Können sie Putin stürzen?

Mitgliedern einer feministischen Punkrock-Band wird der Prozess gemacht. Das Urteil wird in Kürze erwartet. Aber wer sind die jungen Frauen? Ein geheimes Treffen im Moskauer Untergrund.

Pussy Riot: Ihr Auftritt in einer Moskauer Kirche führte zur Verhaftung und Verurteilung.. (Bild: sda)

Mitgliedern einer feministischen Punkrock-Band wird der Prozess gemacht. Aber wer sind die jungen Frauen? Ein geheimes Treffen im Moskauer Untergrund.

Seit zwei langen Tagen schon unterhalte ich mich hier in Moskau ohne Unterlass über diese drei Frauen. Die Pussy Riots. Die Mitglieder der feministischen Punkrock-Band sangen in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale, wurden später verhaftet und ohne Möglichkeit auf Kaution inhaftiert. Ihnen stehen nun möglicherweise bis zu sieben Jahre Gefängnis bevor. Thema meiner Gespräche ist auch, dass die Anordnungen in diesem Fall von der Spitze der russischen Regierung zu kommen scheinen und dass der Prozess, der am Montag begonnen hat, wohl zu einem entscheidenden Moment der politischen Karriere Wladimir Putins werden wird. Viele, eigentlich praktisch alle, mit denen ich rede, meinen sogar, die Zukunft des Landes entscheide sich daran – auch wenn man noch nicht absehen könne wie.

Vorigen Donnerstag werde ich nachts in einen Keller in einem Industriegebiet geführt. Hier wendet sich die Geschichte vom Erstaunlichen ins Absurde. Ich treffe Pussy Riot. Mit Strickmasken, Kleidern und Strumpfhosen in knallbunten Farben sitzen sie im Schneidersitz auf dem Boden eines winzigen, heißen, hell erleuchteten Proberaums. Aber es sind nicht Nadeschda Tolokonnikowa, 22, Maria Aljochina, 24 und Jekaterina Samuzewitsch, 29 – alias Nadia, Mascha und Katya –, denen ich hier begegne. Die sitzen im Gefängnis, und niemand, auch nicht ihre Ehemänner, Familien und Freunde, durfte sie bislang besuchen. Aber Pussy Riot besteht auch nicht nur aus diesen dreien, sondern ist ein Kollektiv, dem «mehr als zehn» Frauen angehören. Unter anderem zwei, die in der Kirche ebenfalls dabei waren und sich noch auf freiem Fuß befinden. Diese Mitglieder von Pussy Riot sind untergetaucht. Es ist ihr erstes Interview mit westlichen Medien.

Kein Politiker oder Journalist hat für so viel Aufruhr gesorgt

Die Strickmasken tragen sie, weil sie anonym sein wollen, nicht voneinander zu unterscheidende Repräsentantinnen einer Idee. Das ist es, was Russland so fesselt und auch auf der übrigen Welt für Aufmerksamkeit sorgt: Dass Russlands Regierung eine Idee verhaftet hat und durch die Gerichte mit einer Rachgier verfolgen lässt, die man so bislang nicht erlebt hat. Eine Idee, die von drei jungen gebildeten Frauen aus der Mittelschicht verbrochen wurde.

Pussy Riot sind nett, klug, sensibel, witzig, und sie fürchten sich nicht, für das aufzustehen, woran sie glauben. Eine von ihnen betont sogar, «Freundlichkeit» sei ein wichtiger Teil ihrer Ideologie. Trotzdem haben sie mehr dafür getan, den moralischen Bankrott der Putin-Regierung zu offenbaren, als wohl irgendjemand sonst. Kein Politiker oder Journalist, keine Oppositionellen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens haben für so viel Aufruhr gesorgt oder eine Debatte von solch potenzieller Bedeutung angestoßen. Das Allererstaunlichste daran – mehr noch als die Tatsache, dass sie sich Feministinnen nennen in einem Land, das von den Frauenrechten vergessen wurde – ist die Tatsache, dass sie dies mit Kunst geschafft haben.

Interview im Keller

Wie fühlt man sich dabei? «Man hat das Gefühl, sich in einer einzigartigen Position zu befinden, gleichzeitig ist es aber auch ziemlich erschreckend, weil damit eine große Verantwortung einhergeht. Wir machen das hier nicht bloß für uns, sondern für die Gesellschaft», sagt die Frau mit dem Spitznamen Squirrel (Eichhörnchen). Ihre bunten Outfits mögen wirken wie aus einem Comic, die Masken sollen jedoch nicht nur ihre Gesichter unkenntlich machen – die Anonymität ist so symbolisch, wie sie unabdingbarer Teil ihrer gesamten künstlerischen Vision ist. Alle der Frauen tragen Spitznamen, die sie nach dem Zufallsprinzip untereinander tauschen. Sparrow (Spatz) ist 22, Squirrel gerade mal 20, Balaclava mit 33 die weitaus älteste.

«Es bedeutet, dass wirklich jeder Pussy Riot sein kann … Wir wollen den Leuten einfach zeigen, was man tun kann», erklärt Sparrow. «Wir zeigen die brutale, grausame Seite der Regierung», ergänzt Squirrel. «Wir machen nichts Illegales. Es verstößt nicht gegen das Gesetz zu singen und auszusprechen, was man denkt.» Sparrow, die zunächst extrem schüchtern und unsicher wirkt, erklärt, wie sie sich fühlt, wenn sie die Maske aufsetzt: «Maskiert fühle ich mich ein bisschen wie eine Superheldin, vielleicht auch mächtiger. Ich fühle mich wirklich mutig, glaube, in der Lage zu sein, alles zu tun und etwas an der Situation ändern zu können.» Balaclava unterbricht sie: «Ich sehe das anders. Wir sind keine Superheldinnen – wir sind ziemlich normale Frauen. Unser Ziel ist, dass alle Frauen in Russland werden können wie wir – aber ohne Masken.»

Wie Batman

Es sei seltsam, sagt Sparrow, «Pussy Riot in den Zeitungen, den Nachrichten und im Internet zu sehen. Wenn einen Freunde fragen, ob man die letzte Aktion gesehen hat, muss man antworten: ,Ja, im Fernsehen‘.»

Wissen ihre Eltern, was sie machen? «Nein», sagt Squirrel. «Mein Vater würde mich umbringen.»

Ihre Masken hätten sie immer dabei, sagt Sparrow: «Wie Batman. Nur für den Fall.»

Kurz vor dem Treffen mit den dreien habe ich mir nochmal ein Interview angehört, dass ich mit Ilya Oskolkov-Tsentsiper geführt habe, dem Mitgründer des Strelka Instituts für Medien, Architektur und Design. Gemeinsam mit Rem Koolhaas hat er ein Programm erarbeitet, bei dem junge Leute lernen sollen, die physische und soziale Landschaft der Stadt zu beeinflussen. Er sagte: «Der Symbolismus dieser Ereignisse sticht wirklich heraus. Weil sie so jung sind, weil sie Kinder haben, weil das, was sie gemacht haben, so belanglos und albern war und weil daraus wegen der unverhältnismäßigen Reaktion so eine große Sache geworden ist. Weil es auf eigentümliche Weise an so vielem rührt: an Kirche und Staat, Gläubigen und Nicht-Gläubigen, am Richter und Zaren, dieser russischen Sache, die kein Ende findet.»

Zitate von Simone des Beauvoir

Moskau ist eine Stadt der Geister und Echos. Hier liegt der mumifizierte Leichnam eines Revolutionärs in einem fensterlosen Bunker. Daneben steht ein verschnörkelter Palast, der Kreml, den die Zaren erbauen ließen, die eben dieser Revolutionär stürzen wollte und der nun von einem Mann bewohnt wird, der einst für den KGB arbeitete. Russlands Herrscher haben schon immer um die Wirkkraft der Symbolik der Macht gewusst. Die der Hämmer und Sicheln, der nuklearen Sprengköpfe und der freien Oberkörper von Männern in der freien Natur. Und nun die der fünf jungen Frauen mit bunten Sturmhauben, die auf dem Roten Platz, dem symbolischen Herzen des russischen Staates, auf und ab springen.

Damals im Januar wurde die Welt erstmals auf Pussy Riot aufmerksam. Das Kollektiv formierte sich kurz nachdem Dmitri Medwedew angekündigt hatte, dass Putin im November ins Präsidentenamt zurückkehren würde. Miriam Elder, die Moskau-Korrespondentin des Guardian, begleitet den Fall eng und traf damals als eine von wenigen Journalisten die Pussy-Riots-Frauen. «Sie waren sehr entschlossen, sehr zielbewusst», erzählt sie. «Zu der Zeit war jeder wütend. Vor allem kam aber rüber, wie gebildet sie waren und wie wohl durchdacht ihre Ideen. Sie zitierten viel – von Simone de Beauvoir bis zu den Ramones. Das war keine alberne Posse. Dahinter stand eine echte Botschaft.» Das Konzert auf dem Roten Platz, inmitten der riesigen Demonstrationen des vergangenen Winters, im Vorfeld der Wahlen, war brillant, eindrücklich, dreist. Die Band setzte sich damit aber auch einem großen Risiko aus, das sich mit dem Auftritt in der Christ-Erlöser-Kathedrale noch verschärfte.

Wo ist der Schlussstrich?

Piotr Verzilow ist de facto zum Sprecher des Kollektivs geworden. Er berichtet mir von dem Morgen, als er und seine Frau Nadia verhaftet wurden: «Männer in Anzügen und mit Schusswaffen rannten schreiend auf uns zu. Es waren 25 bis 30, und sie riefen ,FSB‘ [der russische Geheimdienst] und warfen uns zu Boden. Wir wurden auf ein Revier gebracht und dort getrennt. Acht Ermittler kamen, wir mussten stundenlang warten, dann wurde ich von drei bis acht Uhr morgens verhört.»

Piotr – oder Peter, wie er sich gegenüber Ausländern nennt – kam frei, seine Frau nicht. Es wurde viel spekuliert, das läge daran, dass Verzilow neben seiner russischen auch die kanadische Staatsbürgerschaft besitzt und seine Verhaftung zu einem internationalen Problem werden würde, was die russische Regierung vermeiden wolle. Er selbst sieht den Grund woanders: «Es geht einfach um die Frage, wo man aufhört. Wenn sie die anderen Mädchen oder mich vor Gericht stellen, wen dann noch? Den Kameramann, der vor Ort war? Den AFP-Journalisten? Wo hört man auf? Fängt man einmal an, Unschuldige zu verhaften – und immerhin kam gleich im Anschluss ein Polizist zur Kirche und stellte fest, dass kein Verbrechen begangen wurde –, wo zieht man dann den Schlussstrich? Fängt man einfach an, alle zu verhaften?»

Das Verbrechen, von dem hier die Rede ist, ereignete sich am 21. Februar und dauerte genau 51 Sekunden. Fünf Frauen samt einem Filmteam, sowie einer Reihe von Unterstützern und ein paar Journalisten betraten die russisch-orthodoxe Christ-Erlöser-Kathedrale, sprangen über eine goldene Absperrung auf die Kanzel (die nur Männer betreten dürfen) und spielten die ersten Akkorde eines Punksongs. Man kann es sich auf Youtube anschauen. Es beginnt wie eine religiöse Hymne und geht dann in etwas Sex-Pistol-Artiges über, die Frauen knien nieder, bekreuzigen sich, springen auf und ab und werden nach wenigen Sekunden von Sicherheitsleuten unterbrochen und abgeführt.

Russlands Dreyfus-Affäre

Aber die Polizei habe «noch nicht einmal ein Verfahren eröffnet», sagt Verzilow. «Erst nachdem das Video unter dem Titel ‚Virgin Mary Chuck Out Putin‘ [Jungfrau Maria, vertreibe Putin] bei Youtube erschien, begann die Aufregung – Patriarch Kirill sah es und rief Putin und Moskaus Polizeichef an. Das erzählten uns die Ermittler. Sie entschieden, dass es sich um irgendeine Art Verbrechen handele.» In der Presse nannte Patriarch Kirill, das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, die Aktion «blasphemisch». Die Kirche sei «angegriffen worden», sagte er, der Teufel habe sie verlacht.

Es folgte ein Haftbefehl wegen Rowdytums, zwei Wochen später wurden die drei Frauen und Verzilow verhaftet. Nichts an diesem Fall ist gewöhnlich. Nikolai Polozow, einer der Anwälte der Gruppe, spricht von einer eklatanten Missachtung der Rechtsstaatlichkeit – die Inhaftierung ohne Prozess, die Verweigerung der Möglichkeit auf Kaution, die mangelnde Zeit zur Vorbereitung des Prozesses.

«Die Christ-Erlöser-Kirche wurde aus bestimmten, symbolischen Gründen gewählt», erklärt Verzilow. «Stalin hat sie gesprengt, um seine Macht gegenüber der Kirche zu demonstrieren. In den Sechzigern wurde sie dann in ein Schwimmbad umgewandelt.» Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion beschloss Juri Luschkow, der erste postsowjetische Bürgermeister Moskaus, den Wiederaufbau. Die Kathedrale wurde zu einem «sehr wichtigen Symbol der Regierung. Angeblich ist sie der heiligste Ort Russlands, dabei ist sie äußerst kommerzialisiert: Darunter befinden sich eine gigantische Tiefgarage und Festhallen, die man für zehntausend Dollar am Tag mieten kann.»

Es gibt inzwischen Leute, die von Russlands Dreyfus-Affäre sprechen. Die großen, regierungsfreundlichen Fernsehkanäle senden unablässig Anti-Pussy-Riot-Propaganda. Beispielhaft dafür ist die Aussage eines der Staatsanwälte: Die Frauen würden von «der globalen Regierung», welche wiederum letztlich «von Satan» gelenkt würde, kontrolliert.

Zweihundert Prominente für Pussy Riot

Doch das Blatt wendet sich. Das drakonische Vorgehen hat viele Russen schockiert, selbst Religiöse und Konservative, die die Kirchen-Aktion albern oder beleidigend finden. Auch in Russland kommt es nicht oft vor, dass Angeklagte, die keines Gewaltverbrechens beschuldigt werden, die Kaution verweigert wird, ganz sicher nicht solchen, die kleine Kinder haben. Über zweihundert Prominente, darunter auch viele Unterstützer Putins, haben inzwischen einen offenen Brief unterzeichnet, der den Prozess verurteilt, außerdem haben 41’000 weitere Bürger unterschrieben.

Pussy Riot sind Musikerinnen und Künstlerinnen. Vor allem sind sie Aktivistinnen. Was sie geschafft haben, ist außergewöhnlich. Sie haben den Feminismus in eines der machistischsten Länder der Welt gebracht. Sie haben die Bruchlinien im Herzen des russischen Staates offengelegt.

«Putin hat Angst vor uns, ist das zu fassen?», fragt Squirrel. «Angst vor Mädchen.»

«Es war nur ein Gebet. Ein ganz besonderes Gebet», sagt Sparrow.

«Putin, der größte Diktator, fürchtet sich tatsächlich vor Leuten», fügt Squirrel hinzu. «Vor Pussy Riot, um genau zu sein. Vor ein paar jungen, positiven, optimistischen Frauen, die sich nicht fürchten, auszusprechen, was sie denken.»

 

Übersetzung: Der Freitag

 

 

 

Quellen

Guardian News & Media Ltd 2012

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