Kosovo feiert seinen zehnten Geburtstag als selbstständiger Staat. Das erinnert uns an ein Land, über das fast täglich Nachrichten bei uns eintreffen. Nun sind wir indirekt dazu aufgerufen, uns mit dessen Zustand etwas eingehender auseinanderzusetzen – und aus gegebenem Anlass die Bilanzfrage zu stellen.
Von Bilanzen will man in der Regel wissen, ob sie positiv oder negativ sind. In diesem Fall ist die Bilanz sehr durchzogen. Und hinter der Bilanz steht die allgemeinere Frage, ob und wie in einem von Gewalterfahrung belasteten Gebiet ein Staat aufgebaut werden kann.
Mehrheitlich anerkannt
Der Kosovo mit seinen knapp 1,9 Millionen Menschen war bis 1992 ein Teil Jugoslawiens, dann ein Teil der Republik Serbien. 1999 kam der Kosovo unter UN-Verwaltung (Unmik), und am 17. Februar 2008 – seinem Geburtstag – wurde er in einer formalrechtlich einseitigen Erklärung zu einem selbstständigen Staat. Dieser wird von einer Mehrheit der Staatengemeinschaft anerkannt (von 116 der 193 UN-Mitglieder).
Einige Staaten, die selber latente Abspaltungsprobleme haben wie Spanien mit Katalonien, aber auch Russland und China, versagten die Anerkennung. Frankreich hingegen, anerkannte den Kosovo, obwohl es auch im eigenen Land mit der korsischen Unabhängigkeitsbewegung konfrontiert ist.
Die Schweiz, ohne Abspaltungsprobleme, aber mit einer starken kosovarischen Immigration, war unter den ersten der anerkennenden Staaten. Auf eigene Art besonders wichtig ist, dass das Land der Fussballtalente 2017 offizielles Fifa- und Uefa-Mitglied geworden ist.
Der Kosovo ist stark auf die EU ausgerichtet. In den ersten Tagen des jungen Staats galt Beethovens «Ode an die Freude» inoffiziell als Nationalhymne. Die Monate später offizialisierte Hymne trägt noch immer «Evropa» als Titel, auf einen Text wurde bewusst verzichtet, um Konflikte mit ethnischen Minderheiten zu vermeiden. Der inoffiziell dahinter liegende Text ist jedoch – wie die meisten Hymnen – nationalistisch, spricht von Tapferkeit und «Nest der Liebe».
Das Nationalgefühl ist im Kosovo vorhanden, jetzt müsste es dem Aufbau einer Zivilgesellschaft zugutekommen.
Muss der Kosovo das «nation building», das viele europäische Staaten im 19. Jahrhundert vorangetrieben haben, jetzt nachholen? Damals ging es um die Entwicklung eines Nationalgefühls im Dienste der Modernisierung von Staat und Wirtschaft. Im Falle des Kosovos ist das Nationalgefühl bereits in starkem Mass vorhanden, jetzt müsste es dem Aufbau einer kräftigen Zivilgesellschaft zugutekommen.
Die offizielle Währung ist der Euro, und die Flagge lehnt sich an die der EU an: ein blauer Hintergrund als Signal der Verbundenheit mit dem euro-atlantischen Komplex und als Farbe der Hoffnung; die sechs weissen und nicht gelben Sterne als Repräsentation der ethnischen Gruppen, der Albaner (immerhin 88%), Serben (7%), Roma, Bosniaken, Türken und der restlichen Minderheiten (z.B. die muslimische Gruppe der Aschkali).
Die europäisch-blaue Flagge ersetzt gewissermassen das rote Banner mit dem Doppelkopfadler. Dieser taucht jedoch immer wieder auf und sorgte 2014 in Kombination mit den auf dem Tuch ebenfalls abgebildeten Umrissen von Grossalbanien im EM-Qualifikationsspiel zwischen Serbien und Albanien für Empörung.
Armut, Arbeitslosigkeit und Auswanderung
An der Münchner Sicherheitskonferenz vom vergangenen Wochenende war die partielle Zusammenlegung des Kosovo mit Albanien gerade wieder ein Thema. Das ist eine weitere Baustelle und fördert nicht wirklich die Stabilität der Region, zumal es in grossalbanischen Träumen noch weitere «unerlöste» Gebiete gibt.
Die bisherigen Ausführungen erwecken den Eindruck, dass ethnische Gegebenheiten die grösste Belastung des jungen Gebildes sein könnten. Grössere Probleme – man kann sie auch Baustellen oder Herausforderungen nennen – liegen jedoch anderswo: in der wirtschaftlichen Schwäche des Landes beziehungsweise den drei A für Armut, Arbeitslosigkeit und Auswanderung. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über 50 Prozent. Durch Auswanderung verliert der Kosovo nicht nur junge Leute, er verliert auch künftige Konsumenten für seine Wirtschaft.
Die Korruptionskultur ist in diesem Land so stark, dass selbst die Rechtsstaatlichkeitsmission der EU davon erfasst wurde.
Hinzu kommt die fehlende Rechtssicherheit. Beides hängt – teilweise – zusammen, bedingt sich gegenseitig: weil rechtsstaatlich schwach auch wirtschaftlich schwach, das heisst ohne die dringend benötigten Auslandinvestitionen. Ebenfalls schwach bestellt ist es mit der Unabhängigkeit der Medien, die doch gerade in solchen Verhältnissen eine besonders wichtige Wächterfunktion haben müssten.
Die Korruptionskultur ist in diesem Land so stark, dass selbst Eulex davon erfasst wurde. Die von der EU eingesetzte und mit einem Jahresbudget von 63 Millionen Euro ausgestattete Rechtsstaatlichkeitsmission hat oder hätte den Aufbau von Polizei, Justizwesen und Verwaltung fördern sollen; diesen Sommer beendet sie ihre wenig erfolgreichen Bemühungen.
Bekanntlich braucht es jedoch weiterhin die Präsenz der 1999 geschaffenen Kosovo Force (Kfor), an der auch die Schweiz mit 235 Swisscoys und 44 Millionen Franken beteiligt ist.
Schwach, aber nicht gescheitert
Im Zusammenhang mit dem zehnjährigen Geburtstag wurde – ohne Antworten zu wagen – am Rande die Frage berührt, ob der Kosovo ein gescheiterter Staat («failed state») sei, so wie Eulex eigentlich eine «failed organization» ist. Der in den 1990er-Jahren aufgekommene und spezielle auf afrikanische Staaten ausgerichtete Begriff «failed state» bezieht sich auf drei Indikatoren: Sicherheit, Wohlfahrt und Rechtsstaatlichkeit.
Im Falle des Kosovos ist es allerdings völlig unangemessen, schnell ein Scheitern zu diagnostizieren. Es gibt zwar erhebliche Schwächen, der junge Kosovo ist zur Zeit nur, aber immerhin ein «weak state» und seit Jahren eine grosse Baustelle.
Eine Zukunft hat der Kosovo in jedem Fall, ob eine gute oder eine schlechte. Die Staatsgründung vor zehn Jahren ist nicht etwas, das wie ein misslungener Test abgebrochen werden kann. Die Hauptfrage ist, ob gegenwärtige Schwächen chronisch werden oder das Land auf dem richtigen Weg in eine bessere Zukunft ist.
Es gibt starke Zeichen, die Hoffnungen machen, aber nicht auf der Seite des Staates, sondern aus der Zivilgesellschaft.
Punktuell gibt es starke Zeichen, die Hoffnungen machen, aber nicht auf der Seite des «state», sondern aus der Zivilgesellschaft. Dies zu einem erheblichen Teil dank Initiativen von Rückkehrern, die vor allem nach Deutschland und der Schweiz ausgewandert waren.
Eindrücklich ist die Geschichte von Vllaznim Xhiha, der an der ETH studierte, eine Stromversorgungsfirma gründete und sie 2011 für 170 Millionen verkaufte. Heute ist er Präsident mehrerer kosovarischer Unternehmen, unter anderem von EYE (Encouraging Young Entrepreneurs), in dem junge Menschen in neuesten Technologien ausgebildet werden.
Damit werden starke Zukunftsperspektiven geschaffen und zugleich wird – gegen innen wie gegen aussen – gezeigt, dass das bisherige Versagen Kosovos nichts mit den hier lebenden Menschen zu tun hat, sondern auf die politisch-kulturellen Rahmenbedingungen zurückzuführen ist.
Aus gegebenem Anlass werden allerdings auch andere Geschichten serviert, Berichte von doppeltem Scheitern: im fernen Auswanderungsland und dann erneut zu Hause nach der Rückkehr.
Abhängig von den Ausgewanderten
Der Kosovo ist seit zehn Jahren «souverän». Dabei handelt es sich aber um eine sehr abhängige Unabhängigkeit. Abgesehen von den Hilfsgeldern der EU und der UNO ist der Staat – wie viele Entwicklungsländer – auch von den regelmässigen Zahlungen («remittences») abhängig, die von Ausgewanderten nach Hause geschickt werden. Diese Gelder werden hauptsächlich zur Deckung elementarster Bedürfnisse eingesetzt und kaum für aufbauende Investitionen.
Für 2016 lagen die Überweisungen bei 691 Millionen Euro, wovon 156 Millionen aus der Schweiz kamen. Das ist auch in der Schweiz oft nicht leicht verdientes, sondern über Zusatzjobs hart erworbenes Geld.
Hilfe ist willkommen, aber Dreinreden und Normen setzen, das soll man gefälligst bleiben lassen.
In einem Interview vertrat Kosovos Premierminister Ramush Haradinaj, der wie auch Kosovos Präsident Hashim Thaçi vorübergehend in der Schweiz gelebt hat, die Meinung: «Unsere Probleme sind auch eure Probleme.» Die Schweiz und der Kosovo seien schliesslich beide Teil desselben Kontinents.
Diese Aussage steht allerdings etwas quer zu anderen Statements, welche den Willen zur Unabhängigkeit und Übernahme von Eigenverantwortung betonen. Das eine schliesst das andere freilich nicht aus, beides ist aber nicht leicht in Einklang zu bringen. Es ist eine Situation, die man aus Verhältnissen zwischen Geber- und Nehmerländern kennt. Hilfe ist willkommen, aber Dreinreden und Normen setzen, das soll man gefälligst bleiben lassen.
Der Geburtstag war und ist auch Anlass, einen Blick auf die rund 200’000 in der Schweiz lebenden Kosovaren und Kosovarinnen zu werfen. Da wird festgestellt, dass diese Menschen – wie zuvor bei der italienischen Einwanderung – eine starke Verteilung auf alle gesellschaftlichen Bereiche erfahren haben. Einige davon müssen, was das Alltagsleben betrifft, noch immer einen Balanceakt zwischen traditionellem und neuem Lebensstil vollbringen.
Für viele ist es aber, gemäss einer Diaspora-Studie des Bundes, wie bei Angehörigen anderer Immigrationsgruppen, inzwischen kein Problem mehr, eine sich gegenseitig nicht beeinträchtigende Mehrfachidentität zu leben.