Teil zwei unserer Reportage aus Roggenburg handelt von den wichtigsten Institutionen des Dorfs, den Motcross-Rennen, dem früheren Pöstler – vor allem aber der Dorfbeiz, dem «Rössli». Dort kommt nicht nur an der Fasnacht ganz Roggenburg zusammen. Und doch könnte bald Schluss damit sein.
Jedes Dorf hat seine Persönlichkeiten, in Roggenburg ist das nicht anders. Der ehemalige Schweizer Meister im Wettkampfpflügen Toni Stadelmann ist für seine sportliche Leistungen hochgeachtet im Dorf, auch im Traktor-Geschicklichkeitsfahren ist ein Roggenburger national vorne dabei.
Doch an Ernst Gerber reichen sie alle nicht heran. Gerber ist die wichtigste Institution in der 280-Seelen-Gemeinde, der 75-jährige pensionierte Mechaniker wirtet in der letzten Beiz im Dorf, dem «Rössli». Seit seine Frau vor zehn Jahren erkrankt ist, führt Gerber das Rössli, dessen Geschicke seit 100 Jahren und mehr in den Händen der Familie der Frau liegen.
Gerber sitzt in der Küche, die einer anderen Epoche entliehen scheint. Der Kochherd wird mit Holz befeuert, eine Geschirrwaschmaschine ist nicht zu sehen. Auf dem Tisch, mitten in der gekachelten Küche, liegen Zigaretten, die er selber in Delsberg besorgt hat. Weiter schafft er es selten, und auch mit dem Anschluss ans Baselbiet hat er sich abgefunden. «Wir sind hier sowieso vom Rest der Welt getrennt.»
Die Zeit steht still
In Gerbers Rössli ist alles so wie es lange damals schon war. Auch deshalb passt die Beiz hierher. Einen Koch kann sich Gerber nicht leisten, also schenkt er nur Getränke aus. Das reicht schon. Nicht um Geld zu verdienen, aber um die Roggenburger zufriedenzustellen. «Zu mir kommt das ganze Dorf», sagt Gerber. Er macht den Wirt dem Dorf und seiner Frau zuliebe. «Ich mache das, solange es meine Gesundheit erlaubt.» Gibt es einen Nachfolger? Der gemütliche Wirt lächelt nur und kneift die feinen blauen Augen zusammen.
In der Roggenburger Fasnachtswoche ist das Rössli bis auf den letzten Tag belegt. Hiesige Waggis und die Ederschwiler Schmätter Spatze aus dem jurassischen Nebenan bestimmen den Ton. An einem Tisch sitzt sogar ein Bloch und unterhält sich in aller Ruhe mit einem Walther. An der Fasnacht wie am Dorffest kommt das ganze Dorf zusammen, das ausser seinem Zusammenhalt nicht mehr viel hat. Kleine Fluchten halt, nach dem wunderbar rührenden Film von Yves Yersin, der zu Teilen in Roggenbrug spielt.
Yersin erzählt die Geschichte von Hofknecht Pipe, der sich eines Tages ein Töffli kauft und auf der Suche nach der kleinen Freiheit an einem der Motocross-Rennen in Roggenburg landet. Und an der Motocross-Strecke landen sie alle irgendwann mal. 20’000 Besucher kamen in den goldenen Jahren zu den internationalen Rennen, heute sind es vielleicht noch 4000, aber immer noch 15-mal so viele, wie Roggenburger Einwohner hat.
Les Petites Fugues (Kleine Fluchten)
Die Motocross-Rennen sind der Stolz des Dorfs, auch weil Roggenburg damit seinem Nachbarn Ederswiler eines auswischen kann. Die Roggenburger und Ederswiler führten bis 1971 einen gemeinsamen Motocross-Club, dann gerieten die Sturköpfe in beiden Lagern aneinander und heute gibts nicht nur zwei Clubs, sondern auch zwei Pisten. Während in Roggenburg Weltmeisterschaften ausgetragen werden, muss sich der jurassische Nachbar oft mit kleineren Rennen begnügen.
Kleine Fluchten kennt auch Peter Walther, der frühere Pöstler von Roggenburg. Der 52-Jährige rennt für sein Leben gerne, war auch schon mit Marathonläufer André Rötheli im Trainingscamp. Dabei sieht Walther an der Fasnacht eher wie ein geschlechtsverwirrter Engel aus. Blonde lange Zöpfe, Rouge auf den Wangen, ein weisses Kleidchen und zwei Flügel auf dem Rücken. «Im Himmel haben wir keine TagesWoche, aber ich werd Gott sagen, er solle ein Abo lösen» – Walther ist ein lustiger Zeitgenosse.
Roggenburg war immer seine Heimat, seine Eltern führten bis anfangs der 1980er Jahre einen Laden im Dorf, er später die Post, bis diese vor gut zwei Jahren aus Rentabilitätsgründen geschlossen wurde. Walther mag sich nicht grämen: «Wenn es nicht rentiert, macht es doch keinen Sinn, einfach weiterzumachen.»
Spott aus Laufen
Walther versteht auch, dass die ÖV-Verbindungen schlecht sind, er hat sich damit arrangiert. Geht die Tochter an die Laufner Fasnacht, holt er sie spätabends in Kleinlützel ab, wohin der Bus noch häufig fährt. Ein Wegzug war nie Thema, er schätzt die hohe Lebensqualität im Dorf und das intakte Gemeinwesen. «Es ist schade, dass uns die Laufener belächeln und spötteln, wir würden hinter dem Mond leben. Wenn ich an all die Schlafdörfer im Laufental denke, können wir ganz stolz auf uns sein, die Leute hier sind sehr aktiv.»
Das Problem der Abgeschiedenheit von Basel sei eine Frage der Relationen, Walther ist viel herumgekommen, seine Frau ist Norwegerin, sie war eine der ersten Ausländerinnen im Dorf. Eine dreiviertel Stunde Weg für Arbeitspendler nach Basel sei verschmerzbar, wenn er an die Distanzen im Land seiner Frau denke.
Dem SC Bern gehören die Herzen
Der blonde Fasnachtsengel wirkt gelassen. Auch was den ewigen Streit im Dorf um die eigene Zugehörigkeit angeht. Walther war immer für den Übertritt vom Kanton Bern ins Baselbiet. Heute, findet er, sei ersichtlich, dass Roggenburg nicht darunter gelitten habe – im Gegenteil.
Virulent ist der Konflikt nicht mehr, er hat sich ins Folkloristische verlagert und zeigt sich etwa darin, dass keine FCB-Fahnen in und an den Häusern hängen, sondern solche der Berner Young Boys oder mehr noch des SC Bern. Wenn das ganze Baselbiet für den FC Basel ist, müssen sie ja nicht auch noch dafür sein. Eine kleine Flucht gewissermassen.