Den Energieverbrauch senken und Atomstrom durch Naturstrom ersetzen: Auf diese Art will der Bundesrat den Klimaschutz mit dem Atomausstieg vereinbaren. Gleichzeitig verschärft er die Konflikte mit dem Naturschutz.
Das Verbot von neuen Atomkraftwerken hat der Bundesrat schon im Mai 2011 beschlossen. Damit reagierte er auf die Atomkatastrophe in Japan. Doch dieser langfristige Atomausstieg soll nicht auf Kosten des Klimaschutzes erfolgen. Darum hat der Bundesrat eine umfassende neue «Energiestrategie 2050» eingeleitet. Die Vorlage, welche die erste Etappe dieser Energiewende umsetzen soll, hat er gestern in die Vernehmlassung geschickt. Kantone, Parteien und Verbände können bis Januar 2013 dazu Stellung nehmen.
Diese erste Vorlage soll ab 2021 ergänzt und ersetzt werden durch eine ökologische Steuerreform. Diese Reform basiert auf einer Lenkungsabgabe auf allen Energieträgern und erfordert eine Änderung der Bundesverfassung. Der Bundesrat beauftragte gestern das Finanzdepartement, einen «Anhörungsbericht» dazu auszuarbeiten. Während die erste Etappe die Schweizer Energiepolitik primär mit Geboten, Verboten, Förderabgaben und Subventionen verstärken soll, stellt die zweite Etappe eine marktkonforme Lenkungsmassnahme dar, die viele Subventionen erübrigt.
Stromverbrauch stabilisieren
Nachfolgend die Kernpunkte der gestern beschlossenen Vorlage:
> VERBOT VON NEUEN AKW: Das von Regierung und Parlament bereits beschlossene Verbot von neuen AKW wird im revidierten Kernenergie-Gesetz (KEG) festgeschrieben. Die alten AKW sollen laut KEG unbefristet weiter laufen, solange sie die Aufsichtsbehörde Ensi als «sicher» beurteilt. Über das so revidierte KEG kann – wie bei allen Gesetzesänderungen – in letzter Instanz das Volk entscheiden, falls ein Referendum dagegen zustande kommt.
> STROMBEDARF STABILISIEREN: Beim Stromverbrauch soll ab 2020 «eine Stabilisierung angestrebt» werden. Dazu sieht das Energiegesetz unter anderem eine Ausweitung und Verschärfung der bisherigen Verbrauchsvorschriften für Elektrogeräte und –anlagen vor.
> SPARZWANG FÜR STROMVERKÄUFER: Stromlieferanten werden gezwungen, Massnahmen zum Stromsparen bei ihren Kunden ebenfalls zu fördern. Dazu auferlegt der Bund den Unternehmen individuelle, aber «verpflichtende Stromeffizienzziele», die deren Stromabsatz jährlich um maximal zwei Prozent senken können. Die Stromlobby hat ihren Widerstand dagegen bereits angemeldet.
Erneuerbare Energie fördern
Jener Atomstrom, der sich nicht einsparen lässt, soll ersetzt werden durch den Ausbau der Stromproduktion aus erneuerbarer Energie. Konkret:
> MEHR WASSERKRAFT: Die Stromproduktion aus Schweizer Wasserkraft ist bis 2050 auf 38,6 Milliarden kWh zu steigern (exklusive Pumpbetrieb). Gegenüber der heutigen mittleren Produktion entspricht das einem Zuwachs um neun Prozent.
> MEHR NATURSTROM: Die Stromproduktion aus der übrigen erneuerbaren Energie soll bis 2035 auf 12 Milliarden, bis 2050 auf 24 Milliarden kWh gesteigert werden; heute ist diese Stromproduktion mit weniger als einer Milliarde kWh marginal.
> Mehr WKK-ANLAGEN: Die installierte Leistung von fossil betriebenen Wärmekraftkopplungs-Anlagen (WKK) ist bis 2050 auf tausend Megawatt zu steigern; bei einer Produktion während 4000 Jahresstunden ergäbe das eine Stromproduktion von 4,0 Milliarden kWh.
Wasserkraft, erneuerbare Energie und WKK zusammen summieren sich 2050 also auf eine Stromproduktion von 66 Milliarden kWh. Damit liesse sich der heutige Landesverbrauch (inklusive Verbrauch der Speicherpumpen) decken.
Konflikt mit dem Naturschutz
Der Ausbau der erneuerbaren Stromproduktion kollidiert in vielen Fällen mit den Natur-, Landschafts- oder Gewässerschutz. Diesen Konflikt verschärft der Bundesrat mit folgenden Bestimmungen:
> ENERGIE VOR NATUR: Kantone müssen Gebiete und Gewässerstrecken für die zusätzliche Nutzung von Wind- und Wasserkraft in ihren Richtplänen festlegen. Neue Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energie werden zu einem «nationalen Interesse» aufgewertet, «das gleich- oder höherwertig» ist als die nationalen Interessen im Natur- und Heimatschutz-Gesetz. Diese neue Bestimmung im Energiegesetz (Artikel 14) kann den Natur-, Landschafts- und Gewässerschutz verwässern. Naturschützer werden dagegen wohl Sturm laufen.
> KEV OHNE DECKEL: Die Kostendeckende Einspeisevergütung (KEV) für Strom aus Wind-, Biomasse- Photovoltaik- und kleinen Wasserkraft-Anlagen wird im bisherigen Energiegesetz plafoniert. Diesen «Deckel»will der Bundesrat aufheben, um künftig mehr Strom aus erneuerbaren Energien fördern zu können. So kann er die die Abgabe, neu «Netzzuschlag» genannt, «bedarfsgerecht» festlegen. Industrie- und Gewerbebetrieben, die mehr als 0,5 Millionen kWh Strom pro Jahr verbrauchen (das sind sehr viele) kann der Netzzuschlag zurück erstattet werden; dies als Subvention an den «Werkplatz Schweiz».
> PLAFOND FÜR SOLARSTROM: Die Ausnahme bildet die Photovoltaik. Hier bleibt die Vergütung bis 2020 begrenzt auf maximal 0,6 Milliarden kWh eingespeisten Solarstrom pro Jahr; das entspricht einem Prozent des heutigen Stromverbrauchs. Gegen diese Beschränkung wird sich die Solarlobby wehren. Zudem wird die Einspeisevergütung für kleine Solaranlagen bis 10 Kilowatt Leistung ersetzt durch einen Investitionsbeitrag von maximal 30 Prozent der Kosten. Weil das neue Gesetz frühestens 2015 in Kraft tritt, bleiben die Mängel der heutigen KEV, insbesondere die Blockierung der Einspeisevergütung durch nicht realisierbare Wind- und Wasserkraftwerke, vorläufig bestehen.
Weniger fossile Energie
Der Atomausstieg darf die Klimaziele nicht gefährden. Dazu dienen die folgenden Mittel:
> CO2-ABGABE ERHÖHEN: Um den fossilen Energieverbrauch und damit den CO2-Ausstoss zu senken beantragt der Bundesrat eine Erhöhung der CO2-Abgabe auf 60 Franken pro Tonne CO2. Vom Ertrag dieser höheren Abgabe sollen maximal 300 Millionen Franken pro Jahr (bisher 200 Mio.) abgezweigt werden, um energiesparende Gebäudesanierungen zu fördern. Als Variante schlägt der Bundesrat eine Erhöhung der CO2-Abgabe auf 90 Franken/Tonne und einen Betrag von 450 Millionen/Jahr für Gebäudesanierungen vor.
> WENIGER SPRIT: Die Schweiz begrenzt den CO2-Ausstoss für neue Autos ab 2015 auf 130 Gramm pro Kilometer. Ab 2021 soll dieser Wert auf 95 Gramm/km gesenkt werden. Das Drei bis Vier-Liter-Auto wird damit langfristig zur Pflicht.
Insgesamt soll die Schweiz ihren End-Energieverbrauch pro Kopf und Jahr gegenüber dem Jahr 2000 senken, nämlich um 35 Prozent bis 2035 und um 50 Prozent bis 2050. Das wird im Artikel 4 des revidierten Energiegesetzes «angestrebt». Mit dieser Pro Kopf-Regelung wird der Einfluss der Bevölkerungszunahme auf den Energieverbrauch ausgeklammert. Schon in den letzten elf Jahren hat der Energieverbrauch pro Kopf (nicht aber der gesamte Verbrauch) leicht abgenommen.
Kommentar
Ein pragmatischer, bürokratisch aufwendiger Fahrplan
Erst das bisherige System mit Vorschriften, Förderabgaben, Subventionen und Zielvereinbarungen weiter führen, später – vielleicht – eine ökologische Steuerreform einleiten. Diesen Etappenplan hat der Bundesrat bekräftigt, um seine «Energiestrategie 2050» umzusetzen.
Realpolitisch ist das ein pragmatischer Entscheid. Die Regierung bevorzugt den Spatz in der Hand gegenüber der Taube auf dem Dach. Denn die Taube in Form einer Öko-Steuerreform wurde in den letzten 30 Jahren nie flügge – und sie fände wohl auch heute in diesem Land keine politische Mehrheit.
Schon die umfangreiche pragmatische Vorlage, die der Bundesrat jetzt in die Vernehmlassung schickt, bietet viel Angriffsfläche: Die Stromwirtschaft wehrt sich gegen die Verpflichtung zum Stromsparen. Die Erdöllobby wünscht keine höhere CO2-Abgabe. Die Naturschützer werden die Anbauschlacht mit Wind- und Wasserkraftwerken nicht hinnehmen, wenn sie schützenswerte Landschaften verschandelt oder der Natur weiteres Wasser abgräbt.
Auch der Spatz wird wohl Federn lassen müssen. Grundsätzlich ist der pragmatische Fahrplan verkehrt. Denn eine ökologische Steuerreform, die auf einer Lenkungsabgabe basiert, ist ein marktkonformes und effizientes Instrument. Sie gibt der knapper werdenden Energie, die wir heute fast gratis ausbeuten, einen Preis. Sie reizt automatisch zum Energiesparen an – und erspart damit bürokratisch aufwendige Zielvereinbarungen.
Ihr Ertrag erhöht nicht die Staatsquote, sondern fliesst pro Kopf und Arbeitsplatz in die Volkswirtschaft zurück. Grundsätzlich befürworten die meisten Parteien eine Öko-Steuer. Im konkreten Fall aber stehen ihnen die Subventionen stets näher als die reine Marktlehre.