Rund 60’000 Flüchtlinge aus Kobane leben derzeit in der türkischen Grenzstadt Suruç. Ihre Versorgung überlässt der türkische Staat weitgehend Privaten. Die Basler Politiker Edibe Gölgeli und Attila Toptas waren vor Weihnachten in der Krisenregion, um die Hilfe aus Basel vor Ort zu koordinieren. Wir haben sie begleitet.
Wie ein böses Omen liegt ein aufgeblähter toter Esel am Rand der Schnellstrasse von Diyarbakir nach Suruç, eine mittelgrosse Stadt an der türkisch-syrischen Grenze. Direkt gegenüber liegt die immer noch umkämpfte und mittlerweile praktisch völlig zerstörte Stadt Kobane.
Ansonsten deutet nichts darauf hin, dass man in diesem abgelegenen Teil der Türkei von bewaffneten Konflikten geradezu umzingelt ist und nur wenige Kilometer weiter südlich das nackte Chaos herrscht.
Flüchtlingszelte, dahinter die Panzer
In schöner Regelmässigkeit sorgen Tankstellen für Benzin und Erfrischungen, immer wieder tauchen Läden und Verkaufsstände auf. Die Menschen in den Dörfern und Weilern am Weg wirken zufrieden und fröhlich.
Doch mit der Zeit häufen sich die Militärfahrzeuge. An der Ausfahrt Richtung Suruç/Kobane sehen wir die ersten improvisierten Flüchtlingszelte aus Plastikplanen, vor denen Kinder im Schlamm spielen. Und spätestens bei der ersten Kontrolle durch schwarz gekleidete Soldaten mit vorgehaltenen M16-Sturmgewehren und schweren Schützenpanzern im Hintergrund wird klar, wir nähern uns dem Ziel: dem umkämpften Kobane und der vor Flüchtlingen aus allen Nähten platzenden Stadt Suruç.
Suruç wirkt wie belagert. (Bild: Fatos Koyuncuer)
Wir, das sind die Basler SP-Bürgergemeinderätin Edibe Gölgeli, SP-Grossrat Attila Toptas und ich. Wir sind auf dem Weg, um uns ein Bild von der Situation vor Ort zu verschaffen. Gölgeli und Toptas wollen die Beschaffung und Lieferung von Hilfsgütern und insbesondere 100 winterfesten Wohncontainern mit den örtlichen kurdischen Behörden koordinieren. In Suruç wollen wir zudem verschiedene andere Helfer aus der Region Basel treffen und mit Lokalpolitikern, Flüchtlingen, Einheimischen und freiwilligen Helfern reden.
Mehr Flüchtlinge als Einwohner
Suruç wirkt doppelt belagert. Von der Grenze hört man Geschützdonner und Maschinengewehrfeuer. In der Stadt stehen an jeder Ecke Panzerfahrzeuge und bewaffnete Truppen der türkischen Armee und der Staatspolizei. Diese werden von der Bevölkerung wie auch von den freiwilligen Helfern, Journalisten und kurdischen Kämpferinnen und Kämpfern als Hindernis, ja Bedrohung wahrgenommen.
Zuhal Ekmez, Co-Gemeindepräsidentin von Suruç,
Auch die – rein kurdische – Stadtverwaltung steht dem türkischen Militär feindselig gegenüber. Die 36-jährige Co-Gemeindepräsidentin Zuhal Ekmez von der legalen parlamentarischen Kurdenvertretung HDP fühlt sich wie in einer besetzten Stadt. Vom türkischen Pass abgesehen verbindet sie nur wenig mit der Zentralregierung. Im warmen Kapuzenpulli und Jeans sitzt sie auf dem Kunstledersofa in ihrem Büro. «Wir haben gewaltige logistische Probleme zu lösen», sagt Ekmez. Sie wirkt abgekämpft, aber entschlossen und stolz auf ihre Gemeinde. «Eigentlich hat Suruç 56’000 Einwohner. In den drei Monaten, in denen jetzt gekämpft wird, sind allein in unserer Stadt ungefähr 60’000 Flüchtlinge angekommen.»
Gestandene Guerilla-Kämpfer, Parlamentarier und Würdenträger aller Art begegnen der jugendlich, aber etwas zerstreut und stets todmüde wirkenden Frau aus Istanbul gleichermassen mit Respekt und Zuneigung. Sie selbst ist Türkin, parteilos, solidarisiert sich aber mit der sogenannten Rojava-Revolution, dem neuen politischen Selbstverwaltungsprojekt von PKK und HDP. Kobane war das Herz- und Verbindungsstück zur Türkei von Rojava.
«Ich habe schon beim Erdbeben in Van geholfen. Da konnte ich hier nicht abseits stehen», erklärt Isil und stellt ihre beiden ununterbrochen piepsenden und klingelnden Handys ab. «Für die Menschen auf der Strasse sind die 100 Tage sowohl eine gute, wie eine schlechte Nachricht.» 100 Tage Vertreibung und Not. Aber auch 100 Tage erfolgreicher Kampf gegen die IS-Milizen. «Am Anfang spekulierten alle kurdenfeindlichen Kräfte darauf, dass der IS die YPG und PKK in wenigen Tagen erledigen würde. Stattdessen holen sich die Barbaren ausgerechnet hier einen blutigen Kopf und die Welt nimmt vielleicht zum ersten Mal zur Kenntnis, was Kurdistan wirklich ist.»
Chefkoordinatorin Isil Su Erdogan.
Auch Isil findet, dass das grösste Problem in Suruç der türkische Staat sei. «Hilfe von NGOs kommt über die üblichen Kanäle einfach nicht an. Die UNO unterstützt die offizielle Türkei. Die Kurden müssen selber schauen, wo sie bleiben.» Aber das haben sie mittlerweile gelernt. Kurden helfen Kurden, und wer hier lebt, weiss, wie man improvisiert. «Wir brauchen keine Charity für Hilfsbedürftige. Wir brauchen handfeste Solidarität. Ob durch freiwillige Helfer, ob durch direkte Spenden.»
Eine Frage des Überlebens
Hier helfen und geben alle ehrenamtlich. Während professionelle NGOs einen Grossteil der Geldspenden für Verwaltung und Löhne ausgeben, landet hier jede Lira buchstäblich auf den Tellern und in den Zelten der Flüchtlinge. Und das ist in den kommenden kalten Monaten für viele der Flüchtlinge, die grosse Mehrheit Kinder, womöglich eine Frage des Überlebens.
Neben praktisch allen Dingen des täglichen Bedarfs fehlt es vor allem an Essen. Eine Handvoll Bulgur oder Reis und eine Kelle dünner Bohnen-, Kichererbsen- oder Linsensuppe ist alles, was die Flüchtlinge zweimal am Tag an warmen Mahlzeiten bekommen. Morgens muss sich nicht selten eine Familie zum Frühstück in ihrem 20 Quadratmeter grossen Plastikzelt ein Brot und etwas Melasse teilen. «Luxusgüter» wie frisches Obst oder Gemüse können nur punktuell verteilt werden.
Ein Schlammfeld wird zur Zeltstadt
Durch die, schon jetzt, beissende Kälte der Nächte, Mangelernährung und die grosse Dichte – in den Zelten leben im Durchschnitt zehn, manchmal aber auch bis zu 18 Menschen – verbreiten sich ansteckende Krankheiten epidemisch. In einem der fünf fertiggestellten Lager geht eine Masernepidemie um. Für gesunde Mitteleuropäer kein Problem, aber für unterernährte Kinder eine tödliche Bedrohung. In einem anderen Lager grassieren Gelbfieber und Grippe. Überall leiden die Menschen unter kräftezehrenden Durchfallerkrankungen, praktisch alle Flüchtlinge und Freiwilligen, denen wir begegnet sind, zeigen Erkältungssymptome bis hin zu schwerer Bronchitis. Kein Wunder. Zum Zeitpunkt unseres Besuchs hatte ein Lager noch keine Elektrizität, ein anderes keine Heizkörper.
Die grössten Fortschritte macht das Camp Kader Ortakaya. Die 4000 hier lebenden Flüchtlinge wurden vor drei Monaten auf einen Acker gesetzt. Die Lagerverwaltung besteht nach Rojava-Tradition aus sechs gewählten Flüchtlingsvertretern und drei Leuten der Suruçer Verwaltung. In drei Monaten haben die Flüchtlinge aus eigener Kraft aus einem Schlammfeld mit Plastikplanen eine akkurate Zeltstadt, mit Strom- und Wasserversorgung und dem besten und grössten Sanitärbereich von allen Lagern gebaut.
Lob für die Kurden
Überall sieht man Flüchtlinge, die neue, saubere Mergelwege anlegen, letzte Hand an die Leitungen legen und Material transportieren. Zwar mangelt es auch hier an Essen und grassieren Grippe und Gelbfieber. Aber es ist deutlich spürbar, dass diese Menschen, die alles, zum grossen Teil auch Verwandte, Freunde, Söhne und Töchter verloren haben, ihren Stolz bewahrt haben.
Der Schweisser «Mahmut».
Auch in den anderen Lagern hört man trotz dramatischer hygienischer Zustände, Hunger und beissender Kälte kaum Klagen. Fast heiter erzählt uns ein Schweisser aus Kobane den Verlauf der ersten grossen IS-Attacke. Wie alle Aktivisten, die aktiv oder passiv mit der kämpfenden Truppe zu tun haben, nennt er einen erfundenen Vornamen. In diesem Fall Mahmut. Auf die Frage zu den Schwierigkeiten des Lagerlebens antwortet er: «Wir sind ja noch gut dran. Ich habe nur vier Kinder. Das ist für Syrien wenig. Manche haben zehn Kinder und mehr.» Mahmut ist des Lobes voll für die kurdischen Kämpfer. Nur die Unterstützung der YPG habe ein Blutbad wie in Sindschar verhindert. «Die haben uns den Rücken frei gehalten, während uns die Türken nur zögerlich über die Grenze liessen. Es gab schon eine Menge Tote und Verwundete. Aber wer will die in der allgemeinen Panik zählen.»
Ein anderer Familienvater erzählt uns, dass seine Familie mit der ersten Welle Flüchtlinge aus den Dörfern um Kobane losgezogen sei. «Eine Kuh und ein Kalb waren der einzige Besitz, den wir mitnehmen konnten. Aber die sind auf eine Mine getreten.» Beschämt essen wir die kostbaren Mandarinen, die er uns aufgedrängt hat, um uns zu bewirten, da er weder Tee noch Zucker hat. «Was wollt ihr tun, wenn die Kampfhandlungen vorbei sind? Nach Europa?», fragt Attila Toptas das Familienoberhaupt. «Niemals. Wenn mein Haus zerstört ist, schlafe ich lieber auf den Trümmern, als meine Heimat zu verlassen.»
Eine 60-Jährige erzählt relativ gefasst, dass sie bei den Kämpfen drei Söhne verloren habe. In einem Zelt versteckt sich eine YPG-Guerillera, die von mehreren Granatsplittern verletzt wurde. «Lieber hier die Verletzungen langsam ausheilen als in ein Spital und dem Militär in die Arme laufen.» Solche und ähnliche Geschichten kann fast jeder in den Lagern erzählen. Aber trotzdem hört man kein Klagen und Weinen. Auch die, die nichts mehr haben, haben immer noch ihren Stolz und die Hoffnung – und einen Kopf und Hände, um zu helfen.
Weit bedrückter ist die Stimmung im Grenzlager in einem Lehmhüttenweiler, direkt bei Aleppo. Am Dorfrand hocken und stehen Flüchtlinge und sehen aus nächster Nähe, wie ihre Heimat zerstört wird. Bittere Flüche erklingen, als IS-Raketen in einige noch nicht völlig zerstörte Gebäude einschlagen. Die YPG antwortet unter Applaus der Menge mit Maschinengewehrfeuer und Mörsergranaten.
Einige Minuten später donnert ein amerikanischer Jagdbomber über die IS-Stellung und wirft eine schwere Bombe ab. Die US-Luftwaffe konnte sich erst nach wochenlangen zähen Strassenkämpfen der zahlenmässig und waffentechnisch scheinbar hoffnungslos unterlegenen Kurden durchringen, die schweren Artillerie-Stellungen des IS wegzubomben. Doch da war der Kampf bereits fast entschieden. Mit Klauen und Zähnen und einer unbekannten Anzahl Freiwilliger haben die YPG Strasse um Strasse, Haus um Haus gegen die Übermacht zurückerobert.
Kobane gibt es nicht mehr
Am 23. Dezember ist mit dem gelegentlichen Raketenbeschuss, Bombardement und Gewehrfeuer ein eher ruhiger Tag in Kobane. Doch schon in der nächsten Nacht soll sich das ändern. An Heiligabend starten rund 5000 YPG-Kämpferinnen und -Kämpfer mit Unterstützung der mittlerweile 250 Peschmerga-Artilleristen und der alliierten Luftstreitmacht eine Offensive. Bei den heftigen Kämpfen müssen die IS-Truppen unter schweren Verlusten auch die letzten strategisch wichtigen Stellungen preisgeben. In den Medien ist schon die Rede von Kobanegrad und die YPG gibt sich siegessicher.
Flüchtlingslager und Wohncontainer, Nahrungsmittel und Hygieneartikel werden auch noch nötig sein, wenn sich der IS ganz aus Kobane zurückgezogen hat. Durch das lange Zögern der USA und ihrer Verbündeten hatten die Islamisten reichlich Zeit, die Stadt mit schwerer Artillerie buchstäblich in Schutt und Asche zu legen. Raketeneinschläge verursachen keine Brände mehr, weil es in Kobane schlicht nichts Brennbares mehr gibt.
Die Kobaner können nicht in ihre Häuser zurückkehren, weil es Kobane nicht mehr gibt, nur eine nach Verwesung und Asche stinkende Staubwüste, ein Fleck auf der Landkarte. Trotzdem werden sich die Flüchtlinge daran machen, die Stadt, die Symbol für ein neues Kurdistan war, wieder aufzubauen. Denn nun ist Kobane nicht länger nur ein Symbol für die Kurden der Region. Es ist ein Symbol für den Sieg des Fortschritts über die Barbarei. Ein Symbol für Säkularität, Gleichberechtigung und Humanität. Und zusammen mit Suruç ein Symbol für Kampfgeist und Solidarität.
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Die Schweizerisch-Kurdische Gemeinschaft (SKG) sammelt Geld für winterfeste Wohncontainer für die Flüchtlinge von Kobane. Weitere Infos: www.skgemeinschaft.ch