Lautlose Helferinnen inmitten von Drogenbanden

Dem Namen nach sollte in Buenaventura das Glück regieren. Stattdessen wird die kolumbianische Hafenstadt von Drogenkartellen beherrscht, die Frauen mit brutalster Gewalt vertreiben. Eine Frauenrechtsorganisation hält dagegen.

Über unübersichtliche Wege sind die Pfahlbauten miteinander verbunden. Für die kolumbianische Polizei ist es fast unmöglich, das unübersichtliche Labyrinth zu kontrollieren. (Bild: Oliver Schmieg)

Dem Namen nach sollte in Buenaventura das Glück regieren. Stattdessen wird die kolumbianische Hafenstadt von Drogenkartellen beherrscht, die Frauen mit brutalster Gewalt vertreiben. Die Frauenrechtsorganisation «Red Mariposas de Alas Nuevas Construyendo Futuro» hält dagegen – und erhält dafür den Nansen-Flüchtlingspreis 2014.

Bibiana Peñaranda wählt die Strassen mit Bedacht, die sie in Buenaventura benutzt. Menschenansammlungen vermeidet sie, vor Bars und Diskotheken wechselt sie den Gehweg.

Seit die Menschenrechtsaktivistin vor vier Jahren als Mitgründerin die Frauenrechtsgruppe «Red Mariposas de Alas Nuevas Construyendo Futuro» (zu Deutsch: «Netzwerk der Schmetterlinge, die mit neuen Flügeln eine Zukunft aufbauen») ins Leben gerufen hat, scheut sie laute und unübersichtliche Häuserzeilen.

Ihre Organisation betreut über 1000 Frauen und junge Mädchen, die Opfer von Vertreibung und sexueller Gewalt geworden sind – oftmals veschuldet von den Mitgliedern bewaffneter Gruppen, die dem organisierten Verbrechen angehören.

Seit Jahren herrscht in Kolumbiens grösster Hafenstadt ein blutiger Konkurrenzkampf zwischen verschiedenen Drogenkartellen. Sie streiten um die Kontrolle über lukrative Schmuggelrouten nach Zentralamerika und in die USA. Davon abgesehen, ist Kolumbien nach Syrien aufgrund eines seit fünf Jahrzehnten herrschenden Bürgerkrieges mit 5,7 Millionen Vertriebenen die Region mit den meisten Binnenflüchtlingen weltweit.

«Bewaffnete Bandenmitglieder glauben, die Frauen unserer Stadt wären ihr Privateigentum», sagt Bibiana Peñaranda. «Wir kümmern uns zum Beispiel um 11-jährige Mädchen, die vergewaltigt und danach in die Prostitution gezwungen wurden.»

Dem Netzwerk gehören 125 Frauen an. Sie helfen Gewaltopfern dabei, medizinische oder psychologische Hilfe zu beantragen. Oder sie begleiten sie, um deren Peiniger bei der Staatsanwaltschaft anzuzeigen. «Insbesondere in den armen Stadtvierteln leben Opfer und Täter in der Regel Tür an Tür – die meisten Frauen sehen deshalb aus Angst von rechtlichen Schritten ab», weiss die Frauenrechtlerin.

Bei ihrer täglichen Arbeit stützen sich die Frauen der NGO deshalb auf ein soziales Konzept, das in der überwiegend afro-kolumbianischen Bevölkerung Buenaventuras als «Comadreo» bekannt ist: ein Zusammenwirken von Nachbarschaftssolidarität, gegenseitigem Respekt, Loyalität und Vertrauen. «Wir bekämpfen die Bandenkriminalität, die uns umgibt, nicht mit Gewalt, sondern wir helfen den Opfern, das Vertrauen in sich selbst und in die Gesellschaft zurückzugewinnen», erklärt Bibiana Peñaranda.

Vertrieben und vergewaltigt

Luz Dary Santiesteban ist eine Frau, die sowohl Opfer sexueller Gewalt als auch der Wirren des Bürgerkrieges wurde. Ihr Heimatdorf Juradó musste sie 1994 verlassen, nachdem sie zusammen mit ihrer Familie ins Kreuzfeuer rechter Paramilitärs und der linksgerichteten Farc-Guerilla geraten war. Einer ihrer Brüder hatte dabei sein Leben verloren.

In Buenaventura versuchte die heute 53-jährige Kolumbianerin daraufhin einen Neuanfang. Als die Bandenmitglieder eines Drogenkartells vor zehn Jahren ihre Töchter vergewaltigen und einen ihrer Söhne rekrutieren wollten, widersetzte sie sich. In der Folge wurde sie in Gegenwart ihrer Kinder stundenlang sexuell missbraucht. Unter den Folgen des Verbrechens litt sie lange Jahre, bis sie sich der NGO der Frauenrechtlerinnen anschloss, wo sie vor allem auch psychologische Unterstützung erhielt.

Die Täter wurden bis heute nicht belangt. Doch die Tat hat Luz Dary Santiesteban verarbeiten können, dank der Hilfe der NGO und deren Mitarbeiterinnen. «Jemanden zu haben, mit dem man sprechen kann und der einen versteht, weil er das Gleiche durchgemacht hat – das ist der erste Schritt im Heilungsprozess», sagt sie.

Die Erinnerung an den verhängnisvollen Tag schmerzt zwar noch immer. Trotzdem habe sie ihren Peinigern verziehen. «Wo Böses geschieht, muss man Liebe aussäen», glaubt sie.

Lautloser Widerstand

Dem Gerichtsmedizinischen Institut zufolge sind in Buenaventura während der letzten zehn Jahre 195 Frauen gewaltsam ums Leben gekommen. Da zahlreiche Familien aus Angst schweigen, dürften es aber weit mehr sein, glaubt Carlos Valdés, der Leiter der kolumbianischen Ermittlungsbehörde. Vor wenigen Monaten hat er gegenüber dem Radiosender RCN den Wunsch geäussert, eine spezielle Investigationseinheit in die 370’000 Einwohner zählende Stadt zu entsenden, die sich ausschliesslich Gewaltfällen gegen Frauen widmen soll.

Besonders betroffen von der Gewalt gegen Frauen ist das Armenviertel Bajamar, das sich über Jahrzehnte hinweg um Buenaventuras Hafen herum gebildet hatte. Die Bewohner haben Tausende Pfahlbauten weit ins Meer hinein gebaut, wo sie vielfach ohne Strom und fliessendes Wasser leben müssen. In diesem unübersichtlichen Labyrinth schmaler Holzstege finden Drogenkartelle ideale Bedingungen, um Kokain, Marihuana und Heroin auf kleine Motorboote zu verladen.

Die Mitarbeiterinnen der NGO «Red Mariposas de Alas Nuevas Construyendo Futuro» wagen sich täglich hierhin, obwohl Bajamar zu den gewalttätigsten Stadtvierteln Lateinamerikas zählt. Um ihren Beistand zu leisten, setzen sie sich selbst schutzlos denen aus, die Frauen von hier sexuell missbraucht oder vertrieben haben. «Wir müssen bei unserer Arbeit sozusagen lautlos vorgehen, andernfalls würden wir selbst sehr schnell ins Kreuzfeuer krimineller Banden geraten», erklärt Bibiana Peñaranda ihr Vorgehen.

Preisverleihung in Genf

Die Arbeit der Frauenrechtlerinnen, die sich selbst liebevoll «Las Mariposas» – also «die Schmetterlinge» nennen, wird in Buenaventura von Maritza Asprilla organisiert. Sie selbst hatte als junges Mädchen unter einem gewalttätigen Stiefvater zu leiden. Ihr Engagement für die NGO habe ihr dabei geholfen, ihr in der Kindheit verlorenes Vertrauen in sich selbst zurückzugewinnen. «Anstatt die Schule zu besuchen, musste ich bereits mit sieben Jahren arbeiten. Ich werde sicher nicht erlauben, dass meine Kinder einmal das gleiche Schicksal erleiden», sagt sie heute.

Am 29. September erhält Maritza Asprilla in Genf – stellvertretend für alle «Mariposas» – den vom UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge mit 100’000 US-Dollar dotierten Nansen-Flüchtlingspreis 2014. Zusammen mit Gloria Amparo und Mery Medina wurde sie von ihren NGO-Kolleginnen für die Reise in die Schweiz ausgewählt. Für die bescheidene Kolumbianerin wird es das erste Mal sein, dass sie ihr Heimatland verlässt.

Nansen-Flüchtlingspreis: Seit 60 Jahren zeichnet der Preis ausserordentliches Engagement für Flüchtlinge, Binnenvertriebene und Staatenlose aus. Der Preis (eine Medaille) ist mit 100’000 Dollar dotiert. In Absprache mit dem UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge werden die Gewinnerinnen das Geld in ein neues Projekt investieren.

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