wieder eines so gut wie bezugsbereit: In Argentinien schiessen Lehmhäuser derzeit wie Pilze aus dem Boden. (Bild: Ricardo Tamalet)
Etwas pragmatischer sieht dies Germán Garcia. Er arbeitet als Biologe für ein staatliches Forschungsinstitut und wohnt wie Tamalet und Crotti in der Küstenstadt Mar del Plata. Für ihn könnte die Wahl unmittelbare Folgen haben – bis hin zum Jobverlust. Darüber, sagt der 36-Jährige, mache er sich allerdings keine ernsthaften Gedanken. «Ich habe das nötige Rüstzeug, um mich anderweitig durchzubringen.» Weitaus mehr sorgt er sich um die politische Instabilität in Argentinien, dass die Gesellschaft auseinander brechen könnte. Gewiss habe Cristina Kirchner, die abtretende Präsidentin, Fehler gemacht, sagt er. Aber immerhin habe sie Tausende neue Stellen geschaffen und Menschen aus der Armut geholfen.
Vor Kurzem ist Garcia Vater geworden. Mit seiner Familie lebt er ausserhalb der Stadt, auch er in einem selbstgebauten Lehmhaus. Dieses steht direkt neben einem Gemüsegarten, den er ebenfalls selbst angelegt hat. Das Vertrauen in Staat und Wirtschaft habe er längst verloren, die Stelle am Forschungsinstitut sei lediglich Mittel zum Zweck. «Ich vertraue auf meine Familie und auf meine Fähigkeit, wenigstens uns selbst versorgen zu können, sollte das Chaos ausbrechen.» Doch Garcia denkt nicht nur an sich alleine. Seit einiger Zeit überlegt er sich, für die Nachbarschaft eine kleine Gemüseproduktion aufzubauen. «Denn genauso wichtig wie ein Dach über dem Kopf ist eine Nahrungsmittelproduktion ohne Pestizide», sagt er.
Eigentlich gibt es kein Argentinien. Es gibt nur jene, die es bewohnen und sich von den Krisen des Landes nicht wahnsinnig machen lassen. Oder wie es Ricardo Tamalet mit Gandhi sagt: «Wir müssen die Änderung sein, die wir in der Welt sehen wollen.»
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Der Autor dieses Artikels lebt seit 2009 in Argentinien und arbeitet selber im Lehmbau.