Im Moment scheint in der Schweiz die Aussenpolitik etwas mehr zu interessieren als sonst. Nicht wegen der EU-Problematik, nicht wegen des Banken-Informationsaustauschs mit Russland und China, nicht wegen Hunger und Cholera etwa im Südsudan.
Nein, der Grund ist die anstehende Neubesetzung des von Didier Burkhalter freigegebenen Bundesratssessels. Da wird über allfällige Ambitionen von Innenminister Alain Berset spekuliert oder über die diesbezüglichen Qualifikationen von Ignazio Cassis, der als Bundesratskandidat mit den besten Wahlchancen gehandelt wird.
Sehr personenbezogen wird räsoniert, über welche Eigenschaften eine für die schweizerische Aussenpolitik in erster Linie verantwortliche Person verfügen muss. Scheinbar widersprüchliche Eigenschaften werden genannt: Sie muss sanft (diplomatisch) in der Vorgehensweise sein und zugleich mit eiserner Hand ihren «Laden» zusammenhalten. Sie muss dem Druck von aussen widerstehen sowie den Druck von innen aushalten. Sie muss der Schweiz eine Rolle in der Welt geben und das Land zugleich vom Wind der Weltpolitik abschirmen. Sie soll neue Wege finden und zum alten, wie auch immer definierten Tugendpfad zurückkehren.
Gestaltung und Zielsetzung
Bei der Wahl vom 20. September wird die Frage, wer von den Nominierten am ehesten ins Aussendepartement passt, keine Rolle spielen. Da sucht man nur eine Person für die als Kollegialbehörde funktionierende Landesregierung, und zwar eine, die den eigenen Präferenzen für eine Region, für Geschlecht und Generation und für eine politische Tendenz innerhalb des weitgehend akzeptierten «Anspruchs» der FDP zum Sieg verhilft.
Die SVP ist in der Umschreibung ihrer Erwartungen am politischsten: Der neue Bundesrat müsse gegen die «Unterwerfung» der Schweiz durch das Ausland sein, wobei mit Ausland die EU gemeint ist. Unterwerfung unter Kasachstan wäre ein kleineres Problem.
Heute haben die meisten Departemente ihre Aussenpolitik; sie wollen und sie müssen sie haben.
Wegen der Demission des braven Neuenburgers Burkhalter wird in jedem Fall das Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) neu besetzt. Das gibt Gelegenheit, jenseits der rein personellen Frage wieder einmal zwei andere Fragen ins Auge zu fassen: die strukturellen Gegebenheiten in der Gestaltung der Aussenbeziehungen und – last but not least – die eigentlichen Ziele der Aussenpolitik.
Mit strukturellen Gegebenheiten kann vieles gemeint sein: die Mitwirkung anderer Departemente, die Mitsprache des Parlaments sowie der Bürgerinnen und Bürger, vielleicht auch der Kantone. Hier ist der Moment, sich zu vergegenwärtigen, dass die Zeiten längst vorbei sind, da sich die Gestaltung der auswärtigen Beziehungen auf ein einziges Departement beschränkte.
Heute haben die meisten Departemente ihre Aussenpolitik; sie wollen und müssen sie haben. Institutionell kommt das auch im Ausbau des Netzes der Staatssekretäre zum Ausdruck. Aussenpolitik ist in dieser Hinsicht vor allem Koordination zwischen inneren Dienststellen.
Veränderte Grosswetterlage
Bei dieser Koordination aussenpolitischer Kompetenzen steht im Vordergrund, «Wirtschaft» und «Aussenpolitik» wieder näher zusammenzuführen – ein Bestreben, wie es bereits vor dem unerwarteten Rücktritt Burkhalters vorhanden war.
Wie das? 1961 wurde das sogenannte Integrationsbüro geschaffen, für welches das Wirtschafts- und das Aussendepartement gleichberechtigt zuständig waren. Ein Unikum in der Bundesverwaltung, das so bis 2012 bestand. Die primären Aufgaben des Integrationsbüros: die europäische Integrationspolitik beobachten, deren Auswirkungen auf die Schweiz analysieren und beurteilen sowie die Europapolitik des Bundes koordinieren.
Das Integrationsbüro hat unter der Doppelherrschaft gut funktioniert, die Änderung von 2012 ergab sich einzig aus Überlegungen der Machtarithmetik: Weil das Volkswirtschaftsdepartement (WBF) mit dem Ressort Bildung eine zusätzliche Zuständigkeit erhielt, musste es aus Gründen der Balance etwas anderes wieder abgeben: eben das Integrationsbüro, das fortan Direktion für europäische Angelegenheiten (DEA) zu heissen hatte.
Warum muss dies nach wenigen Jahren wieder rückgängig gemacht werden? An dieser Frage hängen viele weitere Fragen: Hat sich die leichte Veränderung in den Verwaltungsstrukturen tatsächlich in unerwünschter Weise auf die Definition der Politikinhalte und die konkrete Politikausübung ausgewirkt? Oder war die allfällige «Wirtschaftsferne» des Aussenministers dieser Zeit (eben Didier Burkhalter) dafür verantwortlich, dass Wirtschaftsinteressen zu wenig berücksichtigt wurden? Wurden diese Interessen überhaupt vernachlässigt? Was hat man verpasst und was hätte bei verteilter Zuständigkeit in den vergangenen fünf Jahren besser laufen können? Oder sind Wirtschaftsfragen einfach generell und europaweit wieder wichtiger geworden?
In Wahlkämpfen kann man kaum mit Aussenpolitik punkten, es sei denn, man tuts populistisch im rechtsnationalen Feld.
Die Antwort könnte simpel sein: Es ist unzweifelhaft eine Verschiebung in der politischen Arena von links nach rechts eingetreten. Und da aus rechter Perspektive selbst professionelle Aussenpolitik stets als zu links eingestuft wird und Wirtschaftspolitik generell als der rechten Position verpflichtet verstanden wird, muss es wegen der veränderten Grosswetterlage auch entsprechende Veränderungen im Administrativen geben.
Der Zürcher CVP-Nationalrätin Kathy Riklin geht es mit ihrem Vorstoss, die Direktion für europäische Angelegenheiten wieder den zwei Departementen EDA und WBF zu unterstellen, primär jedoch darum, dass das mit der Regelung von 2012 zurückgestellte «Wissen» wieder hereingeholt wird.
Generell ist Aussenpolitik wichtiger geworden und wird darum auch von Politikern wichtiger genommen. In Wahlkämpfen kann man allerdings weiterhin nur kaum mit Aussenpolitik punkten, es sei denn, man tuts populistisch im rechtsnationalen Feld. Für Wahlerfolge braucht es wirtschafts-, finanz-, sicherheits-, sozial- und bildungspolitische Profile. Bei der Verteilung der Sitze in den Kommissionen der eidgenössischen Räte dürften diejenigen in der aussenpolitischen Kommission auch nicht zu den begehrtesten zählen.
EDA-Vorsitz als Restposten für Bundesräte
Bei der Verteilung der Departemente unter den Bundesräten ist das Bild uneinheitlich. Einerseits erscheint das Aussenamt nicht als Schlüsseldepartement, sondern eher als Restposten, auf den man mitunter gerne die SP abgeschoben hat (zum Beispiel Micheline Calmy-Rey). Gerade in Zeiten, in denen die Bürgerlichen mit dem Volkswirtschaftsdepartement den grössten und wichtigsten Teil der Aussenbeziehungen gestalten konnten, reihte sich in auffallender Dichte ein SP-Aussenminister an den andern: Pierre Graber, Pierre Aubert, René Felber.
Wenig erstaunlich gab der ehemalige Volkswirtschaftsprofessor Joseph Deiss 2003 das EDA auf, um das Volkswirtschaftsdepartement übernehmen zu können. Andererseits übte das Ressort für Äusseres auf manche Magistraten doch eine gewisse Attraktion aus: Flavio Cotti (CVP) wechselte 1993 vom Departement des Innern (EDI) in das Aussendepartement (EDA). Den gleichen Schritt machte Didier Burkhalter (FDP) 2012.
Der aussenpolitische Kurs kann nicht von einer Einzelperson abhängen – wäre ja gelacht oder unheimlich oder beides.
Mit Blick auf die anstehende Wahl wird gerätselt, wie weit die schweizerische Aussenpolitik durch den neuen Mann (der es wohl sein wird) eine neue Ausrichtung bekommen wird, das heisst eine der EU weniger entgegenkommende. Der aussenpolitische Kurs kann aber nicht von einer einzelnen Person abhängen – wäre ja gelacht oder unheimlich oder beides. Die Schweiz hat noch immer eine Regierung mit Kollegialverantwortung.
Bleibt noch die Frage der ersten Ziele: In luftiger Höhe werden sie mit Wahrung der Unabhängigkeit und Sicherung des Wohlstands umschrieben. Diese Definition benötigt eine Konkretisierung: Im Falle der im Vordergrund stehenden Europapolitik geht es (noch immer sehr allgemein formuliert) um die Frage, wie Unabhängigkeit besser gewährleistet ist. Durch Selbstisolation oder durch kooperative Partizipation? Konkreter geht es um die Frage, was die Schweiz in den Verhandlungen um ein Rahmenabkommen gewinnen oder verlieren kann.
Im Moment aber dominiert die Frage, wer der nächste Bundesrat sein wird.
Der Kandidat, der kein Italiener mehr sein will
Meine Wahl am 20. September: Ich würde den Tessiner Cassis aus zwei Gründen nicht wählen: a) Weil er von einer Kantonalpartei aufgestellt wurde, die einer bestens qualifizierten Co-Kandidatin, der ehemaligen Regierungsrätin und ebenfalls zeitweiligen Nationalrätin Laura Sadis, keine Chance gab. Sie kam nicht auf ein Zweierticket, weil sie mit grosser Wahrscheinlichkeit von der Vereinigten Bundesversammlung einem Cassis vorgezogen worden wäre – und eine zu linke oder zu wenig rechte Freisinnige ist.
Und b) weil Ignazio Cassis opportunistisch eine seiner beiden Staatsbürgerschaften (die italienische, nicht die schweizerische) abgestreift hat, was einem Kniefall vor denjenigen und insbesondere der SVP gleichkommt, die Menschen mit Doppelstaatsbürgerschaften dem Verdacht aussetzen, Loyalitätsprobleme zu haben. Besonders opportunistisch war der Rückzieher in dieser Sache, weil Cassis in seinem Vorleben die Wiedererlangung der italienischen Staatsbürgerschaft selber beantragt hatte und dieser Vorgang auf seiner Homepage nicht richtig dargestellt wird.
Und meine Wahlprognose: Der Tessiner wird gewählt.