Der Marathonprozess gegen den Kriegsverbrecher Radovan Karadžić findet ein Ende. Karadžić wird das Gefängnis wohl nicht mehr als freier Mann verlassen.
Über vier Jahre lang wurden 586 Zeugen verhört. Anderthalb weitere Jahre hat sich der internationale Strafgerichtshof danach Zeit gelassen, um ein Urteil gegen Radovan Karadžić zu sprechen. Verurteilt wurde er für die Ermordung von Zehntausenden von Menschen im Bosnienkrieg. Für die Belagerung Sarajevos, für Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Bosnienkrieg und für den Völkermord in Srebrenica, bei dem rund 8000 bosniakische Jungen und Männer ausselektiert und ermordet wurden.
Das Gericht verurteilte ihn dafür zu 40 Jahren Haft. Es ist unwahrscheinlich, dass der heute 70-Jährige das Gefängnis eines Tages als freier Mann verlassen wird. Karadžić will gegen das Urteil in Berufung gehen.
Der Chefankläger Serge Brammertz sagte im Interview mit dem «Guardian», dass sich durch das Urteil die Nachricht verbreiten soll, dass auch wichtige Politiker sich nicht mehr der internationalen Justiz entziehen können: «Dieses Urteil zeigt, dass Gerechtigkeit auch für solche Grausamkeiten möglich ist. Noch vor 30 Jahren wären Personen wie Radovan Karadžić an der Macht geblieben oder hätte ein angenehmes Leben im Exil genossen.»
Karadžić verteidigte sich selbst und plädierte auf «unschuldig». Sein Gewissen sei rein, betonte er mehrfach. Noch vor dem Urteil hatte Karadžić versucht, die Kriegsverbrechen herunterzuspielen. Die Opferzahlen in Srebrenica seien übertrieben, die Opfer der Belagerung Sarajevos ein Kollateralschaden und das Konzentrationslager Prijedor diente nur dazu, Gefangene «in Schutz» zu nehmen.
Treppenwitz der Geschichte
Das Radovan Karadžić zu einem der meistgesuchten Männer in der europäischen Nachkriegszeit werden konnte, ist ein Treppenwitz der Geschichte. Er wurde 1945 in den montenegrinischen Bergen geboren und zog im Alter von 15 Jahren mit seiner Familie nach Sarajevo, wo er Medizin studierte. Später verbrachte er auch ein Jahr an der Columbia University in New York, um sich fortzubilden. Den Grossteil der Vorkriegszeit arbeitete er als Psychiater und Hirnforscher mit einer Spezialisierung auf Neurosen und Depressionen. In Bosnien und Herzegowina geht der Witz um, dass er sich nur leider nicht auf seine eigenen Neurosen spezialisiert habe. Er arbeitete im Koševo-Krankenhaus in Sarajevo, dass er als Kriegsherr später bombardieren liess.
Als Gruppentherapeut war Radovan Karadžić in der Saison 1983 für den Fussballverein Roter Stern Belgrad tätig, und im Jahr darauf sogar für den FC Barcelona. Politisch war er zu diesem Zeitpunkt noch nicht tätig. Vielmehr verbrachte er seine Freizeit damit, Kinderbücher und Gedichte zu verfassen. Die wurden damals kaum gelesen, sprechen aber aus heutiger Sicht dafür, dass er bereits vor dem Krieg ein fanatischer Nationalist war.
Nachdem andere Kandidaten abgesagt hatten, wurde Radovan Karadžić im Jahr 1990 zum Vorsitzenden der neugegründeten Partei SDS gewählt, ohne nennenswerte politische Erfahrung mitzubringen. Nach den ersten freien Parlamentswahlen gingen die ethnonationalistischen Parteien aller drei Volksgruppen in Bosnien und Herzegowina als klarer Sieger hervor und Radovan Karadžić war als Vorsitzender der SDS plötzlich der mächtigste Serbe in Bosnien und Herzegowina, der die Truppen der Republika Srpska in den Krieg führte.
Der serbische Geheimdienst hatte ihn jahrelang gedeckt.
Nach dem Krieg liess er sich einen weissen Rauschebart wachsen, setzte eine dicke Brille auf und eröffnete unter dem Namen Dragan Dabić eine Praxis für alternative Medizin mitten in Belgrad. Dort behandelte er als New-Age-Guru seine Patienten mit fernöstlichen Methoden und Heilkräutern. Seine spirituell angehauchten Patienten hatten meist keine Ahnung, wem sie da gegenübersassen. In dieser Zeit hat der verurteilte Kriegsverbrecher sogar unter seinem falschen Namen in Fachzeitschriften veröffentlicht und Vorträge gehalten.
Karadžić hat sich nicht einmal davon abhalten lassen, nationalistische Kneipen zu besuchen, an deren Wand ein Bild von ihm hing. Gelebt hat er in der Juri-Gagarin-Strasse in Neu-Belgrad, rund acht Kilometer vom serbischen Parlament entfernt. Es gab viele Menschen, die über seinen Verbleib wussten, aber nicht einmal 5 Millionen Dollar Kopfgeld haben sie dazu gebracht, den ehemaligen Präsidenten der Republika Srpska auszuliefern. Der serbische Geheimdienst hat ihn jahrelang gedeckt und nach einem Regierungswechsel 2008 entschieden, das Versteckspiel zu beenden und Radovan Karadžić festzunehmen.
Nach der Urteilverkündnung kam es in Belgrad zu Protesten der Serbischen Radikalen Partei. Der Mob gab rechtsextremes Liedgut von sich und skandierte: «Serbien! Russland! Wir wollen nicht in die EU.» Vojislav Seselj, der ebenfalls in Den Haag angeklagt ist, bezeichnete den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien als ein «Lügengericht».
Jahrestag der Bombardierung
Heute vor siebzehn Jahren begann die Bombardierung Serbiens durch die Nato, die nicht von einem UN-Mandat gedeckt war. Die serbische Tageszeitung «Politka» mutmasst darüber, ob das Datum blosser Zufall ist oder ob es darum geht, Serbien bewusst zu demütigen. Die Verurteilung von Radovan Karadžić und die Erinnerung an die Bombardierung des Landes wird den ultranationalistischen Parteien dazu dienen, nach den Wahlen am 24. April wieder ins Parlament einzuziehen, nachdem diese zuvor an der 5-Prozent-Hürde scheiterten. Der Prozess gegen Radovan Karadžić wird von ihnen bereits als ein Prozess gegen das serbische Volk interpretiert, gegen das die Welt sich verschworen habe.
Neben hohlem Nationalismus und Schuldabwehr haben sie dabei aber auch ein starkes Argument. Die kroatischen Generäle Ante Gotovina und Mladen Markač wurden freigesprochen, obwohl sie für die Vertreibung Hunderttausender Serben aus Kroatien verantwortlich sind. Ramush Haradinaj, der ehemalige Oberkommandierende der UÇK, musste sich wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten und wurde ebenfalls freigesprochen. Das Verfahren gegen Haradinaj erwies sich als schwierig, weil fast alle Zeugen, die gegen ihn aussagen sollten, während des laufenden Prozesses ermordet wurden. Heute ist Haradinaj einer der Oppositionsführer im kosovarischen Parlament.
Die Urteile gegen bosnische und kroatische Kommandierende fielen milder aus.
Urteile gegen Kommandierende der bosnischen Armee wie Rasim Delić oder Naser Orić fielen verhältnismässig mild aus. So wurde Rasim Delić zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, obwohl das Gericht es als für erwiesen betrachtet, dass er eine Verantwortung für die Verbrechen ausländischer Mudschahhedin trägt, die Hunderte Zivilisten ermordet haben. Naser Orić wurde wegen Kriegsverbrechen gegen serbische Zivilisten in der Umgebung von Srebrenica zu zwei Jahren verurteilt, wogegen die damalige Chefanklägerin Carla del Ponte Beschwerde einlegte, weil sie das Urteil als zu mild empfand. Dennoch wurde Naser Orić im Berufungsverfahren freigesprochen.
Das kosovarische Parlament hat inzwischen der Schaffung eines Sondergerichtes zugestimmt, in dem auch Verbrechen der UÇK gegen Serben verhandelt werden sollen. Da aber der potenzielle Angeklagte Hashim Thaçi heute Präsident des Landes ist und viele weitere im Parlament sitzen, rechnet niemand damit, dass die Verbrechen der UÇK gegen serbische Zivilisten umfassend aufgearbeitet werden.
Salz in die Kriegswunden
Während der Verhandlung sagte Radovan Karadzic: «Nicht ich stehe hier vor Gericht, sondern das gesamte serbische Volk.» So sehen das heute, 17 Jahre nach Beginn der Bombardierung durch die Nato, viele seiner Landsleute. Insbesondere serbische Zivilisten, die aus Kroatien, Bosnien und Herzegowina und dem Kosovo vertrieben wurden, halten das Gericht für eine Farce, weil für die Vertreibung serbischer Zivilisten tatsächlich kaum jemand zur Verantwortung gezogen wird.
Während es in Serbien selbst durchaus kritische Stimmen zum Kriegsverbrecher Radovan Karadžić gibt, gilt er den meisten Serben in Bosnien und Herzegowina als Held, der das Land verteidigt hat. Vergangene Woche eröffnete der Präsident der bosnischen Serben, Milorad Dodik, das Radovan-Karadžić-Studentenwohnheim in Pale und streute lächelnd Salz in die Kriegswunden.
Die offizielle Begründung lautet, dass die Republika Srpska damit ihren Gründungsvater ehren will. Und das wenige Tage vor seiner Verurteilung und wenige Kilometer von Sarajevo entfernt, für dessen Belagerung Radovan Karadžić nun verurteilt wurde.