500 Jahre nach Beginn der Reformation sind konfessionelle Unterschiede in der Schweiz kaum noch ein Thema. Doch noch vor wenigen Jahrzehnten gab es tiefe Gräben zwischen Protestanten und Katholiken.
Zu manchen wichtigen Dingen kann man sich in den Medien nur äussern, wenn es dazu einen aktuellen Anlass (oder Aufhänger, wie Journalisten sagen) gibt. Zum Verhältnis zwischen Religionen und Konfessionen haben wir nun gleich zwei Anlässe.
Einmal das 500-Jahr-Jubiläum der Reformation von 1517. Es wirft die Frage auf, wie die beiden Kirchen und ihre Angehörigen zueinander stehen.
Kürzlich hat der 89-jährige Schweizer Theologe Hans Küng aus gegebenem Anlass den Papst aufgefordert, die Kirchenspaltung zu beenden, Martin Luther zu rehabilitieren, alle Exkommunikationen aus der Reformationszeit aufzuheben, protestantische und anglikanische Ämter anzuerkennen und die Abendmahlsgemeinschaft zu gewähren.
Die Aufforderung, auf die anderen zuzugehen, richtete sich einzig an Küngs eigene, die römisch-katholische Kirche. Das scheint also kein symmetrisches Problem zu sein. Dennoch die Frage: Müsste die Gegenseite ebenfalls einen Schritt tun? Diese Frage kann hier nicht weiterverfolgt werden.
Es kann erstaunen, wie lange konfessionelle Gegensätze verhaltensbestimmend blieben.
Ein zweiter Anlass ist eine kürzlich erschienene Schrift ohne Reformationsbezug, beinahe so etwas wie ein Schwarzbuch zum Phänomen des in der Schweiz des 19. Jahrhunderts geführten konfessionellen Kulturkampfs. Es ist gut, dass uns Josef Lang und Pirmin Meier unter dem Titel «Kulturkampf» an diese Auseinandersetzungen erinnern. Noch besser ist freilich, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie lange sie akut geblieben sind, auch in Basel.
Was man und wie man es glaubt, erscheint, wenigstens in der christlichen Variante, heute Privatsache zu sein. Wir fragen uns kaum noch, ob Arbeitskollegen oder Nachbarn protestantisch, katholisch oder Angehörige einer anderen christlichen Glaubensgemeinschaft sind. Und sollten wir es dennoch mitbekommen, halten wir es für wenig wichtig. Dabei kann es erstaunen, wie lange die konfessionellen Gegensätze auch in der Schweiz verhaltensbestimmend blieben.
Vor gut 30 Jahren konnte zum Beispiel im solothurnischen Schwarzbubenland (Dorneck/Thierstein) die Konfessionszugehörigkeit im Gerichtssaal ausschlaggebend sein. Nicht nur bei der Richterwahl, sondern auch bei der Urteilsfindung. Gehörte der Beklagte zum Lager der «Sänkrächte», das heisst der Katholischen, kam es vor, dass dieser Tatsache bei der internen Beratung ausdrücklich Rechnung getragen und der Ermessensspielraum zu seinen Gunsten ausgeschöpft wurde.
Segregierte Schulen
Noch in den 1970er-Jahren wurden, etwa in Rapperswil, Primarschulen konfessionell getrennt geführt. Die Kinderlein hatten zwar den Schulweg und den Pausenhof gemeinsam, der Grundschulunterricht war dann aber nicht nur organisatorisch, sondern auch inhaltlich konfessionell getrennt – segregiert. Aus dieser Zeit sind Schimpfrufe überliefert: «Katholisch – rossbollisch!» «Reformiert – Hose verschmiert!» Diese wurden in nicht seltenen Bedarfsfällen in kindlicher Gedankenlosigkeit eingesetzt, waren aber von den «Oberen» zu verantworten.
Typisch für solche Beschimpfungen und Verdächtigungen ist, dass eigene Unzulänglichkeiten den «anderen» zugeschrieben beziehungsweise unterstellt wurden. Das konnte sehr elementare Eigenheiten betreffen – etwa das Stinken oder die Ehrlichkeit. Es gibt im Volksmund eine Formulierung für Aussagen, die nicht direkt wahrheitswidrig sind, aber doch nicht der Wahrheit entsprechen – je nach Lager heisst es dann: auf katholische oder protestantische Art lügen.
Diese Teilungen bestanden auch ausserhalb der Schule. In vielen Gemeinden gab es sowohl eine katholische wie eine protestantische Bäckerei und Metzgerei und konfessionelle Musik- und Turnvereine – zusammenstehen und gegen die «anderen» sein.
Im Baselbiet war eine protestantische Mutter erleichtert, dass ihre künftige Schwiegertochter Jüdin und nicht Katholikin war.
Die Konfession bestimmte selbstverständlich auch das Paarungs- und Verheiratungsverhalten: Noch in den 1970er-Jahren wurden in Basel Teekränzchen veranstaltet, deren Zweck darin bestand, junge Menschen gleichen, das heisst ebenfalls katholischen Glaubens, zusammenzubringen. Dies zum Schutz der Diaspora-Katholiken, die in von Reformierten dominiertes Gebiet einwanderten. Die Schäfchen der eigenen Herde sollten nicht verloren gehen.
Aus dem Baselbiet der 1960er-Jahre gibt es die schöne Anekdote, dass ein Sohn seiner Mutter schweren Herzens beichtete, eine schwierige Verbindung eingehen zu wollen. Die protestantische Mutter war dann total erleichtert, dass ihre künftige Schwiegertochter Jüdin und nicht – Gott bewahre – Katholikin war.
Innerkonfessionelle Gräben
Damit auch daran erinnert sei: Selbst innerhalb der Konfessionen gab es (und gibt es zum Teil noch immer) hochwichtige Zugehörigkeitsunterscheidungen: Im Falle der Protestanten war es bis tief ins 20. Jahrhundert hinein sozusagen lebensbestimmend, ob man zu den «Positiven» oder den «Liberalen» gehörte. Heute muss man erklären, was mit dem Positivismus gemeint war: strenge wörtliche Bibelauslegung. Dabei ging es nicht um individuelle Glaubenstendenzen, sondern um ein stark gruppenbildendes Kriterium.
Auch das von Protestanten gern als homogen und kompakt gesehene Lager der Katholiken wies und weist unterschiedliche Binnenströmungen auf. In der eingangs erwähnten Schrift betont Josef Lang zu Recht die innerkatholischen Differenzen im Kulturkampf des 19. Jahrhunderts, in dem sich papsttreue und papstkritische Katholiken gegenüberstanden, reaktionäre gegen radikale, traditionsgebundene gegen fortschrittsgläubige.
Es geht nicht nur um Jasskarten
Sind das alles unschöne Lieder aus alten Zeiten? Verweisen sie auf eine alte Welt, die wir glücklicherweise hinter uns gelassen haben? Was machen wir mit solchen Erinnerungen? Das Thema gibt jedenfalls mehr her als volkskundliche Abklärungen zur Frage, in welchen Regionen man in früheren Zeiten welche Jasskarten verwendete oder der Kaffee wie zubereitet wurde.
Solche Erinnerungen fordern uns vielmehr auf, Mitmenschen, denen Religion/Konfession auf eine bestimmte Weise noch wichtig ist, mit einem gewissen Verständnis zu begegnen. Ob wichtig oder nicht, sollte aber nicht unsere Hauptfrage sein. Wichtig ist, wie man der Wichtigkeit Rechnung trägt – ob auf totale Angleichung drängend oder die Differenz respektierend.
Die Kinder aus einer (christlich) konfessionellen Mischehe in der Nachbarschaft haben sich selber frei entweder für die «Mami-Kirche» oder die «Papi-Kirche» entschieden. Hier sind wir beim eingangs erwähnten Hans Küng – und bei der Ökumene.
Unter der Ökumene wird in einer gängigen Definition die Zusammenarbeit der christlichen Konfessionen verstanden. Eine Knacknuss – wenn dieses Wort erlaubt ist – bildet die Zusammenlegung der je eigenen Rituale/Liturgien (Taufe, Abendmahl, Vermählung).
Liberale aller Konfessionen stehen sich untereinander näher als ihren konservativen Geschwistern im Glauben.
Diese Formalitäten stehen für Inhalte, und diese sind von Überzeugungen bestimmt. Josef Lang ist es in der genannten Schrift wichtig, gestützt auf respektable Kronzeugen, zu betonen, dass nicht die konkreten Konfessionen bestimmend waren (und bestimmend sein sollen), sondern die gleichsam darunter liegenden weltanschaulichen Haltungen konservativer oder liberaler Art.
Wenig überzeugend ist in diesem Zusammenhang von Ideologien und ideologischen Spaltungen die Rede. Haltungen gegenüber der Welt sind in einem hohen Mass nicht von Gedankengebäuden, sondern von Persönlichkeitseigenschaften, Mentalitäten, psychischen Prädispositionen bestimmt.
Darin liegt in der Tat der Schlüssel zur Entschärfung von konfessionellen und religiösen Gegensätzen: Liberale Protestanten und liberale Katholiken und in der heute wichtiger gewordenen Ergänzung auch liberale Juden und liberale Muslime stehen einander tendenziell näher als ihren konfessionellen und religiösen Glaubensgeschwistern konservativer Prägung.
So bleibt die Herausforderung, wie die liberalen und die konservativen Menschen der Welt miteinander umgehen.
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Josef Lang und Pirmin Meier: Kulturkampf. Die Schweiz des 19. Jahrhunderts im Spiegel von heute. Verlag Hier & Jetzt 2016. 120 S.