Krise des Geldes

Geld war einst Tauschmittel, war etwas Handfestes. Mehr und mehr wird es zu etwas Irrationalem, zu Ziffern mit Nullen.

Bankangestellte einer Filiale von Lehmann Brothers erfahren am 11. September 2008 von definitiven Untergang ihres Unternehmens . (Bild: Reuters, Kevin Coombs)

Geld war einst Tauschmittel, war etwas Handfestes. Mehr und mehr wird es zu etwas Irrationalem, zu Ziffern mit Nullen.

Wenn man in den Sechzigerjahren von einem Millionär sprach, dann war damit ein sehr reicher Mann gemeint. Heute ist ein Millionär zwar noch wohlhabend, aber reich? Der ehemalige Zürcher Steuerkommissär Hans Kissling hat Erfahrung mit Vermögenszahlen in der Schweiz. Er stellt fest: «In den nächsten 30 Jahren fallen in der Schweiz gigantische Erbschaften an, weil nun die seit den Siebzigerjahren entstandenen hohen Vermögen zur Vererbung gelangen. Rund 900 Personen werden jeweils mehr als 100 Millionen Franken erben. Davon erhalten 120 eine Erbschaft von mehr als einer Milliarde Franken.»

Mit dem Geld ist in den letzten Jahrzehnten das Gleiche geschehen wie mit dem Sex. Viele Nullen schockieren uns genauso wenig wie viel nackte Haut. Spätestens die aktuelle Wirtschaftskrise hat uns mittlerweile total abgehärtet: Die UBS muss fast 60 Milliarden Franken abschreiben, die Nationalbank erleidet über 30 Milliarden Franken Buchverluste. Griechenland wird mit 100 Milliarden Euro gerettet, der Europäische Rettungsschirm braucht mehr als 400 Milliarden, die amerikanische Staatsverschuldung beträgt mittlerweile beinahe 15 Billionen Dollar. 15 Billionen, das sind 15’000 Milliarden oder eine 15 mit 12 Nullen.

Der menschliche Verstand kann solche Zahlen nicht wirklich erfassen. Im Internet gibt es zwar immer wieder wohlmeinende Mitbürger, die uns solche Dimensionen zu verdeutlichen suchen. Sie zeigen Grafiken mit Paletten, die mit Hunderternoten vollgepackt sind und auf Fussballfelder verteilt werden, oder Goldbarren, die aufeinander getürmt werden. Vergeblich. Die vielen Nullen bleiben unwirklich.

Um das Vertrauen ist es schlecht bestellt

Immer unwirklicher wird auch das Geld selbst. Es ist nicht mehr etwas, wofür man eine Stunde oder einen Monat gearbeitet hat oder wofür man Lebensmittel oder Kleider kauft. Zunehmend wird es zu elektronischen Chiffren, die sich auf einem Computerschirm bewegen. Wenn heute an der Wall Street sich 25-jährige Investmentbanker darüber beklagen, dass sie mit einem Jahresgehalt von 500 000 Dollar nicht auskommen können und sich ohne Millionen-Boni demotiviert fühlen, dann ist das mehr als Gier. Es zeigt auch, wie irreal das Verhältnis zu Geld in der modernen Gesellschaft geworden ist.

Dabei ist Geld zunächst etwas sehr Rationales. In der Ökonomie wird es denn auch definiert als ein Tauschmittel, als ein Massstab und als Aufbewahrungsmittel. Doch daneben hat Geld auch eine irratio­nale, ja mystische Seite, ganz besonders das Papiergeld. Es wird von den Banken aus dem Nichts gemacht und verschwindet wieder im Nichts. Fiat-Money wird es deshalb oft genannt, nach dem lateinischen Begriff Fiat, der bedeutet: es werde. Franken, Euro, Dollar, Yen oder Renminbi brauchen aber mehr als eine Notenbank und die Geschäftsbanken als Verteilnetz. Der belgische Finanzprofessor und ehemalige Notenbanker Bernard Lietaer stellt fest: «Letzten Endes ist Geld Vertrauen und Vertrauen lebt (und stirbt) in den Köpfen und Herzen der Menschen. Währungssysteme, auch das, was wir gegenwärtig besitzen, sind Mechanismen und Symbole, die dazu dienen, dieses Vertrauen am Leben zu erhalten.»

Um dieses Vertrauen ist es schlecht bestellt. Die Wirtschaftskrise beginnt, die Schaltzentrale des Geldsystems der modernen Gesellschaft in Frage zu stellen: die Notenbank. Bis vor Kurzem waren die Präsidenten der wichtigsten Notenbanken nicht gerade unfehlbar wie der Papst, aber beinahe. Heute muss sich der Präsident der Schweizerischen Nationalbank (SNB) als «Falschmünzer» beschimpfen lassen. Der republikanische Präsidentschaftskandidat Rick Perry bezeichnet Ben Bernanke, den Präsidenten des Federal Reserve System (Fed), als Verräter und droht ihm gar Prügel an. Ron Paul, ein Vertreter eines Ultraliberalismus und ebenfalls republikanischer Präsidentschaftskandidat, will das Fed sogar abschaffen. Paul gilt zwar selbst bei den Republikanern als Spinner, doch sein Buch «End the Fed» ist mittlerweile Kult; und die Forderung nach der Abschaffung der US-Notenbank ist sehr beliebt.

Wissen Sie, wer Jean-Pierre Roth war? Er war der Vorgänger von Philipp Hildebrand als SNB-Präsident und in der Deutschweizer Bevölkerung etwa so bekannt wie Bundesrat Didier Burkhalter. Heute hingegen werden Notenbanker nicht nur beschimpft, sie sind auch berühmt. Hildebrand dürfte es nach der monatelangen SVP-Kampagne gegen ihn locker in die Liste der zehn bekanntesten Schweizer schaffen. In den USA weiss jedes Kind, wer Ben Bernanke ist. Und Jean-Claude Trichet, der eben abgetretene Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) war bekannter als manches Staatsoberhaupt.Notenbanker sind keine diskreten Machtträger mehr, sondern Personen der Öffentlichkeit. Das war letztes Mal in den Zwischenkriegsjahren so. Montagu Norman, Präsident der Bank of England, Hjalmar Schacht, Chef der deutschen Reichsbank, Emile Moreau von der Banque de France und Benjamin Strong vom Fed prägten die Wirtschaftspolitik stärker als ihre jeweiligen Regierungschefs. Auch diese «Herren des Geldes», wie dies Liaquat Ahamed in seinem gleichnamigen Buch bezeichnet, mussten vor der Presse flüchten wie heute die Stars von Hollywood.

Unglückliche Rückkehr zum Goldstandard

Wenn wir Notenbanker beim Namen kennen und über Geldpolitik diskutiert wird wie über Taktik und Aufstellung der Fussballnationalmannschaft, dann ist etwas faul im Staate Dänemark. In der Zwischenkriegszeit ruinierte Norman mit einer unglückseligen Rückkehr zum Goldstandard die britische Wirtschaft, und Strong verursachte mit einer unbedachten Zinssenkung die Börsenblase, die 1929 platzte und die weltweite Wirtschaftsdepression einleitete. Auch heute sind Staatsverschuldung und Geldpolitik zum beherrschenden Thema geworden, und wie in den Zwanzigerjahren eilen Politiker und Notenbanker von einer Krisenkonferenz zur nächsten.

In normalen Zeiten ist die Macht der Notenbanker beschränkt. Zwischen Politik und Zentralbank herrscht eine klare Arbeitsteilung: Die Politiker sind für die Fiskalpolitik zuständig, also für Steuern oder Ankurbelungsprogramme und dergleichen. Die Notenbank macht die Geldpolitik. Sie hat primär dafür zu sorgen, dass die Währung stabil bleibt. Sie tut dies, indem sie die Geldmenge bestimmt und damit auch die kurzfristigen Leitzinsen.Notenbanker sind so etwas wie die Zuchtmeister der Nation. Sie greifen ein, wenn die Wirtschaft zu überhitzen droht. Der ehemalige Fed-Präsident William McChesney Martin hat die Funktion des Notenbanker mit einem berühmten Vergleich wie folgt beschrieben: Er muss die Punch-Bowle, den Alkohol, wegräumen, wenn die Party so richtig in Fahrt kommt. In der Praxis bedeutet dies: Wenn die Wirtschaft zu schnell wächst, dann erhöht die Notenbank die Leitzinsen. Sie verteuert das Geld und dämpft so das Wirtschaftswachstum. Damit verhindert sie, dass die Teuerung ausser Kontrolle gerät und sich zu einer chronischen Inflation entwickelt.

Um Preisstabilität zu garantieren, muss die Notenbank gelegentlich unpopuläre, ja schmerzhafte Massnahmen ergreifen. Sie kann dies nur dann glaubhaft tun, wenn sie unabhängig von der Politik ist. Politiker folgen nämlich einer ganz anderen Logik. Um Martins Vergleich nochmals aufzugreifen: Politiker karren den Alkohol an die Party und sorgen dafür, dass tüchtig gebechert wird. Wenn nämlich die Stimmung im Lande gut ist, werden sie am ehesten wiedergewählt. Das Verhältnis der Notenbanker zu den Politikern ist deshalb meist angespannt und von gegenseitigem Misstrauen geprägt.

Seit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise im Herbst 2008 ist die Arbeitsteilung zwischen Notenbankern und Politikern aufgeweicht, die Grenzen werden flies­send. Immer stärker mischen sich die Notenbanken in die Fiskalpolitik ein, nicht weil sie das wollen, sondern weil sie gar nicht anders können. In den USA ist die Politik derart blockiert, dass das Fed mit seiner umstrittenen Politik des billigen Geldes, dem «Quantitative Easing», dafür sorgen muss, dass die Wirtschaft nicht vollends abstürzt. Die US-Notenbank kann dies ohne schlechtes Gewissen tun. Als einzige Notenbank hat sie den verfassungsmässigen Auftrag, nicht nur für Preisstabilität zu sorgen, sonder auch dafür, dass die Konjunktur in Schwung bleibt.

In Europa ist die Situation inzwischen chaotisch geworden. Die EZB ist nach dem Vorbild der Deutschen Bundesbank, der legendären Buba, konzipiert worden. Sie darf sich nur um die Preisstabilität kümmern. Doch die Eurokrise hat dazu geführt, dass dies zu einer Illusion geworden ist. Weil die Einheitswährung nicht mit den entsprechenden politischen Institutionen abgesichert ist, steckt die EZB bis zum Hals in der Fiskalpolitik. Sie leiht den griechischen Banken notfallmässig Geld, kauft italienische und spanische Staatsanleihen auf, um zu verhindern, dass ihre Zinsen in untragbare Höhen schiessen, und steht auch im Mittelpunkt des Rettungsschirms ESFS, der über die Defizitsünder aufgespannt worden ist. Die Krise der Notenbanken droht zu einer Krise des Geldes zu werden. Genauso wie der menschliche Verstand Billionen nicht erfassen kann, kann ein Durchschnittsbürger nicht nachvollziehen, worüber heute überhaupt diskutiert wird.

Warum soll der Rettungsschirm zu einer Bank oder einer Versicherung ausgebaut werden? Und weshalb muss er zusätzlich «gehebelt» werden, und was versteht man darunter überhaupt? Weshalb verliert die Schweizerische Nationalbank Buchverluste in zweistelliger Höhe, und war das nun «Volksvermögen» oder bloss aus dem Nichts geschaffenes Fiat-Geld?Die Menschen merken, dass diese Fragen für ihre Zukunft sehr wichtig sind, aber es gelingt ihnen nicht mehr, sie einzuordnen. Das wird allmählich zu einer tickenden Bombe der Gesellschaftspolitik. Denn Geld ist für die Wirtschaft wie Strom. Wenn das Vertrauen in das Geld kaputtgeht, dann ist auch das Geldstrom-Netz in Gefahr – und dann läuft bald gar nichts mehr.

 

  • Nachhaltigkeit im Finanzsektor 
     

    Der Ruf nach Nachhaltigkeit im Finanzsektor wird zunehmend lauter. Doch was denn diese Nachhaltigkeit sein soll – darüber sind sich nicht alle einig. Auch nicht darüber, ob Banken Nachhaltigkeit im sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Bereich unterstützen. Darüber diskutiert eine prominent besetzte Runde am kommenden 11. November um 19.00 Uhr in der Aula des Kollegiengebäudes der Universität Basel. Zum Thema «Nachhaltigkeit im Finanzsektor – Die Verantwortung von Banken» diskutieren unter der Leitung von Philipp Löpfe, dem Autor dieses Artikels, Professor Erwin Heri vom Wirtschaftswissenschaftlichen Zentrum der Universität Basel; Andreas Missbach von der Erklärung von Bern; Nationalrat Eric Nussbaumer, Verwaltungsratspräsident der Alternativen Bank Schweiz; Katharina Serafimova, WWF Schweiz.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 04/11/11

4.11.2011 – Korrektur im letzten Satz des zweiten Abschnitts: «15 Billionen, das sind 15’000 Milliarden…» und nicht 1500 Milliarden.
Besten Dank an Heinz Müller, der den Fehler bemerkt hat. 

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