Lebt die Demokratie von der Lüge?

«Mit der Wahrheit gewinnt man keine Stimmen», schrieb der Zürcher Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Peter von Matt nach den Wahlen in den National- und Ständerat vom vergangenen Wochenende. Lebt die Demokratie also von der Lüge?

Kurt Lanz, Bereichsleiter Infrastrukturen, Energie und Umwelt economiesuisse, Adrian Amstutz, Zentralpraesident Schweizerischer Nutzfahrzeugverband ASTAG, und Fridolin Landolt, GL-Mitglied Planzer AG und Mitglied des Ausschusses VAP, von links, waehrend einer Medienkonferenz ueber die Zukunft des Guetertransports, am Mittwoch, 29. Oktober 2014 in Bern. (KEYSTONE/Peter Klaunzer)

(Bild: Keystone/Peter Klaunzer)

«Mit der Wahrheit gewinnt man keine Stimmen», schrieb der Zürcher Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Peter von Matt nach den Wahlen in den National- und Ständerat vom vergangenen Wochenende. Lebt die Demokratie also von der Lüge?

Als der Fraktionschef der Schweizerischen Volkspartei (SVP) im Nationalrat, Adrian Amstutz, am Sonntagabend gefragt wurde, wie er sich den Zugewinn von 11 SVP-Sitzen in der grossen Kammer erkläre, sagte er: «Das ist die Folge von drei Entwicklungen, mit denen die Schweizer nicht einverstanden sind und welche die SVP bekämpft.» Erstens wollten die meisten im Bundeshaus schleichend der EU beitreten; zweitens herrsche in der Schweiz ein Asylchaos und drittens fehle im Bundeshaus die Bereitschaft, angenommene Volksentscheide gesetzlich umzusetzen.

Wie steht es um die Wahrhaftigkeit der drei Entwicklungen, mit denen der Berner Oberländer sich seinen Sieg erklärt? Schlecht. Denn im Bundeshaus will längst fast keiner mehr der EU beitreten. «Schleichend» geht dies ohnehin nicht. Es bräuchte dazu ein ausgesprochenes Ja der Mehrheit aller Schweizer Stimmberechtigten und aller Kantone. Zweitens herrscht im Schweizer Asylwesen kein Chaos. Zwar ist auch in der Schweiz die Zahl der Asylsuchenden gestiegen. Doch die Empfangszentren stehen bereit, die Aufnahmeverfahren funktionieren, von einem Chaos ist nichts zu sehen.

Drittens haben National- und Ständerat in der vergangenen Legislaturperiode tagelang um die Umsetzung angenommener Volksinitiativen in dem Rahmen gerungen, wie er von der Bundesverfassung vorgegeben wird und zu beachten ist; von einer Bundesverfassung notabene, die auch nur deswegen gilt, weil ihr die Mehrheit der stimmenden Stimmberechtigten und der Kantone zugestimmt haben. Auch von einer «Missachtung des Volkswillens» kann also keine Rede sein.

Wahrheit und Behauptung

Lügt folglich Adrian Amstutz nach den Wahlen zur Erklärung seines Erfolges wie vor den Wahlen, als er den Bürgerinnen und Bürgern diese seine Sicht der Dinge nahelegen wollte? Lügen setzt den Vorsatz zur Lüge voraus. Das heisst, Adrian Amstutz würde nur dann lügen, wenn er wüsste, dass das, was er behauptet, nicht der Wahrheit entspricht. Doch möglicherweise glaubt er tatsächlich, was er sagt. Und weil gleichzeitig seit Hunderten von Tagen die gleichen Behauptungen an vielen Plakaten zu sehen und in unzähligen Inseraten täglich zu lesen sind, halten auch immer mehr Bürgerinnen und Bürger diese Behauptungen für wahr.

So wie jene Frau, die sich am Montagmorgen auf dem Berner Theaterplatz gegenüber einem Radioreporter als SVP-Wählerin zu erkennen gab und dies damit begründete, das sei jene Partei, die mit dem «Chaos in der Asylpolitik» aufhören wolle. Von Amstutz darf man verlangen, dass er herausfindet, wie es wirklich ist, und dann nur sagt, was ist. Von dieser Frau kann man das nicht erwarten, denn sie kann nicht beurteilen, ob stimmt, was behauptet wird.

Persönlich bin ich überzeugt davon, dass Adrian Amstutz bewusst ist, dass seine Behauptungen so nicht den Tatsachen entsprechen. Einige im Bundeshaus, mehr Diplomaten als Politiker, mehr Linke als Rechte, aber auch Freisinnige oder Christdemokraten, wollen zwar in die EU, aber das ist keineswegs die Mehrheit. Amstutz aber fürchtet, es könnte daraus eine Mehrheit werden. Zweitens weiss er, dass in der Schweiz bezüglich Asyl kein Chaos herrscht. Aber niemand garantiert, dass es nicht zu einem Chaos kommen könnte. Zumal wenn plötzlich alle, die sich derzeit aus Griechenland gegen Norden auf den Weg machen, plötzlich in die Schweiz kommen wollen statt nach Deutschland oder Schweden.

Drittens weiss Amstutz um das parlamentarische Bemühen zur korrekten Umsetzung des in Abstimmungen über ambivalente Volksinitiativen zum Ausdruck gekommenen, zeitweiligen Willens einer Mehrheit der Abstimmenden, der vereinfachend mit dem ganzen «Volk» gleichgesetzt wird. Doch weil er weiss, dass es so nicht geht, wie er will, unterstellt er allen, sie wollten es gar nicht richtig machen. Und weil dies alles eh sehr kompliziert ist und wenige um die menschenrechtlich und überstaatlich gesetzten Grenzen der Einschränkung der Grundrechte wirklich Bescheid wissen, geht Amstutz davon aus, dass wohl nur wenige wissen, wie weit er sich von der Wahrheit entfernt, diese wenigen kaum potentielle SVP-Wähler sind und deshalb ignoriert werden können.

Die kritische Öffentlichkeit fehlt

Amstutz lügt also nicht einfach, weiss aber durchaus, dass er nicht ganz die Wahrheit sagt. So lautet meiner Ansicht nach die für die Qualität der Demokratie und die Qualität der Wahlentscheidungen grundlegende Frage vielmehr: Weshalb glaubt Amstutz, dass sich diese Halbwahrheiten lohnen und er sie sich leisten kann? Antwort: Amstutz hat erfahren, dass ihm öffentlich kaum mehr einer widerspricht, wenn er falsche Tatsachen verbreitet. Beziehungsweise dass der Widerspruch, der ab und zu doch noch zu hören ist, nicht wirkt, sich nicht durchsetzen kann. Jene, die widersprechen, kann Amstutz als Parteigegner, Träumer oder Uneinsichtige abtun.

Jene, die er nicht ignorieren könnte, widersprechen nicht. Die meisten Medien, vor allem in der Deutschschweiz, beschränken sich auf die Weitergabe dessen, was Amstutz behauptet. Sie entlarven es nicht als Halbwahrheit. Sie organisieren nicht den Widerspruch und nehmen sich auch nicht die Zeit und den Raum, die es braucht, um sich der Wahrheit anzunähern, damit auch jene, die weniger Kraft in die Beurteilung der Wirklichkeit investieren können, Amstutz nicht auf den Leim gehen.

Ein anderer Kommentator sagte nach ganz anderen Wahlen: «Wir haben Angst mit Hoffnung geschlagen, Zynismus mit harter Arbeit und Negativität mit einer positiven Vision, die alle Kanadier zusammenbringt.» Er meinte Wahlen, die nicht in der Schweiz, sondern in Kanada stattfanden; er war ein linksliberaler, kein nationalkonservativer Sieger. Er heisst Justin Trudeau und nicht Adrian Amstutz, er kommt aus Montreal und nicht aus Sigriswil, er war Minister für Multikulturelles und nicht Baumeister. In Kanada fand Trudeau die Öffentlichkeit und die Medien, die es braucht, um die Angst zu widerlegen und die Hoffnung zu rechtfertigen, den Zynismus zu entlarven, die Negativität zu widerlegen und positive Utopien zu entwickeln.

In der deutschen Schweiz ist uns diese kritische Öffentlichkeit abhanden gekommen. Sie muss erst wieder aufgebaut werden, wenn wir die Lüge von der Wahrheit und diese von der Angst und der Angstmacherei unterscheiden lernen möchten.

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