Zwanzig Jahre nach Beginn des Bürgerkriegs in Bosnien-Herzegowina bannt Angelina Jolie in ihrem Regiedebüt «In the land of blood and honey» kriegsversehrte Bosnierinnen auf die Leinwand – und zeichnet ein falsches Bild des Landes. Bosniens junge Frauen rütteln an alten Männerdomänen.
Das türkische Wort für Honig ist «Bal», und «Kan» bedeutet Blut. Wo Blut und Honig fliessen, da liege der Balkan, sagt der Volksmund. Auch Hollywood-Diva Angelina Jolie hat sich von diesem Wortspiel inspirieren lassen. Ihr Regiedebüt über den Bosnienkrieg, das im Februar dieses Jahres in Berlin Europapremiere feierte, trägt den Titel «In the land of blood and honey». Ob der Film über die Liebe zwischen der Muslima Ajla, Gefangene in einem Vergewaltigungslager, und ihrem serbischen Gefängnisaufseher Danijel ein gelungenes Mahnmal gegen Krieg und ethnischen Hass ist oder lediglich ein von Gewalt strotzender Streifen, darüber ist sich die westliche Filmkritik uneins.
Einig sind sich dagegen die Frauen, die wir an diesen kalten Frühlingstagen in Bosnien-Herzegowina zum Gespräch treffen. «Angelina Jolie will lediglich schockieren und nimmt dafür in Kauf, die bosnische Frau auf die Opferrolle zu reduzieren», sagt die 29-jährige Amna Mulabegovic-Mosbah, Inhaberin eines Reisebüros in Sarajevo. Und auch die Unternehmensberaterin Boba Lizdek (45) schüttelt den Kopf: «Dieses Bild der leidenden Bosnierin, das Jolie auf die Kinoleinwand projiziert, ist überholt.»
Junge Frauen fordern Mitsprache
Doch wo stehen die bosnischen Frauen heute, zwanzig Jahre nach Kriegsbeginn? Sind sie Opfer, wie Jolies Film suggerieren will? Oder sind sie gleichberechtigte Mitgestalterinnen in diesem komplexen Land am südöstlichen Rand Europas?
Im Gespräch mit der Soziologiestudentin Berina Dzemailovic wird schnell klar, dass sich diese Fragen nicht einfach beantworten lassen. Die 23-Jährige mit den Piercings in Oberlippe und Nase und der frechen Ponyfrisur wirkt ganz und gar nicht wie eine Vertreterin des «schwachen» Geschlechts. «Ich bin Feministin und arbeite aktiv daran, diese von Männern dominierte Gesellschaft zu verändern», sagt sie lachend. Gemeinsam mit Gleichgesinnten des Projektes Cure (bosnisch für «Mädchen») klärt sie in Workshops Frauen über ihre Rechte auf, lehrt sie den Unterschied zwischen biologischem und sozialem Geschlecht und ermutigt sie, sich für Frauenanliegen einzusetzen.
Bosnien-Herzegowina hat zwar bereits im Jahre 2003 das Gesetz zur Geschlechtergleichstellung verabschiedet und drei Jahre später auch die Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau ratifiziert, doch Papier ist bekanntlich geduldig.
«Frauen», so Berina, «werden in diesem Land nach wie vor fast gänzlich aus den Macht- und Entscheidungszentren ausgeschlossen. Die Menschen hier sind es einfach noch nicht gewohnt, Frauen in Führungspositionen zu sehen.» Aber nicht nur in den Chefetagen der Wirtschaft und der Politik sind Frauen untervertreten. Die weibliche Erwerbsquote liegt in Bosnien-Herzegowina mit 43 Prozent sogar unter dem globalen Durchschnitt.
«Die Geringschätzung der Frauen in diesem Land macht mich so wütend», schimpft Berina und fährt nach einem Schluck starken bosnischen Kaffees ruhig weiter: «Meine Vision ist eine Gesellschaft, in welcher Frauen nicht nur schön sind und Kinder zur Welt bringen, sondern aktiv und gleichberechtigt an der Zukunft dieses Landes mitarbeiten. Dafür kämpfe ich.»
Zwanzig Jahre nach Beginn des blutigen Bürgerkrieges ist Bosnien-Herzegowina noch immer ein tief gespaltenes Land – entlang den ethnischen und religiösen Konfliktlinien. In der südlichen Stadt Mostar, die der Fluss Neretva in zwei Hälften teilt, sieht man die Zerrissenheit des Landes besonders gut.
An einem Flussufer ruft der Muezzin seine Gläubigen in die Moschee, auf der anderen Seite laden Kirchenglocken Katholiken zur Messe ein. Viele junge Einwohnerinnen und Einwohner Mostars, die die ethnischen Hassbilder ihrer Eltern unreflektiert übernehmen, haben Zeit ihres Lebens noch keinen Fuss über den Fluss gesetzt. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit von 50 bis 75 Prozent und die damit einhergehende Perspektivlosigkeit und Armut tun ihr Übriges, um die Wut auf «die anderen» anzuheizen.
Tiefe ideologische Gräben
Genau an diesem Punkt setzt die 18-jährige Studentin Dalila Odobasic aus der westbosnischen Stadt Bihac an. Als Mitglied der Führungsriege des landesweiten Schulsprecher-Netzwerkes ist es ihr wichtigstes Anliegen, die ideologischen Gräben zuzuschütten. «Wir vernetzen junge Menschen über religiöse, ethnische und nationale Grenzen hinweg und arbeiten gemeinsam für ein besseres Bosnien-Herzegowina. Wir müssen endlich lernen, friedlich zusammenzuleben und die Grenzen in unseren Köpfen abzubauen.»
Wenn Dalila von «wir» spricht, dann meint sie vor allem ihre eigene Generation. Zwischen 1996 und 2006 haben mehr als 100 000 junge Bosnier resigniert ihr Heimatland verlassen, um ihr Glück in der Fremde zu suchen. Dalila hat nicht vor, es ihnen gleichzutun: «Es ist einfach, in anderen Ländern Erfolg zu haben, doch viel schöner ist es, die Zukunft des eigenen Landes positiv zu verändern.»
Auch die 28-jährige Dijana Muminovic plant ihre Zukunft in Bosnien-Herzegowina – das war nicht immer so. 1997, zwei Jahre nach Kriegsende, liess sie mit ihrer Familie das kriegsversehrte Land hinter sich und zog in die USA. Als sie in der neuen Heimat auf bosnische Flüchtlingsfrauen traf, holte der Krieg sie wieder ein. Viele ihrer Gesprächspartnerinnen wussten und wissen noch immer nicht, wo in den Kriegswirren die Leichen ihrer Angehörigen verscharrt wurden und fühlen sich um einen würdigen Abschied betrogen.
Kriegsgreuel wirken nach
Mit diesen beklemmenden Geschichten im Kopf und ihrem Diplom als Fotojournalistin in der Tasche kehrte Dijana vor zwei Jahren nach Bosnien-Herzegowina zurück. Sie war dabei, als am ausgetrockneten Perucac-See im Osten des Landes das bis heute grösste Massengrab geöffnet wurde. Sie bannte auf Fotopapier, wie Menschen mit blossen Händen den Schlamm umgruben in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis auf den Verbleib ihrer Liebsten zu finden.
«Ich will, dass meine Generation versteht, was in den Jahren zwischen 1992 und 1995 passiert ist», sagt Dijana Muminovic. «Ich will, dass sich junge Frauen und Männer hinstellen und sagen: Solche Dinge müssen aufhören, wir wollen nicht mehr leiden.» Heute lebt Dijana in der zentralbosnischen Stadt Zenica, die durch die höchste Arbeitslosenquote des Landes traurige Berühmtheit erreichte.
Die lebensfrohe Fotografin mit den düsteren Bildern spielt mit dem Gedanken, in die USA zurückzukehren, sich im Bereich Fotojournalismus weiterzubilden, um dann in Bosnien-Herzegowina jungen Leuten die Fotografie näherzubringen und ihnen neue Perspektiven zu bieten. «Ich will etwas verändern in diesem Land. Viele hier halten mich für naiv. Vielleicht haben sie recht. Doch ich bin lieber naiv als resigniert.»
Was für ein Eindruck bleibt nach unserer Spurensuche in Bosnien? Zwanzig Jahre nach Kriegsbeginn herrschen noch viele kulturelle Schranken, die die Frauen in der Entfaltung ihres Potenzials behindern. Und dennoch haben die heutigen Bosnierinnen nichts mit den wehrlosen Opfern gemein, die Angelina Jolie dem Kinopublikum vorführt.
Im Gegenteil: Frauen wie Berina, Dalila und Dijana – und mit ihnen viele andere mehr – haben verstanden, dass sie sich in der Gesellschaft hörbar machen müssen. Sie sind sich bewusst, dass Serbinnen, Kroatinnen und Muslimas miteinander stärker sind als gegeneinander. Und viele junge Frauen engagieren sich für die Zukunft ihres noch immer vom Krieg gezeichneten Landes – eine filmreife Leistung.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 06.04.12