Jedes Wochenende strömen Einkaufstouristen aus der Schweiz nach Deutschland. Es sind mehr denn je. Für die Städte Lörrach und Weil am Rhein ist die «Grenze des Erträglichen» erreicht.
Am Grenzübergang Lörrach sind drei verschiedene Geräusche zu hören: das Krächzen der Krähen, das Zuschlagen von Autotüren und das dumpfe Klopfen, das entsteht, wenn ein Zöllner seinen Stempel auf einen Ausfuhrschein knallen lässt. Noch ist der Rhythmus gemächlich, um 10 Uhr morgens.
Später am Tag wird sich die Schlagfrequenz steigern, zu Spitzenzeiten stempeln die deutschen Zollbeamten alle neun Sekunden einen «grünen Zettel». Es ist der Freitag nach Auffahrt, ein Brücken- und damit Grosskampftag in Sachen Einkaufstourismus.
Zwar giesst es wie aus Kübeln, doch das hält den zielstrebigen Schnäppchenjäger nicht ab. Zumal die allermeisten ohnehin mit dem Auto über die Grenze fahren und damit trockenen Fusses von der heimischen Garage ins Parkhaus des Einkaufszentrums gelangen.
Das Einkaufen in Deutschland hat sich von einer Freizeitbeschäftigung für Sparfüchse zum familientauglichen Breitensport entwickelt. Längst fahren nicht mehr nur Menschen, die aufs Geld schauen müssen, über die Grenze, auch der Gourmet und Weinkenner sowie die Liebhaberin regionalen Biogemüses bezahlen ihre Einkäufe regelmässig in Euro.
Das Motto lautet «Shoppen. Immer. Überall.», wie es sich auch die Kaufhauskette Karstadt auf die Fahne geschrieben hat.
Schweizer machen 5 Milliarden Umsatz in Deutschland
Wie viel eingekauft wird, lässt sich nicht sagen, genaue Zahlen gibt es nicht. Weder werden die Zollübertritte entsprechend ausgewertet noch geben die Läden in Deutschland bekannt, wie viele ihrer Kunden einen Schweizer Wohnsitz haben. Wer sich ein Bild über das Ausmass des deutsch-schweizerischen Einkaufstourismus machen will, muss sich an zwei Anhaltspunkten orientieren. So hat die Interessensgemeinschaft Detailhandel Schweiz in einer repräsentativen Onlinebefragung die Auslandseinkäufe des Jahres 2013 eruiert. Dieser Studie zufolge sollen die Schweizer 2013 für insgesamt fast 5 Milliarden Franken in Deutschland eingekauft haben. Damals stand der Euro im Jahresmittel jedoch noch bei 1.23 Franken.
Grosseinkäufe im Familienwagen, Getränkevorrat für die Studentenparty, ein Korb voll Gemüse vom Bauernmarkt. Wir wollen von Ihnen wissen: Sind Sie ein Einkaufstourist?
Deutlich aktueller, jedoch mit ähnlich eingeschränkter Aussagekraft, ist eine weitere Zahl. So rechnet die deutsche Zollgewerkschaft damit, dass sie in diesem Jahr insgesamt 19 Millionen Ausfuhrscheine abstempeln wird.
Alleine im Einzugsgebiet des Hauptzollamtes Lörrach – diejenigen Grenzübergänge also, die aus der Region Basel angefahren werden – sollen es 6 Millionen werden. Pro Monat holen sich also 500’000 Menschen oder Haushalte aus der Region ihre Mehrwertsteuer zurück.
Beide Anhaltspunkte zeigen: Der Einkaufstourismus hat eine kritische Grösse erreicht, die nicht mehr bloss von wirtschaftlicher Relevanz ist. Wenn eine kleine Stadt wie Lörrach mit knapp 50’000 Einwohnern pro Monat fast das Zehnfache an Einkaufstouristen bewältigen muss, hat das Auswirkungen bis tief in die Gesellschaft, Politik und Stadtentwicklung hinein.
In Onlinekommentaren beklagen Deutsche aus grenznahen Regionen, sich angesichts des «ausufernden Einkaufstourismus» als «Konsumenten zweiter Klasse» zu fühlen. In Lörrach heisst der Samstag, nur halb im Scherz, «Schweizertag».
Entertainment muss sein, auch wenns Katzen hagelt. Dieser Mann flötet dem Regen zum Trotz. (Bild: Matthias Oppliger)
Ein Journalist aus Lörrach sagt, man habe Angst, «ein zweites Konstanz» zu werden. Die Stadt am Bodensee bricht unter dem wöchentlichen Ansturm aus der Schweiz fast zusammen. Die Strassen sind von Autos regelmässig derart überlastet und die Bevölkerung ist derart genervt, dass die Politik krampfhaft nach Lösungen sucht.
Der «Südkurier» hat versucht, dieser Frustration in einem Computerspiel Luft zu machen. Als «Super Urs» kann der Spieler im Stil von Super Mario durch Konstanz rennen, grüne Ausfuhrscheine einsammeln und keulenschwingenden Deutschen aufs Haupt steigen.
Schweizer Preise in Lörrach
Das Bild mit den Keulen mag einer rhetorischen Übersteigerung geschuldet sein, doch der Unmut nimmt zu. Denn die kauffreudige Kundschaft aus der Schweiz steigert nicht nur den Umsatz, sondern auch die Preise. So lassen wir uns erzählen, dass es im Restaurant Drei König am Marktplatz in Lörrach vor einigen Jahren noch ein Mittagsmenü für weniger als zehn Euro gegeben habe. Bei unserem Besuch kostet es 21.50 Euro. Eine grosse Fruchtsaftschorle gibt es für 5.40 Euro. Das sind Schweizer Preise.
Namentlich in der Gastronomie gehöre Lörrach zu den teuersten Pflastern Deutschlands, sagt Jörg Lutz, Oberbürgermeister in Lörrach. «Ich verstehe es gut, wenn sich da mancher deutsche Kunde fragt, wo er bei dieser Entwicklung noch bleibe.» Lutz sieht in Lörrach denn auch eine Grenze des Einkaufstourismus erreicht. Seit den jüngsten Kursentwicklungen habe sich die ohnehin rege Einkaufstätigkeit aus der Schweiz noch zusätzlich akzentuiert. «Eine weitere Steigerung würde dem Gesamtsystem nicht gut tun», sagt Lutz.
Auf der Liste der unerwünschten Nebenwirkungen des Einkaufstourismus tauchen zuoberst zwei Symptome auf: der Verkehr und die Mehrwertsteuer-Rückerstattung.
Verstopfte Strassen um die Mittagszeit, freie Fahrt hat nur das Tram. (Bild: Janick Zebrowski)
Wir stehen im Stau. Angesichts des Regens sind wir um die Mittagszeit in ein Taxi umgestiegen, die Fahrräder bleiben angekettet in der Lörracher Fussgängerzone zurück. Der Taxifahrer wiederholt immerzu das gleiche Wort. «Unfassbar», zischt er, «dieser Stau ist unfassbar.» Mit halblegalen Wendemanövern und auf raffinierten Schleichwegen versucht er uns zum Marktkauf in Weil am Rhein zu bringen. Nach der Lörracher Innenstadt das zweite Epizentrum des hiesigen Einkaufstourismus.
Doch die Scheibenwischer sowie die Geduld der Autofahrer sehen sich höchster Belastung ausgesetzt. Würde der Regen nicht so laut prasseln, wären die Flüche unseres Chauffeurs wohl nicht die einzigen, die wir hören würden. Gesten und Minen der anderen Verkehrsteilnehmer sprechen aber auch als Stummfilm Bände.
Für ihre Autokennzeichen gilt das gleiche. Wir sehen: unzählige BS und BL, einige AG, SO, ZH und BE. Sogar ein NE, ein FR und ein VD machen wir aus. Die «Badische Zeitung» titelte gleichentags «Brückentag ist Stautag». Als der Taxameter 25 Euro anzeigt, gibt der Taxifahrer entnervt auf und entlässt uns auf die verstopfte Strasse. «Zu Fuss seid ihr schneller und günstiger in Weil. Viel Erfolg.»
Der «grüne Zettel» ist neben dem Verkehr der zweite Stein des Anstosses. Einige Deutsche haben Mühe damit, zu akzeptieren, dass der Schweizer, der im Drogeriemarkt vor ihnen an der Kasse ansteht, für die gleichen Produkte 12 Prozent weniger bezahlen muss. Gerüchten zufolge sollen sich auch manche Deutsche bei grösseren Anschaffungen auf diesem Weg zu einem Rabatt verhelfen.
Oberbürgermeister Dietz sind diese Gerüchte auch schon zu Ohren gekommen. Er hält den Unmut angesichts dieser Zwei-Klassen-Konsumgesellschaft für ein «Grummeln im Untergrund». Es sei wahrscheinlich nicht für alle einfach zu verstehen, weshalb ausgerechnet die Schweizer mit der ohnehin schon grösseren Kaufkraft in Deutschland günstiger einkaufen dürfen sollen. «Ich werde beim Mittagessen im Restaurant oft darauf angesprochen, dass dies eine ungerechte Situation sei», sagt Dietz. Eine Lösung kann er seinen empörten Wählern jedoch nicht anbieten.
Schlangestehen gehört dazu. Im Verkehr, an der Ladenkasse und am Zollschalter. (Bild: Janick Zebrowski)
Einzig für das Handling der Ausfuhrscheine am Zoll sind Massnahmen angedacht. Denn die Zollgewerkschaft klagt seit Jahren, dass die gut ausgebildeten Zöllner ihre Zeit mit Stempeln verbringen und andere Aufgaben wie etwa Kontrollen und die Bekämpfung von Schmuggel zu kurz kommen würden. Die einseitige und wenig sinnvolle Auslastung der Zollressourcen ist jedoch nur eines der Probleme, die sich aus der Mehrwertsteuer-Rückerstattung ergeben.
Stark belastete Grenzübergänge
Wenn sich vor dem Zollschalter die Menschen stauen, stehen auf der Strasse beim Zollübergang auch die Autos. Die Rückstaus am Wochenende bei den Grenzübergängen Kleinhüningen und Otterbach sind legendär. Der Betriebsleiter der Verkehrsbetriebe Weil am Rhein–Lörrach, Thomas Lang, sagt, dass seine Busse am Samstag für eine Strecke, die normalerweise acht Minuten dauert, durchaus einmal 30 Minuten brauchen.
Die staugeplagte Bevölkerung und ihre politischen Vertreter setzen ihre Hoffnung deshalb auf die automatisierte Mehrwertsteuer-Rückerstattung. Ein entsprechendes Projekt ist vor Kurzem in die nächste Entwicklungsphase übergegangen. Dietz verspricht sich davon eine spürbare Entlastung der Grenzübergänge.
Aus Kundensicht wäre ein solches System zusätzlich attraktiv. Das Anstehen beim Schalter tun sich viele Schweizer Kunden nur bei grösseren Beträgen an. Eine Automatisierung wäre folglich ein Argument mehr, nach Deutschland einkaufen zu gehen.
Hieber setzt auf Schweizer
Darüber freuen sich natürlich die Händler, wie etwa Dieter Hieber sagt. Der Inhaber der gleichnamigen Ladenkette hat in seinen Geschäften die Abfertigung der grünen Zettel bereits maximal optimiert. Kunden mit Wohnsitz in der Schweiz können sich ein Kundenkonto mit Karte einrichten. Nach dem Bezahlen kommt der grüne Zettel fix-fertig ausgefüllt aus dem Drucker.
«Dr Hieber», wie seine Läden in der Schweiz genannt werden, ist die Manifestation aller Vorteile, die das Einkaufen in Deutschland für Schweizer bietet. Die Geschäfte sind gut erschlossen und verfügen über ausreichend Parkplätze. Das Angebot ist riesig, die Qualität gut, und dennoch liegen die Preise deutlich tiefer als in vergleichbaren Geschäften in der Schweiz. Die Strategie ist klar: Hieber setzt auf Schweizer.
«Die Schweizer kaufen seit dem Kurssturz deutlich hochwertiger ein.»
Bereits heute erzielen seine Geschäfte am Freitag und Samstag gleich viel Umsatz wie unter der Woche, sagt Hieber. An diesen Tagen stehen vor seinen Läden fast ausschliesslich Autos mit Schweizer Kennzeichen. Angesichts dieser Tatsache scheint es etwas tief gestapelt, wenn Hieber sagt, er mache bloss etwas mehr als 20 Prozent seines Umsatzes mit Kunden aus der Schweiz.
Eine Beobachtung hat der Händler jedoch gemacht: «Seit der Eurokurs zusammengebrochen ist, kaufen die Schweizer noch einmal deutlich hochwertiger ein, etwa beim Fleisch oder Wein.»
Die Konsumfreude der Schweizer Einkaufstouristen ist also ungebremst. Diese Aussichten locken weitere Investoren in die Region. Während sich Politik und Bevölkerung noch überlegen, wie mit diesen Verkehrsströmen umgegangen werden soll, sind in Weil am Rhein und Lörrach bereits zwei weitere grosse Einkaufszentren angekündigt.
Die Schlagfrequenz der Stempel am Zoll dürfte sich also noch um einige Takte erhöhen.
Je grösser die Familie, desto besser. Die Ausfuhrmengen gelten pro Kopf. (Bild: Janick Zebrowski)
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