Kein Freispruch für Fidel

Fidel Castros Tod wirft Fragen auf: Rückblickend, was seine Leistungen waren; vorausblickend, wie es nun mit dem Inselstaat Kuba weitergehen wird.

Fidel Castro (3L) visiting state agronomy school in Havana. (Photo by Lee Lockwood/The LIFE Images Collection/Getty Images)

(Bild: Getty Images)

Fidel Castros Tod wirft Fragen auf: Rückblickend, was seine Leistungen waren; vorausblickend, wie es nun mit dem Inselstaat Kuba weitergehen wird.

Die Welt hat zur Kenntnis genommen, womit man schon lange hatte rechnen müssen. Fidel Castro ist 90-jährig gestorben, obwohl ein Teil seiner Anhängerschaft ihn für unsterblich hielt. Während diese nun trauern, feiern andere – vor allem in Miami – seinen Tod mit seit Längerem für diesen Moment kalt gestelltem Champagner.

Es scheint so, dass die Geschichte – oder die Natur – dem Regime den Gefallen getan hat, den grossen Revolutionsführer ausgerechnet am 25. November und damit genau 60 Jahre nach seinem Aufbruch aus dem mexikanischen Exil und seinem mit 81 Kämpfern unternommenen Angriff auf das Batista-Regime sterben zu lassen.

Ob Castro wirklich zu diesem Zeitpunkt an sein Lebensende gekommen ist, spielt zum Glück keine Rolle. Nachvollziehbar ist jedoch die Vermutung geäussert worden, dass der alte Mann wahrscheinlich bereits Tage zuvor gestorben war, dann aber etwas warten musste, bis ein historisches Datum seinem Tod Sinn verlieh.

Repressives Regime

Mit dem definitiven Abgang Castros verbinden sich ein paar Fragen: rückblickend, was seine Leistungen waren; vorausblickend, wie es nun weitergehen wird. Und etwas genereller, was eine einzelne Person in der Geschichte bewirken kann und in welchem grösseren Kontext Castro seine Lebensrolle gefunden hatte.

Seine Leistungen lassen sich nach Taten und Untaten sortieren. Allerseits Anerkennung erhielten das auf seine Veranlassung aufgebaute Gesundheitswesen und teilweise auch das Erziehungswesen (angefangen mit der Alphabetisierung). Sehr verdienstvoll war gewiss auch, dass er 1959 das diktatorische und korrupte Folter-Regime seines Vorgängers Batista abgelöst hat, obwohl sich im Laufe der weiteren Jahre zeigen sollte, dass eine andere Zukunft als die von Fidel bestimmte für die Menschen auf Kuba besser gewesen wäre.

Wie wenig das Regime geschätzt wurde, zeigte sich am nicht versiegenden Strom der «Auswanderer». Die Flucht erfolgte allerdings nicht auf terrestrischem Weg, war keine Abstimmung mit den Füssen, wie man sagt, wenn andere, demokratische Abstimmungen nicht möglich sind. Sie wurde mit Fluchtbooten auf gefahrvollem Weg übers Meer unternommen, entweder nur zum Guantanamo-Teil der kubanischen Insel oder nach Florida.

Die Untaten: Sie bestanden im Errichten eines generellen Repressionsregimes und der rücksichtslosen Liquidierung einzelner Menschen, die Castro als Bedrohung der Revolution und seiner selbst einstufte. Das traf auch ehemalige Weggefährten zu. Über persönliche Bereicherung, wie in solchen Herrschaftsstrukturen üblich, ist nichts bekannt, doch dürften auch in diesem Fall die Getreuen hinter Mauern ein privilegiertes Leben geführt haben.

Castro forderte einen atomaren Erstschlag gegen die USA und hätte es hingenommen, wenn sein Volk zu Asche zerfallen wäre. 

Zu einer gigantischen Untat konnte der Máximo Líder dank der Vernunft der beiden Supermächte nicht ausholen. Wie man einem nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bekannt gewordenen Briefwechsel mit Nikita Chruschtschow entnehmen kann, forderte er 1962 einen atomaren Erstschlag gegen die USA und hätte es hingenommen, wenn dabei sein ganzes Volk «als Zement für eine neue Gesellschaft» zu Asche geworden wäre (wie Ernesto Che Guevara festhielt *).

Diese Bereitschaft zeigt, wozu der unmenschliche Weltverbesserer im Namen einer höheren Idee fähig gewesen wäre. Worum es 1962 – in der sogenannten Kubakrise – ging, ist in groben Zügen bekannt: Die Sowjetunion versuchte, ein paar ihrer Atomraketen auf der Zuckerinsel zu installieren. Das hätte eine akute Bedrohung der USA bedeutet und wurde vom amerikanischen Präsidenten J.F. Kennedy mit unmissverständlichen Gegendrohungen abgewendet.

Die USA waren nicht unschuldig, wenn sich das zunächst moderat revolutionäre Kuba schon bald vermehrt an die Sowjetunion anlehnte. Im Vorjahr hatten Exilkubaner mit amerikanischer Hilfe einen Invasionsversuch unternommen (Stichwort: Schweinebucht-Debakel). Das gab dem Revolutionsprogramm der Castro-Herrschaft weiteren Auftrieb und beschleunigte Castros Annäherung an die Sowjetunion.

1960 waren die weitgehend in amerikanischem Privatbesitz befindlichen Zuckerrohrplantagen verstaatlicht und in Produktionsgenossenschaften umgewandelt worden, was die USA mit einem Importboykott beantworteten und dazu führte, dass die Sowjetunion einsprang und den Zucker gegen Maschinen und Waffen bezog. Kuba näherte sich in dem Masse der Sowjetunion, wie es sich von der informellen Herrschaft der Amerikaner befreien wollte.

Unsterbliche Ideen

Vor gut zehn Jahren war Fidel Castro gezwungen, die Regierungsgeschäfte «vorübergehend» seinem fünf Jahre jüngeren Bruder Raúl, der während Jahrzehnten Kubas Verteidigungsminister war, abzutreten. Zutreffend wurde gesagt, dass aus einem jugendlichen Revolutionsführer ein alter Revolutionswächter wurde. In seinem letzten öffentlichen Auftritt vor einem halben Jahr erklärte er, dass jeder einmal sterben müsse, die Ideen aber (vor allem, wenn es die richtigen sind) unsterblich seien.

Unsterbliche Ideen? Die gibt es. Eine davon heisst soziale Gerechtigkeit. Es ging aber nicht einzig um Ideen, es ging auch um Methode, um die Operationalisierung der Ideen. Und da hätte man der Idee – oder den Ideen – und vor allem den davon direkt betroffenen Menschen auf Kuba eine um vieles bessere Umsetzung gewünscht.

Im März 2016 reiste Barack Obama als erster US-Präsident seit 88 Jahren zu einem offiziellen Staatsbesuch nach Kuba, er drückte wiederum, wie schon im Dezember 2013 bei Mandelas Beerdigung, Raúl die Hand. Drei Tage war Obama auf der Insel. Fidel wollte ihn offensichtlich nicht empfangen. Dies veranschaulicht, wie der greise Revolutionsführer die Geschichte der Gegenwart an sich vorbeiziehen liess – und damit auch verpasste.

Da kann uns der Diktatorenroman «Der Herbst des Patriarchen» (1975) in den Sinn kommen. Verfasst hat ihn der Nobelpreisträger Gabriel García Márquez. Es ist das einzige Werk dieses engen Freundes von Fidel Castro, das auf Kuba nie gedruckt wurde.

Drei Tage war Barack Obama auf Kuba. Doch Fidel Castro wollte ihn nicht empfangen.

Der kubanische Sozialismus hat die Wende von 1989 und den damit verbundenen Wegfall der sowjetischen Unterstützung überlebt. Er wird auch den Tod von Castro I überleben. Wer an die Stelle des jetzt bereits 85-jährigen und mit einer Amtszeit bis 2018 ausgestatteten Castro II treten wird, ist nicht bekannt. Dem Internet kann man entnehmen, dass Raúl zahlreiche Geschwister und Kinder hat. Wie in anderen Ländern könnte der künftige Staatschef auch aus der Armee hervorgehen, die 70 Prozent der Wirtschaft in ihren Händen hält.

«Die Geschichte wird mich freisprechen», hielt Castro 1953 nach einem gescheiterten Putschversuch dem ihn verurteilenden Gericht entgegen. Wenn damit gemeint war, dass sein Kampf gegen die Batista-Diktatur nach späterem Verständnis für berechtigt und nötig erachtet wird, könnte dies zutreffen.

In Hinsicht auf sein diktatorisches Regime, das er dann selber während beinahe eines halben Jahrhunderts führte, wird ihm die Geschichte keinen Freispruch geben. Er hätte es viel besser machen können. Das Beste, was man ihm zugutehalten kann: Er hat der Welt ein abschreckendes Musterexempel dafür geliefert, was die verheerenden Folgen exzessiver Planwirtschaft sind.

Resignierte Gesellschaft

Was wird nach der neuntägigen Staatstrauer passieren, während der keine Musikveranstaltungen und keine Alkoholverkäufe stattfinden dürfen?
 Es fragt sich, was das totalitäre Regime, dem die lebensfreudige Bevölkerung während eines halben Jahrhunderts unterworfen war, aus den Menschen gemacht hat: Wie weit es sie nachhaltig programmiert hat und ob und wie sie sich davon werden befreien können. Kenner reden aber nicht von einem durch und durch indoktrinierten Volk, sondern von einer zurückgezogenen, resignierten Gesellschaft.

Der überfällige Wandel hängt von mindestens drei sich gegenseitig bedingenden Voraussetzungen ab: Erstens von der weiteren Lockerung der amerikanischen Sanktionen. Zweitens von der Bereitschaft des Herrschaftskerns, der ja nicht nur aus den Castros besteht, die positiven Effekte des bisherigen Boykottabbaus an die Bevölkerung weiterzugeben. Und drittens von der Möglichkeit, dass mit der Wohlstandsanhebung eine Gesellschaft entsteht, die sich als Freiheit forderndes Volk eine demokratische Regierung geben will.

Nun wird auch spekuliert, was der exzentrische und entsprechend unberechenbare Noch-Nicht-Präsident Trump mit Kuba vorhat. Beide Varianten sind möglich: eine neue Eiszeit zwischen den USA und Kuba oder freie Fahrt für unideologisches Geschäften. Die USA hatten stets grossen, direkten oder indirekten Anteil an den Verhältnisse auf der seit 1898 in ihrem Machtbereich liegenden Insel.

Es ist Kuba zu wünschen, dass es schon bald eine tiefere Transition erleben darf und dass diese so unblutig verlaufen wird wie in Mitteleuropa nach 1989.

––
* Vgl. Ingo Juchler in den «Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte», 1/1993, S.79–100.

Nächster Artikel