Vom Zwangsabstieg ins Finale der Champions League: Juventus Turin hat einen weiten Weg hinter sich.
Und Súarez? Komm schon, Giorgio, was ist mit Suárez, wie gehst du das an? Da grinste Giorgio Chiellini, ein Baum von einem Mann, hart auf dem Platz, sanft daneben: «Ganz entspannt». Mit Schulterpolstern vielleicht? Haha, Gelächter. «Ich werde ihm begegnen wie einem grossen Stürmer», schloss Chiellini die lustige Runde. «Ich glaube, auch von ihm aus wird da nichts sein als der Wunsch, das Finale zu gewinnen.»
Der Fussball kann ja wirklich kurios sein. Da wird zum Ende dieser Saison im Berliner Champions-League-Endspiel also noch mal der grösste Aufreger der letzten Saison zurückgeholt: der WM-Biss des Uruguayers vom FC Barcelona gegen den Italiener von Juventus Turin.
Für Chiellini, 30, war die Erinnerung an Natal aber nur ein unbedeutendes Detail an diesem Abend, an dem seine Elf den Titelverteidiger Real Madrid mit einer so klugen wie – angesichts von Temperaturen bei 37 Grad – kühlst möglichen Vorstellung aus der Champions League eliminierte. Einem Veteranen wie ihm fallen beim Thema Vergangenheit schliesslich noch ganz andere Orte ein als Natal in den Tropen Brasiliens. Orte wie Crotone an der Stiefelsohle Italiens.
Stoff für einen Filmepos
«Von Crotone nach Berlin», erklärte der Verteidiger nun also feierlich. «Von Crotone nach Berlin» – so könnte der Titel eines Filmepos lauten, eines märchenhaften Bogens von Fall und Wiederaufstieg, und damit wäre das letzte Jahrzehnt der Juventus auch treffend beschrieben. Im Sommer 2006 gewann Italien in Berlin die Fussball-Weltmeisterschaft.
Im selben Sommer wurde Juventus Turin wegen des italienischen Manipulationsskandals in die zweite Liga zwangsversetzt. Crotone, Rimini, Frosinone: Torwart Gigi Buffon war überall mit dabei, für Chiellini kam Berlin noch zu früh, aber die Provinz hat er mitgemacht. Er hat dort quasi begonnen. «Unglaublich» findet er es, «dass die alte Juve jetzt nach Berlin fährt».
Ein grosser Klub ist zurück. Schon seit einigen Jahren dominiert der Rekordmeister die italienische Liga wieder eisern, aber auf dem Kontinent ging es nicht so recht vorwärts, wie in den letzten Jahren für den gesamten Calcio ja nicht soviel ging im Europapokal.
Im Sommer schmiss dann auch noch Meistermacher Antonio Conte hin, am zweiten Trainingstag. Er hatte die Spieler nicht bekommen, die er wollte, und dafür einen jungen schmächtigen Spanier von Real Madrid namens Álvaro Morata, mit dem er nichts anzufangen wusste. Der leidenschaftliche Conte wechselte zur Nationalelf, für ihn kam der blasse Massimiliano Allgeri, dessen wesentliche Referenz darin bestand, den Verfall des AC Milan zumindest ein paar Jahre aufgehalten zu haben.
Unsicherheit nach dem Trainer-Abgang
Der im selben Sommer verpflichtete Verteidiger Patrice Evra gestand in den Katakomben des Estadio Santiago Bernabéu, er habe Angst gehabt zu Saisonbeginn. Nicht vor Suárez, der ihn mal rassistisch beleidigt haben soll, als beide noch in England spielten («Ich bin glücklich über meine Hautfarbe und strecke ihm die Hand aus», sagte Evra nun). Nein, der Franzose wusste aus der letzten Saison bei seinem Ex-Klub Manchester United nach dem Abgang von Alex Ferguson, wie schmerzhaft der Verlust einer Überfigur sein kann.
Aber dann habe er mit den erfahrenen Spielern geredet, den «Senatoren», wie man in Italien sagt. Buffon, Andrea Pirlo, Chiellini, auch Andrea Barzagli, Leonardo Bonucci, Claudio Marchisio. Der Senat ist gut besetzt bei der Juve. «Sie sagten: ‹Es war nicht nur der Trainer. Es waren die Spieler›.»
Mannschaften auf einer Mission sind besonders gefährlich. So wie der FC Barcelona in dem Halbfinale gegen Bayern München seinem Ex-Trainer Pep Guardiola etwas zu beweisen hatte, so spielt Juventus in dieser Saison auch gegen die Erinnerung an Conte. Man spricht in Turin nicht mehr so gut über den Coach, der sich aus seiner Verbandsposition plötzlich mit dem Ex-Klub anlegt. So etwas ist nicht «stilo Juve», die legendäre Diskretion des italienischen Vorzeigeklubs.
Die Spieler machen sowieso wenig Hehl aus ihrem Faible für Allegri. «Es hilft, in der Kabine kein Geschrei mehr zu hören», lästerte Marchisio. Unter dem Schleifer Conte war Juventus im Frühling immer ausgebrannt, wenn es im Europapokal ernst wurde. Unter Conte fehlte auch immer ein Vollstrecker für die entscheidenden Tore in engen Matches. Juves Tor zum Weiterkommen in Madrid schoss, na klar, Álvaro Morata.
Der Spanier besiegelte damit womöglich auch das Schicksal von Real-Trainer Carlo Ancelotti, der ihm letztes Jahr kaum Spielpraxis gab, und befeuert in Madrid mal wieder die Debatte, wie fahrlässig der Klub mit den eigenen Talenten umgeht. Morata, bereits beim 2:1 im Hinspiel erfolgreich, war die Heldenrolle sichtlich unangenehm, er bejubelte das Tor nicht und sprach hinterher von einer «emotional schwierigen Situation: gegen den Klub, der mich wachsen sehen hat und mich zum Profi machte».
Die Juve hat gefehlt
An der Richtigkeit seines Wechsels aber hat er nie gezweifelt, er ist reifer geworden in Turin. Robuster. Er spielt so schnörkellos und effizient wie die ganze Mannschaft, die nach alter Klubtradition auf ein Gerüst von Italienern setzt und es mit Weltklasse-Legionären verfeinert: Carlos Tévez im Sturm, der bissige Arturo Vidal und der phänomenal veranlagte Paul Pogba im Mittelfeld, dem Herzstück der Elf. Oder die soliden Aussenverteidiger Evra und Stephan Lichtsteiner, dem ersten Schweizer Stammspieler in einem Champions-League-Finale seit Stéphane Chapuisat 1997.
Die Juve ist zurück, und mit ihr der Calcio, der diese Saison drei von acht Europacup-Halbfinalisten stellte. Allein ästhetisch hat er gefehlt: das kunstvolle Leiden auf dem Platz und die perfekten Manieren daneben, die elegante Vereinsgarderobe und ein Trainer, der erstmal höflich «buona sera a tutti» wünscht, wenn er zur Pressekonferenz kommt.
«Max» Allegri mag nicht der spannendste Typ sein, aber er ist ein hervorragender Fachmann. «Wir wollten Real in Schwierigkeiten bringen durch die Charakteristik unserer Mittelfeldspieler», erklärte er, und genau so ist es auch gekommen. Als den furiosen Hausherren die Puste ausging, als Pirlo zum Kopf des Spiels wurde, Pogba zum Herz und Vidal zur Lunge – da hätte die Juve sogar gewinnen können, wäre sie nicht ihrem alten Reflex der Ergebnissicherung erlegen.
Gereicht hat es trotzdem für die Finalissima gegen Favorit Barcelona. «Besser in nur einem Spiel als in zwei», befand Allegri, der mit Milan schon achtmal gegen die Katalanen spielte, dabei nur viermal verlor und sein Team in der Regel besser aussehen liess, als es der individuelle Qualitätsunterschied nahegelegt hätte. «Wir gelten nicht als Titelkandidaten und sorgen dann für Überraschungen, das ist unser Weg», sagte sein Spieler Tévez. Es ist die alte Aussenseiterrolle, die italienische Mannschaften so lieben. Wie im Halbfinale gegen Madrid. Wie damals, 2006 in Berlin.