Kampf gegen Terror beeinträchtigt die humanitäre Hilfe

Humanitäre Hilfe muss für alle Notleidenden in Konfliktgebieten zugänglich sein. Die Antiterror-Gesetze vieler Staaten beeinträchtigen diese Hilfe jedoch. Auf der Strecke bleiben vor allem Menschen in Gebieten, die unter Kontrolle nicht staatlicher bewaffneter Gruppen sind.

Lebanese men unload aid supplies donated by the Red Cross, in the southern Lebanese village of Srifa, on Monday 04 September 2006. EPA/MOHAMED MESSARA

(Bild: Keystone/Mohamed Messara)

Humanitäre Hilfe muss für alle Notleidenden in Konfliktgebieten zugänglich sein. Die Antiterror-Gesetze vieler Staaten beeinträchtigen diese Hilfe jedoch. Auf der Strecke bleiben vor allem Menschen in Gebieten, die unter Kontrolle nicht staatlicher bewaffneter Gruppen sind.

Die Gesetzgebung vieler Staaten zur Bekämpfung von Terrorismus beeinträchtigt die humanitäre Hilfe. Es besteht insbesondere die Gefahr, dass jene Menschen weniger Unterstützung und Schutz erhalten, die in Gebieten leben, welche nicht staatliche bewaffnete Gruppen kontrollieren. Gruppen, die als Terroristen gelten.

Als zum Beispiel die USA im Jahr 2008 die somalische Islamistenmiliz Al-Shabaab auf die Terrorliste setzten, ging die humanitäre Hilfe in Somalia in den folgenden zwei Jahren um fast 90 Prozent zurück – darunter die Verteilung von Nahrungsmitteln und die medizinische Versorgung. Dies ergab eine von der UNO in Auftrag gegebene Studie.

Damoklesschwert für die Hilfsorganisationen

Mehrere Resolutionen des UNO-Sicherheitsrats verpflichten Staaten sicherzustellen, dass ihr Geld für humanitäre Hilfe nicht Terrororganisationen zugute kommt. Die Regierungen fordern daher von Hilfsorganisationen entsprechende Garantien. Andernfalls erhalten sie kein Geld mehr. In einigen Ländern droht Hilfsorganisationen auch eine strafrechtliche Verfolgung.

«Im Gazastreifen haben mehrere Hilfsorganisationen vor ein paar Jahren ihre Tätigkeit eingestellt, weil sie eine Kriminalisierung ihrer Arbeit befürchteten», sagt Tristan Ferraro von der Rechtsabteilung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Eine mögliche Strafverfolgung sei wie ein Damoklesschwert für Hilfsorganisationen. Sie führe dazu, dass die Organisationen ihre Aktivitäten selbst einschränkten und nicht mehr in Gebieten unter Kontrolle sogenannter Terrororganisationen arbeiteten.

«Wir wollen alle Opfer eines bewaffneten Konflikts erreichen können.»

Tristan Ferraro vom IKRK 

Das wiederum fördert eine einseitige Hilfeleistung. Zu den Prinzipien humanitärer Hilfe zählt jedoch eine unabhängige und unparteiische Hilfeleistung. «Gerade in Gebieten unter Kontrolle nichtstaatlicher bewaffneter Gruppen ist die Bevölkerung stark auf humanitäre Unterstützung angewiesen», sagt Ferraro.

Das IKRK fordert, dass Staaten in ihrer Antiterror-Gesetzgebung über eine Ausnahmeklausel für die humanitäre Hilfe verfügen. Um Hilfsgüter in Gebieten unter Kontrolle sogenannter Terrororganisationen zu verteilen, müssen die Hilfsorganisationen etwa mit Vertretern solcher Organisationen verhandeln können, ohne kriminalisiert zu werden. Abgesehen von Australien haben jedoch nur wenige Staaten eine solche Ausnahmeklausel. «Wir wollen alle Opfer eines bewaffneten Konflikts erreichen können, auch jene in Gebieten unter Kontrolle nicht staatlicher Gruppen», sagt Ferraro.

Zu den Gepflogenheiten des IKRK zählt, dass die Organisation immer mit allen Konfliktparteien in Kontakt ist. «Um heute in Syrien zu arbeiten, brauchen wir das Einverständnis der Regierung, selbst wenn wir in Gebieten unter Kontrolle der Rebellen tätig sind», erläutert Ferraro. «Wir benötigen das Einverständnis aller Konfliktparteien, um wirksam arbeiten zu können und auch zum Schutz unserer Helfer.» Oft dauern solche Verhandlungen Wochen oder Monate.

Verwischte Grenzen

Mit Geldgebern verhandelt das IKRK bilateral. Wenn ein solcher Staat beispielsweise medizinische Hilfe für nichtstaatliche Gruppen ausschliessen wollte, würde das IKRK einen Vertrag nicht unterzeichnen. Bisher ist das aber nur in wenigen Ausnahmefällen vorgekommen. Die vier Genfer Konventionen, die den Kern des humanitären Völkerrechts oder Kriegsvölkerrechts bilden, geben dem IKRK zudem die Möglichkeit, Gefangene zu besuchen, auch inhaftierte Kämpfer nichtstaatlicher Gruppen, die in Händen der Regierung sind. Solche Besuche verleihen den Gefangenen einen gewissen Schutz. Immer mehr Staaten bezeichnen jedoch bewaffnete Gruppen allgemein als Terroristen.

«Für uns ist das kein neues Phänomen, das taten Regierungen seit Jahrzehnten, etwa die Befreiungstiger von Tamil Eelam (LTTE) in Sri Lanka, die Taliban in Afghanistan oder die Hamas im Gazastreifen wurden beziehungsweise werden so genannt», sagt Ferraro. Neu sei jedoch die Tendenz, dass die Regierungen sämtliche Angriffe von bewaffneten Gruppen terroristisch nennen, auch wenn diese gemäss dem humanitären Völkerrecht zugelassen sind, etwa Angriffe auf militärische Ziele.

Das IKRK spricht nicht von Terroristen, sondern von nichtstaatlichen Akteuren.

Zudem besteht laut Ferraro eine Tendenz, dass Regierungen nichtstaatliche bewaffnete Gruppen wie Rebellen nicht mehr als Konfliktparteien betrachteten. Die Grenzen zwischen einem bewaffnetem Konflikt und Terrorismus würden dadurch verwischt, sagt Ferraro. Das erschwert es für das IKRK, die Regierungen davon zu überzeugen, dass das humanitäre Völkerrecht auch für solche Gruppen gilt.

Das humanitäre Völkerrecht erlaubt in einem bewaffneten Konflikt etwa die Gefangennahme von sogenannten Terroristen, aber es bietet ihnen auch Schutz beispielsweise vor willkürlicher Haft oder vor Misshandlungen. Das IKRK spricht nicht von Terroristen, sondern von nichtstaatlichen Akteuren. Hingegen bezeichnet die Organisation bestimmte Arten von Aktionen als terroristisch wie das Terrorisieren der Zivilbevölkerung.

Kein «Krieg gegen Terrorismus»

Der französische Präsident François Hollande erklärte am 16. November – drei Tage nach den Terroranschlägen in Paris – vor dem Parlament, «Frankreich ist im Krieg», ähnlich wie der frühere US-Präsident George W. Bush nach den Terroranschlägen im September 2001 gegen das World Trade Center in New York, der von «Krieg gegen den Terrorismus» sprach. Nach Meinung des IKRK gibt es jedoch rechtlich keinen «Krieg gegen Terrorismus».

Bei bewaffneten Konflikten und zahlreichen Antiterror-Massnahmen auf nationaler und internationaler Ebene müsse im Einzelfall geprüft werden, ob es sich um einen internationalen Krieg, einen Bürgerkrieg oder gar keinen bewaffneten Konflikt handle. Im Fall einer Kriegssituation wie der Bekämpfung der Organisation Islamischer Staat (IS) in Syrien und im Irak gilt das humanitäre Völkerrecht, während in den übrigen Fällen die Menschenrechte zur Anwendung kommen. Bei bewaffneten Gruppen, die als global wahrgenommen werden, wie Al-Kaida oder die IS-Miliz handelt es sich nach Einschätzung des IKRK nicht um einen bewaffneten Konflikt von globalem Ausmass.

Nächster Artikel