Polen wird von einer sonderbaren Person regiert. Jaroslaw Kaczynski ist zwar nicht mehr selber Regierungschef, er hat aber als Chef der Mehrheitspartei «Recht und Gerechtigkeit» (PiS) alle Fäden in der Hand und erklärt via Staatsfernsehen, wo es lang geht.
Von ihm, dem strenggläubigen katholischen Konservativen, gibt es ein so aufschlussreiches wie schreckliches Diktum aus dem Jahr 1997, das den ungestümen Drang zur Machtübernahme in einer vulgären Formulierung zum Ausdruck bringt: Man sei nach langem Schlangestehen jetzt an der Reihe, die Hure flachzulegen («Teraz, kurwa, my.»).
Der polnische Staat eine Hure?
Gemäss Staatsordnung hätte Kaczynski zwei Machtinhaber über sich: die Regierungschefin Beata Szydlo und den Staatspräsidenten Andrzej Duda. Beide sind aber Kaczynski-Kreaturen. Letzterer schien im jüngsten Konflikt plötzlich Statur gewonnen zu haben, als er die vom Parlament beschlossene Aufhebung der Gewaltentrennung mit seinem Veto blockierte. Derselbe Mann hatte aber zuvor in indirektem Auftrag Kaczynskis die Ernennung von Gerichtspersonen aus der liberalen Ära verhindert und jetzt nur darum nicht mitgespielt, weil er von Kaczynski gedemütigt worden war. Darum konnte man nun plötzlich von ihm hören: Man werde die vor fast drei Jahrzehnten errungenen Freiheiten nicht aufgeben und keinen Staat zulassen, der die Verfassung missachte und vor dem die Bürger Angst haben müssten.
Die Regierung beisst die Hand, die sie füttert
Obwohl Einzelfiguren hohen Einfluss haben, sollten wir die Verhältnisse nicht zu stark personalisieren. Die rechtsnationale Regierung hat mit ihrem Populismus auch darum Erfolg, weil sie, etwa mit der Senkung des Rentenalters oder der Erhöhung des Kindergeldes, ein deutlich höheres sozialpolitisches Engagement als die liberal-konservative Vorgängerregierung an den Tag legt und vom Versagen der neoliberalen Gegenseite profitiert. Hinzu kommt der klassische Stadt-Land-Gegensatz (wie er ja auch die Abstimmungen in Grossbritannien und der Türkei geprägt hat) sowie das Ost-West-Gefälle (wie zum Beispiel auch in der Ukraine).
Man kann besser «dagegen» sein, wenn man «dabei» ist.
Im November 2015 distanzierte sich Polens neue Premierministerin Szydlo demonstrativ von einer Tradition ihrer Vorgänger: Sie liess an den wöchentlichen Regierungspressekonferenzen die neben den drei polnischen Fahnen aufgestellten drei blauen EU-Fahnen beseitigen und erklärte, dass die rot-weisse Fahne ihres Landes doch viel schöner sei. Das Symbol beseitigte sie, aber aus der Union austreten möchte sie aus mindestens zwei Gründen nicht. Erstens kann man besser «dagegen» sein, wenn man «dabei» ist.
Und zweitens?
Polen profitiert enorm von der EU-Mitgliedschaft. Schwerlich quantifizierbar zum Beispiel wegen der Personenfreizügigkeit. Leichter quantifizierbar im Finanziellen: Das Land konnte und kann aus der EU-Haushaltskasse Jahr für Jahr Milliarden Euro beziehen.
Hemmungslose Widersprüchlichkeit
Gelinde gesagt, ist es erstaunlich, wie beliebig und einseitig die aktuelle Regierung das Verhältnis zur EU, das heisst die Frage von Geben und Nehmen, auffasst. Hemmungslose Widersprüchlichkeiten gehören zu den Wesenszügen autokratischer Herrscher. Das zeigt sich auch darin, dass die Regierung Russland als grosse Bedrohung sieht, zugleich aber so tut, als ob die EU ihr grösster Feind sei.
Sie meint, die wiederholten und dringlicher werdenden Mahnungen der EU-Kommission – immerhin die Hüterin der EU-Verträge – in Sachen Pressefreiheit und Gewaltenteilung ignorieren zu können und auch den neuesten Entscheid des Europäischen Gerichtshofs zur Verpflichtung in der Aufnahme von Flüchtlingen nicht ernst nehmen zu müssen.
In Brüssel denkt man deshalb inzwischen laut darüber nach, Artikel 7 des EU-Vertrags von Lissabon auszulösen und Polen das Stimmrecht im Rat der Mitgliedstaaten wegzunehmen. Man nennt das die «nukleare Option» und räumt damit ein, dass dies ein Mittel ist, das eigentlich nicht eingesetzt werden kann. Dies auch aus formellen Gründen, weil dazu Einstimmigkeit erforderlich wäre und die mit der PiS sympathisierenden Regierungen in Ungarn und der Slowakei eine scharfe Reaktion gegen die polnische Regierung verhindern würden. Eher möglich ist ein Drehen am Subventionshahn.
Wenn sie nicht auf Einhaltung der demokratischen Standards pocht, ermuntert die EU Nachahmungstäter.
Zunächst müssen uns vor allem die freiheitlich und liberal gesinnten Polinnen und Polen leid tun, die unter diesem nationalistischen und zum Totalitarismus neigenden Regime leben müssen. Ausserhalb Polens steht man in der EU vor der Frage, wie auf den dramatischen Abbau des Rechtsstaates reagiert werden soll. Wäre die Union nicht verpflichtet, der polnischen Opposition, wie zu Recht erwartet wird, wenigstens minimalen Schutz zukommen zu lassen?
Die EU verliert an Glaubwürdigkeit und ermuntert Nachahmungstäter (etwa in Ungarn und in der Slowakei), wenn sie nicht auf Einhaltung der demokratischen Standards pocht. Andererseits kann dieses Pochen den polnischen Nationalisten gerade die Bestätigung für die Behauptung liefern, dass Polen von aussen bedroht und die PiS die Kraft sei, die das Land vor dieser Bedrohung schütze.
Die Krux mit der Demokratie
Die EU kann nicht zulassen, dass ein Mitglied hinter die politischen Aufnahmekriterien für Neumitglieder zurückfällt. Sie muss für die Einhaltung der demokratischen Minimalstandards eintreten, muss die Wertegemeinschaft verteidigen und kann auch praktisch nicht zulassen, dass ein undemokratisches Land an Entscheidungen beteiligt ist, die alle anderen Mitglieder betreffen. Das Problem besteht aber darin, dass die undemokratisch agierende Regierung demokratisch gewählt worden ist. Hier kann man – wieder einmal – Ernst Wolfgang Böckenförde zitieren: «Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.»
Die übernationalen Konsequenzen nationalen Regierungsverhaltens kann man auch an der Urwaldfrage ablesen. In Polen, das heisst im Wald von Bialowieza, liegt ein Schutzgebiet mit Europas grössten Bäumen von 50 Metern Höhe, mit 20’000 verschiedenen Tierarten, darunter 250 Vogelvarianten und Europas grösstem Säugetier, dem Wisent. Unter dem Vorwand, den Borkenkäfer bekämpfen und Waldbrände vorbeugen zu müssen, lässt die Regierung jetzt mit der für sie typischen Rücksichtslosigkeit Tausende von Kubikmetern Holz schlagen. Der Wald eine Hure, der man sich bemächtigen will?
Die EU geht nachvollziehbar davon aus, dass Regierungen mit Menschen, Natur, Kultur nicht beliebig umgehen können.
Die innenpolitische Opposition, die es ja durchaus gibt, rief die EU-Kommission um Hilfe an. Diese gelangte an den Europäischen Gerichtshof und erreichte einen einstweiligen Abholzungsstopp. Man kann sich fragen, was die EU dieser Wald angeht. Diese Frage liesse sich an vielen anderen Orten ebenfalls stellen. Die EU geht nachvollziehbar davon aus, dass Regierungen in ihren «nationalen Reservaten» mit Menschen, Natur, Kultur nicht beliebig umgehen können.
Die EU ist allerdings entschieden mehr auf Demokratieschutz denn auf punktuellen Naturschutz angewiesen. In Polen kommt auch die Versammlungs- beziehungsweise Veranstaltungsfreiheit unter Druck. Das grösste Open-Air-Festival, sozusagen das polnische «Woodstock», in Kostrzyn ist der nationalkonservativen PiS suspekt und wird darum wegen angeblicher Sicherheitsversäumnisse mit staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen eingedeckt. Im Gegenzug spielen die Veranstalter mit dem Gedanken, das Festival künftig als religiöse Veranstaltung anzumelden, um weniger strengen Regeln ausgesetzt zu sein.
Noch ist Polen nicht verloren
Vertrauensschutz ist oder wäre ein weiteres Desiderat. Mit der billigen Absicht, die mit Präsident Dudas Veto zur Justizreform eingefangene Schlappe auszugleichen, hat das aktuelle Regime eine neue Aktion ausgeheckt und fordert nun mit Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und gegen frühere Vereinbarungen von Deutschland zusätzliche Reparationszahlungen. Der so weiter angeheizte Nationalismus ist ihr den damit verbundenen Preis wert. Dieser besteht darin, dass, wie die polnische Bischofskonferenz mahnt, das historisch gewachsene Vertrauensverhältnis zwischen Polen und Deutschland beschädigt wird.
Das Motto der Nationalhymne ist vieldeutig und kann heute von beiden grossen Lagern angerufen werden.
Die bekannte Redewendung, wonach Polen «noch nicht verloren» sei, geht auf das Jahr 1797 zurück und bildet den Auftakt zur polnischen Nationalhymne. Im 19. Jahrhundert war sie Motto der wiederholten Aufstände und im 20. Jahrhundert in den beiden Weltkriegen. Sie entspringt, wie viele Nationalhymnen, einer kriegerischen Haltung. Weiter heisst es nämlich: «Was uns fremde Übermacht nahm, werden wir uns mit dem Säbel zurückholen.»
Das Motto ist vieldeutig, es kann von beiden grossen Lagern angerufen werden, in die das heutige Polen aufgeteilt ist. Die regierende nationalkonservative PiS, die in beiden Kammern über die Mehrheit verfügt und im Begriffe steht, die Gewaltenteilung aufzuheben und andere demokratische Grundbedingungen abzuschaffen, kann erneut (wenn auch ohne Säbel) im Namen nationaler Freiheit gegen «fremde Übermacht» ankämpfen wollen.
Die demokratisch-freiheitliche Opposition, die sich Schutz von aussen, von der EU, erhofft, kann sich mit der Betonung des anderen Teils des Slogans, dass noch nicht alles verloren sei, nötigen Mut machen. Die nötige Veränderung kann aber nicht von aussen, sie muss von innen kommen.
Das Erbe der Sowjetzeit
Die Hauptfrage lautet, wie ausgerechnet das für seine Freiheitsliebe und seine Sehnsucht nach Demokratie bekannte Polen erneut einer Einparteienherrschaft anheimfallen konnte. Polen war das Land der von Lech Walesa angeführten Solidarnosc-Opposition gegen die totalitäre Kommunistenherrschaft. Es war das weltoffene und westliche Land, das mit dem katholischen Oppositionspolitiker Tadeusz Mazowiecki den ersten gewählten nichtkommunistischen Regierungschef Osteuropas seit 1948 stellte.
Und jetzt ist es ein Land, in dem Fremdenfeindlichkeit vorherrscht, die biederste Moral der katholischen Kirche regiert und die öffentlich-rechtlichen Fernsehkanäle und Radiosender üble Propaganda und Verschwörungstheorien senden.
Eine ähnlich paradoxe Situation zeigt sich in Ungarn, im Land, das noch vor der Wende im Juni 1989 zusammen mit Österreich die symbolische Beseitigung der Stacheldrahtgrenze inszenierte, mit der Transitfreizügigkeit für DDR-Urlauber den Zusammenbruch des ostdeutschen Regimes beschleunigte und schon im November 1990 als erster ehemaliger «Oststaat» in den Europarat aufgenommen wurde. Und jetzt muss es noch wegen Verletzungen von Grundprinzipien eben dieses Europarats verwarnt werden.
Die Nachwirkungen der Sowjetzeit scheinen gross zu sein – und noch eine Weile anzudauern.