Im finanzgeplagten Binningen hat der Prozess der Selbstauflösung begonnen. Weitere Baselbieter Gemeinden könnten schon bald folgen.
Am Samstagmorgen scheint die Welt in Binningen noch in Ordnung zu sein. In der Musikschule sind die Kinder des Ensembles daran, ihre Geigen zu stimmen. Und wenn draussen auf der Strasse einer stehen bleibt und durchs Fenster zu ihnen reinschaut, kichern sie und machen die Vorhänge zu – und wieder auf, zu, auf.
Etwas weiter vorne, auf dem Sportplatz, spielen sich die D-Junioren des SC Binningen und des SC Steinen Basel ein. «Letzte Woche haben wir Arlesheim 14:0 geschlagen, jetzt kommt Binningen dran», sagt ein Spieler der Basler. «Wir sind nicht Arlesheim», entgegnet ein Binninger. Dann geht das Spiel los – und die Binninger machen gleich Druck, 11:1 werden sie die Partie schliesslich gewinnen.
Ähnlich erfolgreich ist die Binninger Bibliothek, die neben dem Sportplatz und dem Margarethenschulhaus ihren traditionellen Hol- und Bringtag veranstaltet. Schon kurz nach Beginn um 10 Uhr sind viele Interessierte und sehr viele Bücher da. Dieser Hol- und Bringtag ist für die Binningerinnen und Binninger die perfekte Gelegenheit, um neben Büchern auch noch ein paar Neuigkeiten auszutauschen.
Ein grosses Thema ist an diesem Samstag die Gemeindepolitik. Die «Haushaltsüberprüfung», wie der Gemeinderat es nennt. 116 Massnahmen, die Einsparungen in der Höhe von 2,9 Millionen Franken bringen sollen. «Das geht jetzt aber wirklich zu weit», heisst es am Hol- und Bringtag.
Proteste vor dem Gemeindeparlament
Es sind tatsächlich drastische Massnahmen, über die der Einwohnerrat am Montag ein erstes Mal diskutiert. An diesem Abend ist vom glücklichen Binningen erst einmal wenig zu spüren. Vor dem Kronenmattsaal stehen Junge und Alte mit Transparenten, Schwimmflügeli und Badehilfen, rund 200 Protestierende insgesamt. Ihre Botschaften sind klar: «Wir protestieren gegen die Schliessung des Hallenbades und des Bottminger Bades!» «Das Jugendhaus darf nicht abgerissen werden!» «Lieber das Schloss als die Lagerhäuser verkaufen!» «Die Erwachsenenbildung darf nicht sterben!»
In den Gesprächen ist von einem «Scherbenhaufen» die Rede und von einer «Bankrotterklärung», daneben hält ein Mädchen still ein selbstgemaltes Plakat hoch, darauf die Frage: «Wer denkt hier eigentlich noch an die nächste Generation?»
Wer hätte das alles im glücklichen Binningen erwartet? Bis vor Kurzem vermutlich niemand.
Dabei ist das Bedenklichste an der ganzen Debatte wahrscheinlich nicht einmal, dass mit Binningen ein erstes Unterbaselbieter Gemeinwesen drauf und dran war, sich selbst aufzulösen, sondern dass noch weitere Gemeinde folgen könnten. In Allschwil, Reinach und Birsfelden werden ebenfalls Einsparungen in Millionenhöhe geplant. Andere Gemeinden wie Muttenz haben bereits in den vergangenen Jahren ein Sparpaket geschnürt oder wie Schönenbuch von Anfang an auf Dinge wie Mittagstische, familienexterne Betreuung, Bibliotheken und Bäder verzichtet. Es sind Angebote, die andernorts üblich sind, im Baselbiet aber als «Sonderleistungen» gelten.
Und das im Ort der Schönen und Reichen!
Dass sich ein kleines Dorf wie Schönenbuch das nicht alles leisten kann, ist noch nachvollziehbar. Aber Binningen mit seinen rund 15’000 Einwohnern? Diesem Ort, wo die Schönen und Reichen wohnen? Wo eine ganze Reihe von Unternehmern, Forschern und Anwälten daheim ist, ebenso wie der Präsident des heiss geliebten FC Basel und der Boss der glamourösen Swiss Indoors, die Leute also, die Basel zu dem machen, was es ist, und sich das wohl auch entsprechend vergüten lassen? Binningen, der Ort, wo das durchschnittliche steuerbare Einkommen darum so hoch liegt wie in kaum einer anderen Baselbieter Gemeinde – bei 89’451 Franken –, und wo neben diesem teilweise schnell gemachten auch das alte Geld gut aufgehoben ist, in den Händen von Mäzenen, die mit ihrem Engagement gerade in der Region Basel vieles ermöglichen?
Eigentlich unvorstellbar, dass hier kein Geld mehr für ein Bad oder ein Jugendhaus übrig sein soll. Und doch ist es logisch, dass die Gemeinde neuerdings Millionendefizite schreibt, solange die Bürgerlichen ihr altes Versprechen nicht einhalten.
Bei den letzten Steuersenkungen 2004 und 2005 kündigten FDP und SVP an, «immer bereit zu sein», die Steuern «falls nötig» wieder nach oben zu korrigieren. Seither haben sie dem Gemeinderat aber bei jedem Antrag, die Steuern zumindest wieder auf das Niveau von 2004 zu heben, eine Abfuhr erteilt. Obwohl der Steuerfuss in der Gemeinde auch danach noch deutlich unter dem Durchschnitt im Bezirk Arlesheim und erst recht im ganzen Kanton liegen würde.
Die Angst, im Steuerwettbewerb unterzugehen
Aber Binningen wäre nicht Binningen, wenn es sich nach dem Mittelmass richten würde. Binningen will mit den Besten mithalten, sprich: den steuergünstigsten. Gerne erwähnt wird von den Bürgerlichen vor allem die Nachbargemeinde Bottmingen, die ihren Steuersatz in den vergangenen Jahren von 54 auf 42 Prozent der Staatssteuer senken konnte. Und auch Pfeffingen und Arlesheim sind nach dem Jahr 2000 nochmals runter mit den Steuern, auf 45 Prozent, ein Prozent tiefer als Binningen.
Selbstverständlich macht ein Prozentpunkt für die durchschnittliche Steuerzahlerin, den Steuerzahler nicht sehr viel aus. Rund 100 Franken sind es bei einem Einkommen von mehr als 89 000 Franken. Doch auch in diesem Punkt orientiert man sich in Binningen nicht unbedingt am Durchschnitt, sondern an den 50 Topverdienern, die rund einen Viertel der Steuereinnahnen liefern. Und sie kämen in einigen Fricktaler Gemeinden schon jetzt deutlich besser weg – und in den Innerschweizer Steuerparadiesen erst recht. Darum fällt es den Binninger Bürgerlichen auch so schwer, Wort zu halten. Auch bei eine Steuersenkung um nur schon ein oder zwei Prozentpunkten hätten sie Angst, im Steuerwettbewerb nicht mehr mithalten zu können, die besten Steuerzahler zu verlieren und damit noch tiefer in die Bredouille zu geraten.
Grosse Pläne
Lange schien die Rechnung sogar noch aufzugehen und alles möglich – tiefe Steuern, grosszügige Angebote und grossartige Projekte. Binningens Ziel war es, noch schöner zu werden, noch wohnlicher und grüner vor allem auch, nicht nur an den bevorzugten Wohnlagen am Hügel, sondern auch im Tal unten. Von günstigen neuen Wohnungen war im Strategiepapier von 2006 über die räumliche Entwicklung die Rede, von verkehrsberuhigten Quartieren mit attraktiven Treffpunkten und Zentren. Was die Planer im Kopf hatten, war klar: ein lebendigeres Binningen. Und ein jüngeres vor allem auch.
Das war eigentlich die richtige Strategie. Denn das Baselbiet wird, vor allem im unteren Kantonsteil, älter und älter. Eine Folge des starken Wachstums von den 1950er- bis in die 1970er-Jahre, als die Region boomte und sich die Bevölkerungszahl im Baselbiet verdoppelte.
Was die Planer im Kopf hatten, war klar: ein lebendigeres Binningen. Und auch ein jüngeres.
Aus den vielen jungen Zuzügerinnen und Zuzügern sind inzwischen Rentnerinnen und Rentner geworden, und auch ihre Kinder sind dem Altersheim schon fast näher als der eigenen Schulzeit. Bis Mitte der 2030er-Jahre wird die Zahl der über 65-Jährigen im Kanton darum kontinuierlich auf rund 30 Prozent steigen. Vor wenigen Jahren war ihr Anteil erst halb so hoch.
Auf den Mix kommt es an
Das hat auch Auswirkungen auf die Gemeindefinanzen. Die Pflegekosten schnellen in die Höhe, während die Steuereinnahmen absacken, weil die Renten tiefer sind als die Einkommen. Eine der wenigen Gemeinden, die konsequent auf dieses Problem reagieren, ist Arlesheim. «Die Mischung macht es aus. Deshalb achten wir darauf, dass sich auch jüngere Leute und junge Familien bei uns wohlfühlen.
Wir wollen eine attraktive Gemeinde für alle und in allen Lebensphasen sein», sagt der Arlesheimer Finanzchef Lukas Stückelberger. Dabei hat seine Gemeinde den Vorteil, das, was Binningen 2006 in seinem Strategiepapier angestrebt hat, bereits seit 1785 zu haben: einen Landschaftspark, einen formvollendeten noch dazu – die Ermitage. Überhaupt ist Arlesheim eine der wenigen wirklich schönen Gemeinden in der Agglomeration Basel mit einem richtigen Zentrum um den stolzen Dom.
Aber die Arlesheimer machen auch etwas dafür, dass der «Mix» stimmt, wie Stückelberger es nennt. Für die Kinder gibt es mehrere Spielplätze und familienexterne Betreuung mit den drei Modulen Mittagstisch, Nachmittagsbetreuung und Nachschulbetreuung, für die etwas Älteren das Jugendhaus, die Bobliothek und – auch dank Privatinitiative – Ausstellungen, Konzerte, das Neue Theater am Bahnhof und, und, und.
Arlesheim kann sich das alles leisten, während Binningen an allen Ecken und Enden sparen will, sparen muss, bei den Alten genauso wie bei den Kindern und Jugendlichen. Die Gemeinde sieht sich nicht einmal mehr in der Lage, seine 100-jährigen Jubilare mit einem Kärtchen, einem kleinen Präsent und ein paar netten Worten zu beglücken.
Die Jungen werden gehen
Enttäuscht werden schliesslich alle. Der Unterschied besteht nur darin, dass die Älteren eher bleiben. Die Jungen sind mobiler und werden es sich gut überlegen, ob ein anderer Wohnort nicht besser wäre. Das wird die Problematik noch weiter verschärfen.
So ist einiges durcheinandergeraten, aber nicht nur in Binningen, sondern im ganzen Kanton, diesem zentralistischen Gebilde, in dem die Gemeinden kaum mehr Handlungsspielraum haben. «Sparen können wir eigentlich nur in den Bereichen Kultur, Sport und Freizeit, auch wenn einem das dort ganz besonders schwer fällt», sagt der Binninger Gemeindepräsident Mike Keller. In den meisten anderen Bereichen sind die Ausgaben vorgegeben und gebunden.
Dagegen kann eine Gemeindebehörde ebenso wenig ausrichten wie gegen den Finanzausgleich: diese unermüdliche Umverteilungsmaschinerie, die auch im vergangenen Jahr wieder 64 Millionen Franken in den einkommensstarken Gemeinden der Agglomeration aufsog (8,3 Millionen allein in Binningen) und in den ländlicheren Gebieten im Oberbaselbiet und im Laufental wieder ausspuckte.
Der Mechanismus ist grundsätzlich sinnvoll, als Akt der Solidarität. Die grossen Starken helfen den kleinen Schwachen. Das jetzige System hat aber den Nebeneffekt, dass die teilweise überkommenen Strukturen in den vielen Klein- und Kleinstgemeinden künstlich aufrechterhalten werden. Und dass am falschen Ort investiert wird. Während im bevölkerungsreichen Unterbaselbiet die Schliessung eines Hallenbads geprüft wird, befasst man sich im Oberbaselbiet mit den Plänen für ein neues Hallenbad.
Ein Durcheinander im ganzen Kanton
Der Baselbieter Finanzdirektor Anton Lauber (CVP) kennt das Problem, er stammt aus Allschwil, war dort lange Gemeindepräsident. Nun sucht er in seiner neuen Funktion nach Lösungen. Nach einem «besser austariertem System», wie er es nennt. Die Gemeinden sollen mit dem neuen Gemeindestrukturgesetz mehr Kompetenzen erhalten.
Noch längst nicht überall sind die Strukturen dafür stark genug. Lauber erwartet darum mehr Zusammenarbeit in den «regionalen Räumen», wobei er auch schon an Fusionen denkt. Zwang will er dabei keinesfalls anwenden, etwas Druck aber möglicherweise schon – mit der neuen Verordnung und dem neuen Gesetz zum Finanzausgleich. Auch in diesem Zusammenhang spricht Lauber von einer «vertretbaren Entlastung für die grossen Gemeinden und einer möglichst guten Austarierung».
Sie klingen durchaus gut, die Kernbotschaften des Anton Lauber. Politisch wird er sie aber dennoch nicht einfach durchsetzen können, weil es im jetzigen System viele, zu viele Profiteure gibt.
Damit ist der Finanzdirektor an einem ähnlichen Punkt wie der Binninger Gemeindepräsident Mike Keller und seine Kollegen im Gemeinderat. Seit der Einwohnerratssitzung vom Montagabend ist das Ziel zwar klar, der Weg aber nicht. In einer Grundsatzabstimmung hat sich eine deutliche Mehrheit des Parlaments für einen Erhalt des Hallenbades, des Jugendhauses, des Ferienheims Wisli, des Klassenmusizierens, der Erwachsenenbildung und der Fortsetzung der Zusammenarbeit mit Bottmingen und Oberwil beim Gartenbad Bottmingen ausgesprochen.
Was passiert mit der Bibliothek – und was mit den Vereinen?
Jetzt müssen sich erst die Geschäfts- und Rechnungsprüfungskommission, dann nochmals der Einwohnerrat und schliesslich der Gemeinderat mit der Frage auseinandersetzen, wie die angestrebten drei Millionen Franken ohne Verzicht auf das millionenteure Bad eingespart werden sollen. Die Antwort kann nur lauten: mit einer markanten Steuererhöhung, von der die bürgerliche Mehrheit zumindest bis jetzt auch nie etwas wissen wollte.
Wenn nur alles so einfach wäre, wie ein paar überhebliche Basler mit 11:1 vom Platz zu fegen, so bestechend wie der Büchertausch, so fröhlich wie ein Geigenspiel. Das ist es aber nicht. Und wahrscheinlich wird es bald auch in diesen Bereichen nicht mehr so gut laufen in Binningen: Der Gemeinderat plant unter anderem auch bei den Vereinen und der Bibliothek zu sparen, auch wenn das in der ersten Aufregung um die geforderte Schliessung des Hallenbades fast untergegangen ist.