Frankreichs neuer Präsident startet aus einer schwachen Position. Dass sich ein Drittel der Stimmberechtigten der Stimme enthielt oder leer einlegte, spricht Bände. Was Macrons erste Aufgabe sein muss, ist damit auch klar.
Emmanuel Macron (66 Prozent der Stimmen) weiss, was die Nation von ihm erwartet: In seinen fünf Amtsjahren muss er dafür sorgen, dass sich das Wahldrama von 2017 fünf Jahre später nicht wiederholt. Will heissen: dass die unterlegene Rivalin Marine Le Pen (34 Prozent) bei den Präsidentschaftswahlen 2022 keine Chance haben wird.
In seiner ersten Stellungnahme dankte der frisch gekürte Präsident natürlich seinen Anhängern, aber er richtete sich auch ausdrücklich an Le Pens Wähler und erklärte: «Ich weiss um die Wut, die Angst und die Zweifel.» Deshalb wolle er «die Schwächsten schützen».
Alles gegen Le Pen
Macrons Wahl bedeutet für die Pariser Politik eine eigentliche Frischzellenkur. Auch bei den Parlamentswahlen im Juni will seine Bewegung «En Marche!» mit vorwiegend neuen Gesichtern aus der Zivilgesellschaft antreten. Im Elysée-Palast, aber auch im Regierungssitz des Hôtel Matignon und in der Nationalversammlung steht damit ein Generationenwechsel an.
Der neue Präsident feierte seinen Wahlsieg abends im grossen Innenhof des Louvre-Museums vor mehreren Zehntausend Anhängern in einem Meer von Frankreich- und Europa-Fähnchen. In einem genau einstudierten Auftritt erklärte er mehrmals, seine Aufgabe sei «immens»; deshalb appellierte er an die Wähler, ihm bei den Parlamentswahlen im Juni eine Mehrheit zu geben. Erneut versprach er, «alles zu unternehmen, damit die Wähler von Marine Le Pen in fünf Jahren keinen Grund mehr haben, für sie zu stimmen».
Vier Millionen Wähler legten leer ein. Das zeugt doch von einer verbreiteten Skepsis gegenüber Macrons vagem Wahlprogramm.
Macron meinte, er habe die Kulisse der Louvre-Pyramide gewählt, weil sie ein Symbol für die Geschichte und den Erneuerungswillen der Nation sei. Der linke Leitartikler Laurent Joffrin mahnte allerdings, die Pyramide sei aus Glas – Zeichen eines «schönen, aber fragilen Wahlsiegs». Fragil ist er, weil die Stimmbeteiligung fünf Punkte tiefer lag als bei früheren Präsidentenwahlen. Zudem legten über vier Millionen Wähler – fast neun Prozent der Abstimmenden – leer ein. Offensichtlich wollten sie Le Pen verhindern, ohne deshalb für Macron einlegen zu müssen. Das zeugt doch von einer verbreiteten Skepsis gegenüber seinem vagen Wahlprogramm.
Macron dürfte sein Amt in einer Woche mit einer feierlichen Stabsübergabe durch François Hollande antreten. Noch diese Woche will er die Liste seiner Kandidaten für die Parlamentswahlen im Juni bereinigen. Laut ersten Umfragen könnte er mit «En Marche!» die absolute Mehrheit der Sitze knapp verpassen. Die präsidialen Wahlvorschläge wären damit nur noch schwer durchsetzbar.
Die seit der Gründung der Fünften Republik im Jahr 1958 dominierenden Grossparteien – Konservative und Sozialisten – sind allerdings derzeit nur noch Schatten ihrer selbst. Aufwind verspüren hingegen die Links- und Rechtspopulisten um Le Pen und Jean-Luc Mélenchon. Ob Macron in der Nationalversammlung eine Mehrheit erhalten wird, ist deshalb völlig offen.
FN vom Rekord enttäuscht
Le Pens Resultat ist ambivalent. Die Zunahme ihrer Stimmen im Vergleich zu früheren Präsidentschaftswahlen ist an sich spektakulär: In der Stichwahl 2002 hatte ihr Vater Jean-Marie Le Pen 5,5 Millionen Stimmen erzielt; jetzt kommt seine Tochter auf das Doppelte. Allein darin zeigt sich, wie stark die Rechtspopulisten in Frankreich geworden sind. Seit den Regionalwahlen von 2015 ist der Front National (FN) sogar die stärkste Partei Frankreichs.
Trotzdem verhehlte Le Pen kaum ihre Enttäuschung, dass sie «nur» 34 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Laut den Umfragen der letzten zwei Wochen konnte sie mit mehr als 40 Prozent Stimmen rechnen. In den ersten Tagen nach der Qualifikationsrunde hatte sie dem unerfahrenen Politnovizen Macron sogar noch die Wahlkampfmeisterin gezeigt. Doch ihre Nerven reichten nicht bis zum Schluss: Im entscheidenden TV-Duell trat sie zu aggressiv auf, und auch die angeblich russische Hackerattacke auf Macrons Wahlkampf-Equipe schadete zuletzt eher ihr, da sich viele Franzosen solche Manipulationsversuche von aussen verbieten. Die französische Justiz nahm am Sonntag Vorermittlungen gegen die «Macron Leaks» auf.
Macron wurde von seinen eigenen Wählern nur zu 40 Prozent aus Überzeugung gewählt.
Auch Macrons Wahlresultat von 65,5 Prozent ist weniger gut, als es scheint. Obwohl sich die Dinge seit 2002 geändert haben: Damals hatte Jacques Chirac gegen Jean-Marie Le Pen mit über 82 Prozent triumphiert. Macron hat nicht nur ein vages Programm, sondern auch eine schmale politische Unterstützung. Alle Präsidenten der Fünften Republik hatten ein starkes Links- oder Rechtslager hinter sich und stemmten ihre ersten Entscheide im Elysée mit einem eigentlichen Volksplebiszit im Rücken. Macron wurde von seinen eigenen Wählern nur zu 40 Prozent aus Überzeugung gewählt, wie erste Wahlanalysen aufzeigen; 60 Prozent legten «par défaut» für ihn ein, das heisst, um Le Pen zu verhindern.
Start aus schwacher Position
Macron hat nicht nur keine Volksmehrheit, sondern auch keine eigentliche Partei hinter sich. Die Kandidaten seiner Bewegung «En Marche» für die Parlamentswahlen im Juni sind noch nicht einmal bestimmt. Werden sie in der Nationalversammlung eine Mehrheit erhalten? Wenn nicht, müsste Macron von Beginn weg mit einer Minderheit oder einer «cohabitation» regieren. Die Konservativen wie auch die Sozialisten sinnen nach ihrem Präsidentschafts-Fiasko auf Rache; und weiter aussen drohen Volkstribune wie Le Pen und Jean-Luc Mélenchon.
Macron, der Mann mit dem starken Selbstwertgefühl, startet damit aus einer eher schwachen Position. Dabei müsste gerade der Jungpräsident beherzt zupacken können. Davon hängt letztlich die Zukunft Europas ab. Ein Drittel Wählerstimmen für Le Pen, das offenbart die Misere breiter Wählerschichten und Landstriche. Diese einfacheren, ärmeren Wähler wieder in die Gesellschaft zurückzuholen, muss die erste Aufgabe des neuen Präsidenten sein. Und da fragt es sich, ob der technokratische Eliteschulabgänger Macron die ideale Person dafür ist.