Kein Fussball, keine Flüge, kein Frieden

Die Waffen schweigen seit 1994 mehrheitlich zwischen Armenien und Aserbaidschan, aber der Konflikt ist nie völlig erkaltet. Es geht um Geopolitik und Energieversorgung – und um einen Kleinstaat, der seit zwanzig Jahren an einer nicht anerkannten Unabhängigkeit festhält: die Republik Berg-Karabach.

Schwer gezeichnet: Die Festungsstadt Shushi wurde im Mai 1992 von den Armeniern erobert. Zahllose Ruinen zeugen noch heute vom Krieg. Foto: Meinrad Schade (Bild: Meinrad Schade)

Die Waffen schweigen seit 1994 mehrheitlich zwischen Armenien und Aserbaidschan, aber der Konflikt ist nie völlig erkaltet. Es geht um Geopolitik und Energieversorgung – und um einen Kleinstaat, der seit zwanzig Jahren an einer nicht anerkannten Unabhängigkeit festhält: die Republik Berg-Karabach.

An der Stelle, wo er zum letzten Mal mit seinem Panzer über eine Mine fuhr, hält er an. Es hat geregnet über Nacht, die Fahrspur liegt unter Schlamm. Lavrent fährt den weissen Jeep rechts ran, steigt aus, drückt seine Hände ins nasse Gras, wo die Mine vor fast zwanzig Jahren die dunkle Erde aufriss. 27 Mal ging das gut, sein sowjetischer Panzer war stark gebaut, Lavrent trug nur Prellungen davon, am Rücken, an der Schulter und den Oberschenkeln.

Die 28. Mine war mit Geschossmunition angereichert. Der rechte vordere Minenpflug seines Panzers jagte nach der Explosion in die Höhe und drückte das Dach des Panzers ein. Er streicht mit der rechten Hand über seine Glatze. Noch immer quälen ihn Kopfschmerzen von jener Nacht im Januar 1994, als Krieg war in Berg-Karabach.

Ein Krieg mit 30’000 Toten

Lavrent Shumanyan, 39, dichter Schnauz in einem zähen Gesicht, ist Karabach-Armenier, und als am 12. Mai 1994 ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet wurde, war er auf der Gewinnerseite. Drei Jahre hatten die beiden jungen Republiken Armenien und Aserbaidschan, herausgebrochen aus der implodierten Sowjetunion, um dieses bergige Land im Südkaukasus gekämpft. Aserbaidschan verwaltete das mehrheitlich von Armeniern bevölkerte Berg-Karabach in der Sowjetzeit als autonome Provinz, Armenien beanspruchte das Gebiet als Teil seines alten, lange unter­gegangenen Herzlandes.

Am Ende blieben 30’000 Tote, über eine Million Vertriebene und ein ungelöster, festgefrorener Konflikt zurück. Und ein unsichtbarer Staat, der auf keiner internationalen Landkarte eingezeichnet, von keiner Regierung der Welt anerkannt ist und wirtschaftlich wie politisch an der Nabelschnur der Mutternation Armenien hängt: die Republik Berg-Karabach. Ein Viertel der Fläche der Schweiz, knapp 150’000 Einwohner, 20’000 Mann unter Waffen.

Schlechte Zeiten für Helden

Dawaj, sagt Lavrent, los, schnippt seine dünne Zigarette in den Matsch und wirft sich hinters Lenkrad. Es ist der Morgen des 25. November, ein nebliger Sonntag, und wie jedes Jahr an diesem Tag fährt Lavrent zurück in den Krieg, zurück in seine Erinnerungen und weg aus der Gegenwart, die ihm ausser Kreditschulden und Arbeits­losigkeit nicht viel zu bieten hat.

Die Front, in deren Richtung sich der weisse Jeep dröhnend durch die braune Erde pflügt, ist nach 18 Jahren noch dieselbe. Trotz Waffenstillstand ist die Grenzlinie nie vollständig erkaltet, armenische und aserbaidschanische Soldaten liegen sich in Schützengräben mit nur wenigen Hundert Metern Distanz gegenüber. Seit Kriegsende sind durch Schusswechsel entlang der Grenze über 3000 Soldaten auf beiden Seiten gefallen.

Seit Kriegsende sind auf beiden Seiten Tausende Soldaten gefallen.

Nach der Ruinenstadt Aghdam, wenige Kilometer von der Frontlinie entfernt, einst grösste aserbaidschanische Stadt in Berg-Karabach mit fast 40’000 Einwohnern und seither nichts als Mauerreste, fährt Lavrent den Jeep nach Süden, vorbei an einem aufgegebenen muslimischen Friedhof, durchquert das Dorf Mersuli. Dort, am Rand von zerbröckelnden Mauern, steckt ein armenisches Kreuz aus Stein im Boden, davor frische Blumen und Kränze aus Tannenzweigen. Dort hält Lavrent.

Zwei Soldaten bewachen das Kreuz, einer links, einer rechts, beide kaum zwanzig Jahre alt, das Gewehr mit den Fäusten umklammert. Lavrent scheucht sie mit einer Handbewegung weg. Er will ein paar Momente alleine vor dem Kreuz verweilen. Alleine mit seinem Anführer Monte Melkonian, der hier vor 19 Jahren von einer Granate zerfetzt wurde.

Nullnull ist nicht mehr

Lavrent kennt die konkreten Todesumstände nicht genau, obwohl er zu Melkonians Division gehörte und nur ein paar Hundert Meter entfernt stand, um einen havarierten Panzer in Gang zu bringen. Da hörte er einen Knall, danach Stille, danach eine Funkdurchsage. Nullnull ist nicht mehr. Nullnull, die militärische Kennnummer für Melkonian.

In Stepanakert, der Hauptstadt der Republik Berg-Karabach, ist sein Antlitz allgegenwärtig. Wie stark sich diese Republik über das Militär, den Krieg und die mit Waffen errungene Scheinunabhängigkeit definiert, kann man am Feiertagskalender ablesen. Im Mai feiert die Republik die Befreiung der Festungsstadt Shushi, die im Krieg den Wendepunkt zugunsten der Armenier bedeutete. Im Juni folgt der Gedenktag für die gefallenen Soldaten. Im September der Unabhängigkeitstag. Im Dezember das Referendum von 1991, mit dem sich die armenische Bevölkerungsmehrheit für die Loslösung von Aserbaidschan und die Unabhängigkeit entschied. Ebenfalls im Dezember wird der zwanzigste Jahrestag der Armeegründung begangen. Die Zentrumsstrassen von Stepanakert sind mit Flaggen geschmückt, von denen der gefallene Kriegsheld Melkonian im Tarnanzug ernst in die Ferne blickt.

Verehrter Kommandant

Melkonian ist die Legende, an der sich ein von der Weltöffentlichkeit nahezu komplett ignorierter Kleinstaat aufrichten kann: Ein Sohn exilarmenischer Eltern in Kalifornien, der im libanesischen Bürgerkrieg für die armenische Bevölkerungsminderheit focht und als freiwilliger Untergrundkämpfer nach Karabach kam. Dort stieg er zum verehrten Kommandanten auf. Er habe, sagt man, nicht geraucht und nicht getrunken, keine Beute gemacht im Krieg, sein Essen immer seinen Soldaten weitergegeben und noch mit nackten Füssen gekämpft. Bis er fiel.

«Ich kann ihn mit niemand anderem vergleichen. Einer wie er ist mir nie zuvor begegnet und wird mir nie mehr begegnen», sagt Lavrent. Dann legt er eine gelbe Tulpe vor dem Kreuz nieder, schneuzt ins Taschentuch, kramt Zigaretten aus der schwarzen Lederjacke hervor, raucht schweigend. Dort, hinter dem Kreuz beim Dorf Mersuli, wo Lavrent nun Erinnerungen wälzt, ist in eine weisse Wand das Testament Melkonians eingemeisselt: Verlieren wir Karabach, blättern wir die letzte Seite der Geschichte unseres Volkes um, steht da.

Geld von der Diaspora

In Armenien, wo Melkonian auf dem Heldenfriedhof in Jerewan begraben ist, sind seine düsteren Worte Staatsräson geworden. Die Karabach-Armenier haben zwar ein nationales Parlament, einen Präsidenten, eine Nationalhymne, eigene Grenzübergänge und ein Aussenministerium, das Visa in den Landesfarben ausstellt. Aber sie bezahlen mit armenischen Dram, fahren Autos mit armenischen Nummernschildern, telefonieren über die armenische Landesvorwahl. Und Armenien zahlt: Zwei Drittel des Staatshaushaltes von Berg-Karabach stammen aus dem Mutterland, ein grosser Teil des Rests kommt über den «All Armenian Fund» zusammen, eine Stiftung, finanziert von der global verstreuten armenischen Diaspora.

Dieser mit grossen Summen gestemmte Kraftakt, die Bergrepublik zu halten, hat kuriose Konsequenzen: So ist das Pro-Kopf-Einkommen in Stepanakert höher als in Armenien, die Arbeits­losigkeit geringer, die Ausbildung an den drei Universitäten Stepanakerts fundierter, das Stadtbild mit den renovierten Häusern ansehnlicher als die postsowjetische architektonische Tristesse in den armenischen Städten. Aserbaidschan hat Öl und Gas, die Karabach-Armenier ihre Diaspora. Seit fast zwanzig Jahren dauert die Patt­situation an, ebenso die nationalistische Rhetorik auf beiden Seiten.

Geopolitisch brisant

Der Streit um Berg-Karabach ist einer von mehreren ungelösten ethnischen Konflikten aus der Erbmasse der Sowjetunion, aber er ist geopolitisch brisant. Aserbaidschan gehört zu den führenden Energieproduzenten der Welt. Der Staatskonzern Socar, der in der Schweiz sein Exportgeschäft abwickelt und als einer der Hauptsponsoren des Montreux Jazz Festivals auftritt, hält Anteile an zwei Ölpipelines, die via Georgien und Türkei den Westen mit Öl versorgen. Eine dritte Röhre für Erdgas soll 2014 gebaut werden.

Die Pipelines umgehen die Rohstoffgiganten Russland und Iran, wofür Aserbaidschan, eine Erbfolgediktatur, vom Westen hofiert wird. Wichtigster Verbündeter der Aserbaidschaner – ein Turkvolk – ist die Türkei, und zwischen diesen Ländern eingeklemmt liegt Armenien. Mit der Türkei ist Armenien seit dem Genozid an der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich 1915 traditionell verfeindet. 2009 war in Zürich unter der Schirmherrschaft von Hillary Clinton und Micheline Calmy-Rey die Aussöhnung nahe, scheiterte jedoch an der Karabach-Frage.

Verworrenes Geflecht

Damit endet das überkreuzte Allianzmosaik in der Region nicht: Armenien, das erste Land der Welt, das das Christentum zur Staatsreligion erhob, ist erstaunlicherweise mit dem süd­lichen Nachbar, dem schiitischen Gottesstaat Iran verbunden, der mit dem ebenfalls schiitischen Aserbaidschan aufgrund nicht vollständig beigelegter Gebietsansprüche ein kühles Verhältnis pflegt. Aserbaidschan unterhält ausserdem mit Israel eine militärische Partnerschaft. Und Russland ist zwar die inoffizielle Schutzmacht Armeniens, hat im Nordkaukasus ­jedoch selbst mit seinen trennungsbereiten Teilrepubliken zu kämpfen und ignoriert die Karabach-Frage.

Bricht zwischen Aserbaidschan und Armenien wieder Krieg aus, ist die Sogwirkung für die Weltpolitik unabsehbar. Der Status quo ist daher die beste aller schlechten Lösungen für den Konflikt, dieser Ansicht scheint zumindest die Weltgemeinschaft zu sein: Mandatiert von der OSZE kümmert sich die sogenannte Minsker Gruppe, besetzt von Botschaftern Frankreichs, Russlands und den USA, seit Kriegsende um eine Friedenslösung – ohne Erfolg. Letztmals besuchte die Minsker Gruppe im November 2012 die Region, das konkreteste Statement an der Pressekonferenz in Stepanakert: Die Republik Berg-Karabach solle ihren Flughafen nicht in Betrieb nehmen, um keine Komplikationen zu verursachen.

Warten auf den ersten Flieger

Die Geschichte des Flughafens von Stepanakert, wenige Kilometer östlich der Stadt gelegen, steht sinnbildlich für die Republik, die zwar eine staatliche Fassade, jedoch kaum Handlungsfähigkeit aufweist. 2009 wurde der kleine Flughafen, im Krieg zerstört, neu gebaut: in schmuckem Blau, architektonisch inspiriert vom Staatswappen, ein Adler mit ausgebreiteten Flügeln. Mehrmals wurden die ersten Linienflüge zwischen Stepanakert und Jerewan angekündigt. Gelandet ist bisher keiner, offiziell aus Sicherheitsgründen: Aserbaidschan hat angekündigt, jeden Flieger abzuschiessen, die Front ist nicht weit.

Der Status quo ist die beste aller schlechten Lösungen.

Gearbeitet wird auf dem Flughafen trotzdem, zumindest sind Angestellte vor Ort. Bei der Ankunft kommt ein Sicherheitsmann zur Begleitung. Bei der Gepäckkontrolle sitzt eine junge Frau. Zwei- oder dreimal wöchentlich landen private Helikopter von armenischen Geschäftsmännern hier, deren Gepäck schiebt sie durch den Scanner. Wenn die Mechaniker kommen, kontrolliert sie auch deren Gepäck. Ansonsten wartet sie. Man kann die Leute nicht einfach wieder entlassen, nur weil noch immer keine Flüge landen, sagt unser Begleiter, ein Angestellter des Aussenministeriums.

Ein ähnlicher Fall ist die neu formierte Fussballnationalmannschaft von Berg-Karabach. Das Sportstadion liegt im Stadtzentrum, unterhalb des Präsidenten­palasts. Hier trainiert in der Abenddämmerung die Mannschaft, zumindest jene zehn Spieler, die gerade im Land sind. Bisher bestritt das 2010 gegründete Team zwei Spiele, im September und Oktober 2012, gegen die Auswahl von Abchasien, international ebenfalls nicht anerkannt. Auswärts trennte man sich 1:1, das Heimspiel in Stepanakert, das erste der Geschichte, wurde 3:0 gewonnen. Vor einem vollen Stadion.

Der Trainer, Sargis Aghajanyan, 47, steht im dunkelgrauen Trainingsanzug am Rasenrand, auf dem Rücken in Blockschrift «Karabach», Hände in den Taschen, die Mütze tief im Nacken. Aghajanyan legt, auf den Sieg gegen Abchasien angesprochen, ruhig die Hand auf die Brust und sagt: «Erstmals hörte man unsere Nationalhymne vor einem Spiel im Stadion.» Jedes Mal, wenn das Publikum ein Tor beklatschte, habe er gewusst, ein Prozent des Applauses sei für ihn.

Von dieser Ehre wird er eine Weile zehren müssen, denn bis zum nächsten Spiel ist es weit. Weil Berg-Karabach weder in die Uefa noch in die Fifa aufgenommen wird, bleibt der Spielkalender 2013 vorläufig leer. Das nächste Ziel ist der Viva World Cup 2014, ein Turnier der nicht anerkannten Staaten.

Die östlichste Spitze Europas

Keine Flüge, kein Fussball, kein Frieden. Bleiben die armenisch-aserbaidschanischen Kontakte auf Gefrier­niveau, schaffen die Bemühungen der Regierung von Berg-Karabach, den Staat aufzubauen, kaum mehr als Luftschlösser. Unterhalb der offiziellen Agenda aber, auf der Ebene der ­Zivilgesellschaft, fruchten sie. Im Artsakh Youth Development Center an der Azatamartikneri Avenue kommen Abend für Abend junge Studenten zusammen und simulieren unter den Augen von Susanna Petrossian jene Gesellschaft, zu der dieser Staat einst werden soll: die östlichste Spitze der europäischen Wertegemeinschaft.

Susanna, 32, Englischdozentin an der staatlichen Universität, hat das private Center 2011 mit Spenden­geldern eröffnet, mittlerweile lernen die Studierenden dort Sprachen, Recht, Informatik, politische Debatten. Susanna sitzt am Kopfende einer hufeisenförmigen Tischreihe und schraubt an einem alten Hellraumprojektor herum. 14 Studentinnen und ein Student warten auf den Diskussionsbeginn. Das Thema: die Rolle der Medien in freien Gesellschaften.

Ein Student der Politikwissenschaft steht auf und sagt, solange der Nachbar mit Krieg drohe, dürfe man die Regierung nicht kritisieren. Eine Studentin der Journalistik hält dagegen, die Regierung sei gewählt, um das Leben zu verbessern, und noch immer gebe es Armut auf dem Land. Danach wird es laut. Susanna lässt den Krach ein paar Sekunden toben, dann ruft sie zur Ordnung. Am Ende der Diskussion sagt sie: Die Jugend muss lernen, nicht einverstanden zu sein.

Der Krieg in den Köpfen

Der Krieg, das wird in diesen Diskussionen deutlich, ist auch in den Köpfen derer, die nur ganz vage Erinnerungen an ihn haben: an Nächte in Bunkern, an knappe Lebensmittel, an zerstörte Häuser. Verlassen wollen sie das Land nicht. Eine will Lehrerin werden, eine Psychologin, eine im Ausland Zahnmedizin studieren, danach jedoch zurückkommen. Die Zukunft in Karabach? Very bright, sagt sie.

Susanna nickt und schweigt. Zuvor hat sie von ihrer eigenen Ausbildung erzählt, von der Freiwilligenarbeit in Waisenhäusern, die sie vor über zehn Jahren in den abgelegenen Regionen der Republik verrichtet hat, wo es keinen Strom und kein Wasser gab, und wo keine Journalisten hinfuhren, um über die Missstände zu berichten. Denkt nicht an Lohn oder Anerkennung, schärft sie den Studenten ein, denkt nicht an Profit. Sondern daran, was ihr dem Land geben könnt.

Lavrent Shumanyan ist zurückgekehrt von der Front, zurück von der verwaisten Gedenkstätte an seinen gefallenen Kommandeur, wo er die Hände anderer Veteranen geschüttelt hat. Zurück in seiner Wohnung zuoberst in der alten Festungsstadt Shushi, im dritten Stock eines Plattenbaus aus den Breschnew-Jahren, wo jede zweite Wohnung leer steht und der Wind durch die glaslosen, offenen Fenster peitscht. Lavrent blieb auch nach Kriegsende Berufssoldat, bis er zu alt war. Danach nahm er einen Kredit von fünf Millionen Dram, umgerechnet 10 000 Franken, auf, kaufte sich ein Taxi und einen Lastwagen für Transportfahrten, eröffnete einen kleinen Lebensmittelladen.

Zeit, heimzukehren

Das Geschäft läuft nicht, er hat Schulden. Was er dem Land geben konnte, war seine Kampfkraft als Soldat. Aber vom Geld, das aus dem Ausland nach Karabach fliesst, sieht er nichts. Manchmal, wenn er mit seinem alten Taxi durch die Hauptstadt Stepanakert fährt und Kunden sucht, die er für vier Franken herumfahren kann, wenn er dann die neuen Autos in der Stadt sieht, die Jeeps und BMWs, die Leuten gehören, von denen im Krieg keiner sprach, denkt er: Vielleicht wäre ich besser gefallen.

Was hält er von den Versuchen in Stepanakert, einen Staat zu bauen? Armenier sind Familienmenschen, antwortet er, und Familien sollte man nicht trennen. In den Krieg gezogen sind wir für ein geeintes Armenien. Nun haben wir zwei Staaten, von denen der jüngere unabhängig sein will vom älteren, aber ohne das Geld aus dem Mutterland zusammenbrechen würde. Zwanzig Jahre dauert die ­Situation nun an. Nach zwanzig Jahren ist man erwachsen, sagt Lavrent. Da wird es Zeit, heimzukehren.

Dann stellt er die leere Teetasse auf den Tisch, drückt die Zigarette aus, wirft sich den schweren Mantel über und tritt hinaus in die kalte Nacht. Er dreht die letzte Runde mit dem Taxi. Vielleicht steht irgendwo noch einer.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 18.01.13

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