Kommt das Chlor-Hühnchen auch in die Schweiz?

Die einen wittern im Freihandelsdeal zwischen der EU und den USA eine Attacke der Multis auf die Demokratie. Für die anderen ist TTIP eine Jobmaschine. Wer recht hat, bleibt ungewiss, denn die Verhandlungen sind streng geheim. Klar ist aber: Die Schweiz kann nicht mitreden, wird aber die Folgen spüren.

Welches Essen wollen wir? Mit dem TTIP-Abkommen werden das womöglich Firmen statt Staaten entscheiden. (Bild: Reuters)

Die einen wittern im Freihandelsdeal zwischen der EU und den USA eine Attacke der Multis auf die Demokratie. Für die anderen ist TTIP eine Jobmaschine. Wer recht hat, bleibt ungewiss, denn die Verhandlungen sind streng geheim. Klar ist aber: Die Schweiz kann nicht mitreden, wird aber die Folgen spüren.

Keine Kontroverse wird derzeit in Europa leidenschaftlicher geführt als diejenige zum transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP). Seit einem Jahr verhandelt die EU-Kommission mit der US-Regierung mit dem Ziel, dereinst die grösste Freihandelszone der Welt mit 800 Millionen Konsumenten zu errichten. 

Staatenlenker wie Barack Obama und Angela Merkel verknüpfen mit diesem Abkommen grosse Hoffnungen. Es soll Handelsschranken zwischen Europa und den USA abbauen, damit die Wirtschaft stärken und Tausende neue Jobs schaffen – getreu der Logik, wonach Liberalisierung automatisch zu mehr Wohlstand führt.

Offiziell wird mit einem Abschluss der Verhandlungen bis Ende 2015 gerechnet. Doch ob TTIP überhaupt zustande kommt, ist unsicher. Dem Vorhaben weht ein rauer Wind entgegen. Vor allem in Deutschland und Österreich laufen globalisierungskritische Organisationen Sturm. Sie sehen im Abkommen den Geist des entfesselten Kapitalismus und warnen vor allerlei Unappetitlichem, das in Zukunft auf unsere Teller kommen: Chlor-Hühnchen, Hormonsteaks und Gentech-Food.

Angriff auf europäische Standards

Der Widerstand ist deshalb so stark, weil TTIP mehr ist als ein klassisches Handelsabkommen, bei dem es nur um den Abbau von Zöllen geht. Die Zölle beidseits des Atlantiks sind mit durchschnittlich drei Prozent schon sehr tief. Damit europäische Unternehmen noch leichter Zugang zum amerikanischen Markt erhalten, müssen sogenannt nicht tarifäre Handelshemmnisse fallen, etwa Vorschriften zur Tierhaltung oder Regulierungen zur Produktesicherheit.

Das Regelwerk ist hochkomplex, auf Tausenden Seiten gilt es Normen aufeinander abzustimmen, die heute beidseits des Atlantiks unterschiedlich definiert sind. TTIP soll transatlantische Standards schaffen, zum Beispiel wie Geflügel gewaschen wird oder wie Betriebsgeheimnisse zu schützen sind. Davon verspricht sich die Industrie einen besseren Marktzugang und tiefere Kosten.

Für Umwelt- und Konsumentenschützer hingegen ist TTIP ein Albtraum. Sie sehen in dem Abkommen einen Angriff der Grosskonzerne auf hart erkämpfte europäische Errungenschaften in den Bereichen Konsumenten- und Umweltschutz, dies, um noch sattere Gewinne einzufahren und ihre Macht im politischen Prozess weiter auszubauen.

Investitionsschutz über staatliche Souveränität

Heiss umstritten ist der geplante Investorenschutz: Um Europa attraktiver für amerikanische Investoren zu machen und europäischen Firmen das Geschäft in den USA zu erleichtern, will die EU-Kommission eine Investitionsschutz-Klausel einführen.

Europäische Unternehmen sollen dann die USA vor einem Schiedsgericht verklagen können und amerikanische Unternehmen die Staaten der EU. So soll  verhindert werden, dass durch die Hintertüre neue Handelshemmnisse eingeführt werden. Das macht dann Sinn, wenn ein Staat zum Beispiel einseitig Importquoten oder Subventionen einführt und dadurch den Wert ausländischer Investitionen mindert.

Unter Umständen könnte TTIP Konzernen ermöglichen, Staaten zu verklagen, wenn diese den Umweltschutz ausbauen.

Doch bei bereits bestehenden Freihandelsabkommen geht der Investitionsschutz in der Praxis viel weiter. So klagt der Tabakkonzern Philip Morris wegen einer Anti-Raucher-Kampagne gegen Australien. Der Bergbaukonzern Lone Pine zieht Kanada wegen eines Fracking-Moratoriums vor Gericht. Und der Energiekonzern Vattenfall verklagt den deutschen Staat wegen dessen beschlossenem Atomausstieg auf Schadensersatz in Milliardenhöhe.

Rechtsgrundlage dieser Klagen sind internationale Investitionsabkommen. Über 3000 dieser Verträge sind derzeit in Kraft, bei einem Grossteil handelt es sich um bilaterale Abkommen zwischen zwei Staaten. Verhandelt werden die Streitpunkte vor einem internationalen Schiedsgericht, das meist hinter verschlossenen Türen tagt. Die Schiedssprüche sind bindend, eine Revision ist nicht möglich.

Extrarecht für Multis

Käme der Investorenschutz mit TTIP in dieser Form, könnte ein amerikanischer Konzern gegen einen EU-Staat klagen, wenn dieser etwa die Umweltvorschriften verschärft oder Arbeitsschutzrechte arbeitnehmerfreundlicher gestaltet. Er würde argumentieren, dass durch diese neuen Gesetze seine Gewinnaussichten geschmälert worden seien.

Über diese Klagen würde dann ein privates Schiedsgericht entscheiden. Gibt dieses dem Unternehmen recht, muss der Staat seine Gesetze anpassen und gegebenenfalls Schadenersatz in Milliardenhöhe leisten – Steuergelder notabene. 

«Wenn das TTIP-Abkommen zustande kommt, wie es die EU und die USA zurzeit wollen, dann riskieren wir einen starken Einfluss der Konzerne auf den parlamentarischen Prozess», befürchtet Kenneth Haar von der lobbykritischen Organisation Corporate Europe Observatory (CEO). «Einerseits durch direkte Klagen. Andererseits durch den indirekten Einfluss auf Regulierungen aller Art, sei es bei Lebensmittelstandards oder Regeln über giftige Chemikalien im Rahmen der sogenannten regulatorischen Zusammenarbeit.»

Wachsender Druck wirkt

Ob die Ängste berechtigt sind, ist schwer zu beurteilen, da TTIP unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt wird. Sogar das Mandat der EU, das den Verhandlungsrahmen absteckt, blieb geheim, bis es von einem amerikanischen Fachmagazin geleakt wurde. Die Geheimhaltung rechtfertigt die Kommission mit dem Hinweis auf die bei Verhandlungen übliche Vertraulichkeit.

«Für die Bürger steht viel auf dem Spiel. Die Verhandlungen werden über Dinge geführt, die uns direkt betreffen: Gesundheit, Wohlfahrt und Gesundheit», sagt Haar. «Es sollte das Recht eines jeden Bürgers sein, hier nachverfolgen zu können, was am Verhandlungstisch angeboten wird.»

Auf den wachsenden öffentlichen Druck hat die Kommission nun reagiert. Die umstrittenen Verhandlungen zum Investorenschutz hat sie vorerst ausgesetzt und im März eine öffentliche Konsultation zu diesem Thema lanciert. Fast 150’000 Eingaben sind daraufhin online eingegangen. «Wir werden uns jede Eingabe genau ansehen und nehmen alle Bedenken und Vorschläge ernst», versprach der zuständige EU-Handelskommissar Karel de Gucht kürzlich in einem Gastbeitrag in der «Süddeutschen Zeitung».

Will die EU TTIP retten, muss sie nach innen überzeugen und den Bürgern die Ängste vor dem Abkommen nehmen.

Damit wäre die EU-Kommission gut beraten, denn sie sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, einseitig die Nähe zu Big Business zu suchen. Wie aus einem internen Papier hervorgeht, hat die Kommission im Vorfeld der Verhandlungen 130 Sondierungstreffen zum Abkommen durchgeführt. Mindestens 119 davon fanden mit grossen Konzernen und ihren Lobbygruppen statt.

Gerade mal bei elf Gesprächen sassen Umwelt- und Konsumentenschutzorganisationen mit am Tisch. Will die EU TTIP retten, muss sie nach innen überzeugen und den Bürgern die Ängste vor dem Abkommen nehmen. Mehr Transparenz im Verhandlungsprozess wäre dazu ein erster wichtiger Schritt.

Die Schweizer Wirtschaft ist in hohem Masse vom Fortgang der TTIP-Gespräche betroffen, gehen doch zwei Drittel der Schweizer Exporte in die EU (56 Prozent) und die USA (11 Prozent). Gross ist die Angst, Schweizer Firmen würden nach einem erfolgreich verhandelten Freihandelsabkommen von den beiden Handelsriesen benachteiligt.

Wie ambitioniert TTIP ausfallen wird, ist aus heutiger Sicht schwierig abzuschätzen. Möglicherweise wird sich das Abkommen auf Zollsenkungen und den geringfügigen Abbau nichttarifärer Hindernisse beschränken. Es könnte aber auch ein ambitiöses Abkommen mit tiefgreifender Integration im Bereich von Dienstleistungen, Investitionen und öffentlichen Beschaffungen zustande kommen.

Schweiz nicht beteiligt, aber betroffen

Laut einer Studie des Welthandelsinstituts der Universität Bern hängen die Auswirkungen auf die Schweiz davon ab, wie TTIP ausgestaltet ist und welche handelspolitischen Massnahmen die Schweiz als Reaktion auf den EU-US-Deal ergreift. Fällt das Abkommen umfassend aus, indem Produktionsstandards im US- und EU-Markt vereinheitlicht werden und die Schweiz parallel dazu über die Efta ein Freihandelsabkommen mit den USA erreicht, dann dürfte das Niveau des Bruttoinlandprodukts (BIP) im Jahr 2030 um 2,9 Prozent höher liegen.

Gemäss den Forschern würde ein tiefgreifendes Abkommen faktisch zu neuen globalen Produktionsstandards führen, was den Marktzugang ungemein erleichtern würde. Beschränkt sich das Abkommen hingegen auf den Zollabbau und es kommt kein Efta-US-Abkommen zustande, dann dürften für die Schweiz Einbussen in der Grössenordnung von 0,5 Prozent des BIP resultieren.

Die Schweiz wäre dann von einer nachteiligen Handelsumlenkung betroffen. Die Zahlen sind mit Vorsicht zu geniessen, da derzeit über konkrete Verhandlungsergebnisse noch wenig bekannt ist. Aller Voraussicht nach hätte der hiesige Wirtschaftsstandort aber ein Interesse an einem möglichst umfassenden Abkommen.

Wohlgemerkt: Je umfassender TTIP ausfällt, desto mehr ausländisches Recht müsste die Schweiz übernehmen – im «copy-paste»-Verfahren. Als Nichtmitglied der EU nimmt die Schweiz an den Verhandlungen nicht teil.

 

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