«Krieg» in Saint-Denis – Polizei stürmt Wohnung im Vorort

Polizei- und Armeeeinheiten haben ein mutmassliches Terrornest mitten in der Pariser Vorstadt Saint-Denis ausgehoben. Die Bilanz: zwei Verdächtige tot, sieben verhaftet.

French special police forces secure the area as shots are exchanged in Saint-Denis, France, near Paris, November 18, 2015 during an operation to catch fugitives from Friday night's deadly attacks in the French capital. REUTERS/Christian Hartmann

(Bild: CHRISTIAN HARTMANN)

Polizei- und Armeeeinheiten haben ein mutmassliches Terrornest mitten in der Pariser Vorstadt Saint-Denis ausgehoben. Die Bilanz: zwei Verdächtige tot, sieben verhaftet.

Die Einwohner von Saint-Denis brauchten am Mittwochmorgen keinen Wecker. Das Stakkato von Sturmgewehren und automatischen Waffen, unterbrochen von schweren Detonationen, riss sie zehn Minuten vor fünf brutal aus dem Schlaf. «Es wurde wie wild geschossen, mit Waffen ganz unterschiedlichen Kalibers, es war wie Krieg, wie eine Guerilla-Operation, die nicht mehr aufhören will», sagte am Radio ein Bäcker aus der Fussgängerzone des Stadtzentrums, der gerade seine Croissants zubereitete.

Eine Anwohnerin in der Rue de la République schaute zum Fenster hinaus und sah, wie sich Patrouillen dunkel gekleideter, vermummter Elitepolizisten mit äusserster Vorsicht, aber zielsicher den Hausmauern entlang bewegten. Als die Frau fragte, was sie tun solle, rief ihr einer zu: «Hände hoch. Wenn sie sich bewegen, schiessen wir.» Das erzählte später ein Nachbar namens Christian.

Auch an der Hausnummer 8 der Rue du Corbillon liessen sich die Polizisten nicht auf Verhandlungen ein. Im dritten Stockwerk brachten sie eine Sprengladung vor einer Tür an. Die Explosion gab den Startschuss zu einem stundenlangen Gefecht. Aus dem Wohnungsinnern kamen sofort Schüsse zurück; die Polizei setzte ihrerseits leichte und schwere Feuerwaffen sowie Granaten ein. Minutenlang hallten Salven durch die Strassen, während Polizisten in den Nachbarstrassen zu den sich öffnenden Fenstern hoch schrien: «Fenster zu! Rollläden runter!» Die meisten Anwohner verzogen sich verängstigt in die hinteren Zimmer.



Members of French special police forces of Research and Intervention Brigade (BRI) are seen at the scene during an operation in Saint-Denis, near Paris, France, November 18, 2015 to catch fugitives from Friday night's deadly attacks in the French capital. REUTERS/Philippe Wojazer

Mitglieder der Spezialeinheit BRI beim Einsatz in St. Denis. (Bild: PHILIPPE WOJAZER)

Während der Feuerpause schickte die Eliteeinheit BRI in der Rue du Corbillon einen Kampfhund in die Wohnung. Als er über die Schwelle sprang, wurde er abgeknallt. Wieder kehrte im Viertel eine prekäre Ruhe ein. Kurz vor 6 Uhr ein neuer Angriff, dann eine starke Explosion. Wie sich nachher herausstellte, hatte sich eine Frau mit einem Gürtel voll Sprengstoff in die Luft gejagt. Ein Novum selbst für die an vieles gewöhnten BRI-Spezialisten, ein Novum auch für Frankreich.

Jetzt setzten die Angreifer Schreckgranaten ein, um die verbliebenen Schützen aus der Deckung der zertrümmerten Wohnung zu locken. Um halb acht Uhr legte sich wieder gespannte Stille über die Gassen des einstigen Dorfes Saint-Denis, in dessen Kathedrale die französischen Könige begraben sind – und dessen Stadtzentrum zu den «heissesten» Banlieue-Zonen bei Paris gehört. Nochmals Schüsse, dann verliessen Dutzende von Polizisten das Haus mit zwei festgenommenen Männern.

Der Einsatz galt dem seit Samstag meistgesuchten Mann Europas

Die Bevölkerung wurde mit Lautsprechern aufgefordert, in den Häusern zu bleiben. Betroffen waren 15’000 Anwohner im Stadtzentrum von Saint-Denis. Mittlerweile waren die Live-Kameras der Newssender eingetroffen. Eine verschleierte Frau erzählte mit grossen Augen, wie sie mit ihrem Baby den Sturmangriff erlebte: «Wir sahen die Kugeln des Leucht- und Laserfeuers, hörten Detonationen. Unsere Wohnungsmauern zitterten.»

 

Dann berichtete ein Mann in Lederjacke in die Mikrofone, er habe das attackierte Studio ein paar Leuten für drei Tage vermietet, wisse aber von nichts. Seine Freundin bestätigte. Was nicht auf den Kameras zu sehen ist: Kurz danach wurde das Paar von der Polizei unsanft verhaftet.

Dann ging die Kommando-Operation langsam zu Ende. Die Bilanz, abgesehen von fünf verletzten Polizisten und einem erschossenen Hund: Zwei Verdächtige tot, sieben verhaftet. Sie sollen an der Organisation der Terroranschläge von letztem Freitag in Paris (132 Tote, 352 Verletzte) beteiligt gewesen sein, insbesondere ihrem Kopf Abdelhamid Abaaoud, dem die ganze Operation galt.

Ob der gesuchte Drahtzieher gefasst wurde, ist unklar

Der 28-jährige Belgier – seit Freitag der meistgesuchte Mann Europas – war zuerst in Syrien vermutet worden, wo er einen hohen Posten in der Terrormiliz belegte. Schon im April soll er einen französischen Banlieue-Terroristen bei einem – fehlgeschlagenen – Anschlag in Paris-Villejuif ferngesteuert haben. Abgehörte Telefongespräche brachten die Polizei dann auf seine Spur in Saint-Denis.

Laut Pariser Medien soll auch ein neuer Anschlag im Geschäftsquartier La Défense, dem «Manhattan» von Paris, bei den Gesprächen erwähnt worden sein. Innenminister Bernard Cazeneuve meinte aber allgemeiner, die Verhafteten hätten neue Anschläge verüben können. Ob Abaaoud festgenommen wurde, stand vorerst nicht fest. Danach hiess es, er sei tot (siehe Tweet), inzwischen ist klar, dass er nicht unter den Verdächtigen war, wie der oberste Staatsanwalt François Molins am Abend an einer Medienkonferenz mitteilte.


Noch bevor die Polizei das Fussgängerzentrum von Saint-Denis freigegeben hatte, erklärte Staatspräsident François Hollande an einem Bürgermeisterkongress in Paris: «Ich kann mir vorstellen, welche Angst die Einwohner von Saint-Denis ausstanden, und ich würdige ihre Kaltblütigkeit.» Die Kommandoaktion bestätige, «dass wir im Krieg sind», fügte er noch an. 2000 Bürgermeister in rotweissblauen Schärpen quer über der Brust erhoben sich und stimmten die Marseillaise an.

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Die NZZ hat eine Chronologie der Ereignisse in Saint-Denis erstellt.

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