London ist abgeriegelt

Die britische Hauptstadt starrt vor Waffen. Von den olympischen Idealen Frieden, Internationalismus und Partizipation ist das reichlich weit entfernt.

London scheint sich auf das Schlimmste gefasst zu machen. (Bild: AP/Matt Dunham)

Die britische Hauptstadt starrt vor Waffen. Von den olympischen Idealen Frieden, Internationalismus und Partizipation ist das reichlich weit entfernt. 

Sie werden als die grösste Show der Welt angekündigt. Doch je näher man dem Stadion kommt, in dem der Grossteil der Veranstaltungen der Olympischen Spiele stattfindet, die in gut 14 Tagen in London beginnen, desto mehr entsteht der Eindruck einer militärischen Besatzungszone. Die Olympischen Spiele sind das Zentrum der grössten Mobilmachung, die Grossbritannien seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat.

Auf den Strassen sind bereits Soldaten unterwegs. Insgesamt werden es 13 500 sein, mehr als derzeit in Afghanistan im Einsatz sind. Hinzu kommen Zehntausende Polizisten und Mitarbeiter privater Sicherheitsdienste. Drohnen werden im Luftraum über dem olympischen Park patrouillieren, der hinter einem knapp 18 Kilometer langen Elektrozaun verbarrikadiert ist und mit Schallwaffen und 55 Kampfhunde-Staffeln bewacht wird.

Raketen auf Dächern

Für den grössten Unmut unter den Londonern hat wenig überraschend die Entscheidung gesorgt, in sechs an den olympischen Park angrenzenden Gebieten Boden-Luft-Raketen zu stationieren, die jedes nicht zugelassene Flugzeug abschießen sollen. Auch auf den Dächern der ehemaligen Fabrikgebäude, in denen die sozialistische Feministin Annie Besant 1888 den berühmten Streik der Streichholzmacherinnen angeführt hatte. Am Dienstag scheiterten die Bewohner eines betroffenen Wohnblocks vor dem höchsten britischen Zivilgericht mit einer Klage gegen die Stationierung von Raketen auf ihren Dächern. Als Begründung hatten sie angeführt, dass sie nicht gefragt worden seien und zum Ziel einer Terrorattacke werden könnten.

Natürlich ist die Gefahr eines Terrorangriffs umso grösser, wenn ein Land Gastgeber der Olympischen Spiele ist, das die Angewohnheit hat, in andere Länder einzufallen und diese zu besetzen. Bei Olympischen Spielen herrschen strikte Sicherheitsmassnahmen, seit vor 40 Jahren in München israelische Athleten ermordet wurden. Doch das Ausmass und die Sichtbarkeit der Operationen in London – wo hart gegen Demonstrationen vorgegangen werden kann und gar kritische Poster entfernt werden dürfen, die in Privatwohnungen hängen – gehen weit über das hinaus, was jeglicher potentiellen Bedrohung angemessen wäre.

Dahinter steht eigentlich etwas anderes. Das kam etwa in der Aussage eines Regierungsvertreters zum Ausdruck, der die Olympischen Spiele als «wunderbare Gelegenheit» bezeichnete, «zu zeigen, was der Privatsektor im Bereich der Sicherheit leisten kann».

Die Sicherheitsmassnahmen dämpfen die Begeisterung für die Spiele erheblich. So zeigen denn auch die jüngsten Umfragen, dass Olympia in der Bevölkerung kaum Anklang findet – 49 Prozent der Londoner und 53 der übrigen Briten gaben an, sich nicht für das Ereignis zu interessieren, nur vier Prozent sagten, sie fühlten sich dadurch angeregt, selbst mehr Sport zu treiben.

Es begann mit L.A.

Das wird sich zwar ohne Zweifel ändern, wenn erst einmal die Athleten einziehen. Doch vor dem Hintergrund, dass ein Grossteil der besten Tickets an Sponsoren und olympische Offizielle geht und angesichts der täglichen Affronts von VIP-Spuren auf den Straßen für die Fahrzeugflotten der Prominenten, werden wohl viele Londoner nicht den Eindruck haben, die Spiele hätten besonders viel mit ihnen zu tun. Damit hätten sie nicht unrecht. Finanziert wird das Spektakel zwar größtenteils mit öffentlichen Geldern, das Sagen aber haben Privatunternehmen. Das Sponsoring hat schon vor Jahrzehnten bei Olympia Einzug gehalten. Man denke an die Spiele von Los Angeles 1984, die zu Hochzeiten der Reaganomics stattfanden. Durch die Kommerzialisierung Olympias angestoßen – setzte dann wenige Jahre später eine Professionalisierung bei den Sportlern ein: Ein zeitgemässes Geschäftsmodell, gefördert von der Elite des IOC.

So geben also Coca Cola, der Schokoladenhersteller Cadbury’s, Heineken und McDonalds einer Bewegung Geld und Gesicht, die der Gesundheitsförderung dienen soll. Und das in einem Land, in dem jedes dritte Kind mit neun schon übergewichtig oder fettleibig ist. Selbst IOC-Präsident Jacques Rogge wird es langsam peinlich – die Scham ist allerdings nicht groß genug, um die Firma Dow Chemical als Sponsor abzulehnen. 1984 ist aus einer Anlage dieses Konzerns in Indien Giftgas ausgetreten, wodurch Tausende ums Leben kamen. Das Unternehmen weigert sich bis heute, Verantwortung zu übernehmen, die Überlebenden zu unterstützen und die seinerzeit bewirkte Verschmutzung der Umwelt zu beseitigen.

Um Kommerzialisierung, Sponsoren und Sicherheitsapparat zu rechtfertigen, wird immer wieder behauptet, der Austragungsort profitiere langfristig durch neue Arbeitsplätze, neue Gebäude, den Tourismus und eine größere Sportbegeisterung unter der Bevölkerung. So lautet das Versprechen jedes Mal, von Atlanta bis Athen. Tatsächlich aber hat sich – mit Ausnahme der Spiele von Barcelona 1992 – immer wieder gezeigt, dass dieses Versprechen nie eingelöst wird. In einigen Fällen waren die wirtschaftlichen Folgen gar negativ.

Bislang sieht es nicht danach aus, als ob es in London anders werden würde. Der frühere Bürgermeister Ken Livingstone hatte einst dafür gekämpft, dass die Olympischen Spiele an seine Stadt gehen, um dadurch an das Geld für den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur zu kommen, das er sonst wohl nie erhalten hätte. Doch trotz der inzwischen von 2,5 auf über 13 Milliarden Pfund gestiegenen Kosten für die öffentliche Hand sind die lokalen Arbeits- und Ausbildungsplätze und bezahlbaren Unterkünfte, die eine solche Investition eigentlich bewirken sollte, nicht entstanden.

Perrymans Alternative

Das Olympische Dorf wurde mit einem Verlust für die öffentlichen Kassen an Katar verkauft, nur ein kleiner Teil der dort erbauten Häuser wird nach den Spielen in bezahlbaren Wohnraum umgewandelt. Die mit den Spielen gestiegenen Mieten vertiefen indes bereits die soziale Segregation des Londoner Ostens, wie das schon bei der Umgestaltung der Docklands zu beobachten war.

Es ist offensichtlich, dass das Modell des IOC noch nicht einmal den eigenen Behauptungen gerecht wird. Dabei könnte es – so schreibt der Olympia-Enthusiast Mark Perryman in seinem neuen Buch – ganz anders laufen. Mit fünf Schlüsselreformen, argumentiert er, könne man die Kosten der Veranstaltung senken und einer Verwirklichung des olympischen Ideals näher kommen und einem strikt überwachten Kommerz-Mega-Event entgehen.

Perryman schlägt vor, die Spiele zu dezentralisieren und innerhalb eines Landes oder auf mehrere Länder zu verteilen. Außerdem solle man die Teilnahme der Öffentlichkeit durch die Nutzung bestehender Sportstätten und die Maximierung der Zahl der verfügbaren Tickets erhöhen. Er empfiehlt, die Wettkämpfe aus den Stadien herauszubringen und wie bei der Tour de France die Zahl der kostenlosen Veranstaltungen zu erhöhen sowie die Sportarten danach auszuwählen, wie zugänglich sie weltweit allen Bevölkerungsschichten sind. Des weiteren plädiert Perryman dafür, die Präsenz der Firmensponsoren zu beschränken, indem man das Symbol der fünf olympische Ringe lokalen und ehrenamtlich arbeitenden Gruppen vorbehält.

Aus den Spielen in London können keine solchen Spiele für alle mehr werden – dazu ist es zu spät. Nicht aber für Rio de Janeiro, wo die Spiele in vier Jahren stattfinden werden, wo man derzeit aber die gleichen Weg einschlägt, wie der Vorgänger. Auch die Erwählten vom IOC werden ohne ernstzunehmenden weltweiten Druck keinen Grund dafür sehen, sich von einem Modell zu lösen, an dem sie sich hübsch bereichern können.

Die Olympischen Spiele – wie der Sport im Allgemeinen – halten der Gesellschaft den Spiegel vor. Was in London aufgeführt wird, spiegelt das Erbe des War on Terror und der Deregulierung der Macht der Wirtschaft wider – beide Male führten Fehler der Eliten zu einem Desaster. Doch wenn diese Katastrophen überwunden werden können, warum sollte es dann unmöglich sein, den Einfluss der Privatwirtschaft bei Olympia zu beenden und Spiele zu veranstalten, die olympischen Ansprüchen gerecht werden?

Übersetzung: Zilla Hofman

 

 

 

Quellen

Guardian News & Media Ltd 2012

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