Mascha und Lena leben seit 14 Jahren mit der Tabu-Diagnose HIV

Russland ist eines der wenigen Länder, in denen sich das HI-Virus rasant ausbreitet. Trotzdem drückt sich der Staat um eine wirkungsvolle Prävention. Und das Geld für Therapien wird laufend zusammengestrichen.

Novoye Vremya, AIDS, HIV, Jekaterinburg, Russland, Lena Jamischina und ihre Tochter Mascha, bei HIV positiv haben Hilfe gefunden im Zentrum der Hilfsorganisation Novoye Vremya in Jekaterinburg. (c) 2016 Frank Schultze / Zeitenspiegel

(Bild: Frank_Schultze)

Russland ist eines der wenigen Länder, in denen sich das HI-Virus rasant ausbreitet. Trotzdem drückt sich der Staat um eine wirkungsvolle Prävention. Und das Geld für Therapien wird laufend zusammengestrichen.

Als Lena die Diagnose erhielt, war sie gerade schwanger. «Sie haben HIV», hatte die Ärztin zu ihr gesagt. «In fünf Jahren werden Sie sterben. Und Ihre Tochter auch.» Heute noch sagt Lena die Sätze auf, ungläubig, als hätten sie eigentlich nichts mit ihr zu tun. Sie ist ein lebensfroher Mensch, der sich kaum Kummer oder Gram anmerken lässt. Damals im Sprechzimmer war einer der ganz seltenen Momente, in denen sie geweint hat.

Das war 2002. Heute ist Lena 43. Pinker Lippenstift, das blonde Haar zu einem Zopf gebunden, und ein Lachen, das ansteckt. «Und seht euch meine Tochter an», sagt sie, und weist auf Mascha, eine junge Frau. Langes, walnussbraunes Haar, schüchternes Lächeln. Vor wenigen Tagen ist sie 14 Jahre alt geworden, aber schon jetzt ist sie fast grösser als ihre Mutter. Lena hebt den Zeigefinger, wie zur Mahnung. «Wir haben nicht vor, so bald zu sterben!» 

Lena und Mascha leben in Kirowgrad. In der 30’000-Einwohner-Stadt, eine Autostunde von Jekaterinburg, ist jeder 25. Bewohner mit dem Virus infiziert. Lena hat sich damals wohl bei ihrem Mann angesteckt. Woher er das Virus hatte? Das kann Lena bis heute nicht genau sagen. Sie hat sich noch während der Schwangerschaft von ihm getrennt. Heute ist sie alleinerziehende Mutter von fünf Kindern. Sie kümmert sich neben den drei leiblichen Kindern auch um die zwei Töchter ihrer Schwester. Diese ist drogensüchtig und kann sich nicht um die Kinder kümmern. Auch sie trägt das HI-Virus.

«Verborgene Epidemie» hinter den offiziellen Zahlen

In ganz Russland sind mehr als eine Million Menschen mit HIV infiziert, eine Zahl, die sich seit 2011 verdoppelt hat. Russland gilt als eines der wenigen Länder der Welt, in dem sich das Virus ausbreitet. Und das rasant: 2015 haben sich 93’000 Russen neu infiziert – so viele, wie noch nie seit das Virus das Land erreicht hat. Das Gesundheitsministerium warnt, dass sich die Zahl der Infizierten bis 2020 mehr als verdoppeln könnte – auf 2,5 Millionen in ganz Russland. Doch das sind ohnehin nur die offiziellen Zahlen. 

Jekaterinburg, die Millionenstadt am Ural, hat als HIV-Hauptstadt Russlands traurige Berühmtheit erlangt. Seit Jahren sprechen Experten von einer «HIV-Epidemie». In einem unscheinbaren Hinterhof, hinter einer vereisten Zufahrt, weist nur ein kleines Schild auf den Sitz der NGO «Nowoje Wremja» («Neue Zeit») hin.

HIV wird tabuisiert. Erst vor einem Jahr ging erstmals ein Prominenter mit seiner Diagnose an die Öffentlichkeit.

Hier sitzt Marina Chalidowa in ihrem Büro. Die Ärztin und Psychotherapeutin hat das Zentrum 1998 mit anderen Ärzten gegründet. Frauen und Kinder mit HIV werden hier psychologisch betreut und lernen, sich mit ihrer Diagnose zu versöhnen, so gut das eben geht. Hier können sie darüber sprechen, worüber sie sonst schweigen. HIV ist in Russland stark tabuisiert: Erst vor einem Jahr ging mit dem TV-Moderator Pawel Lobkow erstmals in Russland ein Prominenter mit seiner Diagnose an die Öffentlichkeit. 

«Vor meinen Augen hat sich die Epidemie ausgebreitet», sagt Chalidowa. Vom Beginn, als sich fast nur Drogensüchtige über den gemeinsamen Gebrauch von Spritzen angesteckt haben, bis zum «generalisierenden Stadium», in dem alle sozialen Schichten betroffen sind, auch Schwangere und Kinder. Fast zwei Jahrzehnte, in denen das HI-Virus aus dem Drogenmilieu in die Mitte der Gesellschaft gelangt ist. Sie schätzt, dass die Zahl der nicht registrierten Fälle, die «verborgene Epidemie», noch dreimal höher ist als die offiziellen Zahlen.

Angst vor geheimen Experimenten

Zwar können mit Medikamenten, der sogenannten «antiretroviralen Therapie», die HIV-Infizierten ein relativ gutes Leben führen, so wie Lena und Mascha. Doch längst nicht alle mit einer HIV-Diagnose sind in Therapie – russlandweit sind es nur knapp 200’000. Um zu sparen, hat der russische Staat die Therapie für 50’000 Personen gestrichen. Experten befürchten, dass sich die Lage infolge der Wirtschaftskrise weiter verschlechtern könnte. 

Doch das ist längst nicht das einzige Problem. Natalja sitzt auf ihrem Hocker, tippt auf ihrem Tablet und schüttelt immer wieder den Kopf. Ihre Tochter Anschelka, eine schlanke Frau Anfang 20, dreht sich vor dem Spiegel die Locken, ihr Blick ist trübe. Mutter und Tochter teilen sich ein Zimmer in einem Wohnheim, im Gang schrubbt eine Putzfrau den Boden. Anschelka ist HIV-positiv. Alle Drogen habe sie durchprobiert und sich auch gespritzt, erzählt sie freimütig. Vor zwei Jahren brachte sie eine HIV-positive Tochter zur Welt.



Novoye Vremya, AIDS, HIV, Jekaterinburg, Russland, HIV infizierte Anschelka Zwetkowa ist AIDS-Dissidenten und glauben nicht, dass die Krankheit existiert und laesst sich auch nicht im Gespraech mit der Direktorin der Hilfsorganisation Novoye Vremya Marina Chalidowa von Gegenteil ueberzeugen. Anschelka weigert sich daher auch Medikamente einzunehmen. (c) 2016 Frank Schultze / Zeitenspiegel

Anschelka nimmt keine retroviralen Medikamente, da sie als «Aids-Dissidentin» nicht an die Existenz der Krankheit glaubt – obwohl sie die Viren schon in sich trägt, die sie auslösen. (Bild: Frank_Schultze)

Seit einigen Monaten nehmen weder Anschelka selbst die Medikamente ein noch ihre Tochter. Das zeigt sich in den Laborwerten. Geschlagene eineinhalb Stunden redet Marina Chalidowa auf die beiden ein, doch sie erntet nur verständnislose Blicke. Anschelka und Natalja stellen bohrende Fragen. Natalja hat im Internet von einem grossen heimlichen Medizin-Experiment mit HIV-Infizierten gelesen, das derzeit in Russland im Gange sei. Darum hat sie ihrer Tochter geraten, die Therapie abzubrechen.

«Informationskrieg gegen Russland»

Vor allem im Drogenmilieu ist die Skepsis gross gegenüber der Therapie gegen eine Infektion, die man jahrelang nicht spürt und nicht bemerkt. Oft haben Chalidowas Mitarbeiter Mühe, überhaupt zu den Menschen vorzudringen. Zuletzt hat sich in Jekaterinburg sogar eine Gruppe von sogenannten «Aids-Dissidenten» gebildet. Menschen, die die Existenz von HIV und Aids leugnen. 

Das sind zwar die absoluten Härtefälle. Aber der russische Staat selbst trägt wenig zur Aufklärung bei. Erst vor wenigen Monaten wurde Tamara Gusenkowa, die Vize-Direktorin des Russischen Instituts für Strategische Studien, bei der Präsentation eines Grundlagenpapiers zur HIV-Infektion mit den Worten zitiert, dass «das HIV- und AIDS-Problem als Element des Informationskrieges gegen Russland eingesetzt wird». Des Weiteren wurde die «Verhütungsmittel-Industrie» für das Problem verantwortlich gemacht.

Die Kirche verteufelt HIV-Aufklärung an Schulen als Propaganda frühkindlicher Sexualisierung. 

Auch die russisch-orthodoxe Kirche arbeitet sich am HIV-Problem ab: Immerhin hätten alle, die nach einem christlichen Moralkodex – also in einer monogamen Partnerschaft ohne vorehelichen Sex – leben, nichts zu befürchten. HIV-Aufklärung an den Schulen verteufelt die Kirche als Propaganda frühkindlicher Sexualisierung.

Teufelskreis mit Drogen und Gefängnis

Dass sich HIV in Russland so stark ausbreiten konnte, liegt aber auch an der umstrittenen Anti-Drogen-Politik. Noch immer stecken sich 60 Prozent der Neuinfizierten bei Drogeninjektionen an. Gerade in Jekaterinburg ist Drogenkonsum seit Langem weit verbreitet. Experten monieren, dass die Situation durch Spritzentauschprogramme sowie Drogenersatztherapien massgeblich verbessert werden könnte. Doch Methadon ist in Russland seit 1997 verboten.

Ein Teufelskreis: Statt sie zu therapieren, werden Drogensüchtige wegen kleiner Delikte in die Gefängnisse gesperrt. Dort ist die Infektionsrate besonders hoch. Zudem stecken sich HIV-Träger leichter mit Tuberkulose an, zuletzt haben Experten sogar vor einer «Syndemie» gewarnt, der Kombination mehrerer Übel, die sich gegenseitig begünstigen. 

Positive Signale auf höchster Ebene vermeint zumindest Vinay Saldanha, Regionalchef des Anti-Aids-Programms der Vereinten Nationen (Unaids), zu vernehmen. Im November hat das russische Gesundheitsministerium ein HIV/Aids-Forum in Moskau veranstaltet, unter Vorsitz von Swetlana Medwedewa, der Frau des Ministerpräsidenten. «So eine starke Mobilisierung für das HIV-Thema auf höchster Ebene haben wir in Russland noch nie gesehen», sagt Saldanha gegenüber der TagesWoche.

Zombie-Apokalypse im Birkenwald

Marina Chalidowa ist da allerdings skeptisch. Zu oft wurde versprochen, geredet, verhandelt. Aber an der Lage in Jekaterinburg hat sich nichts verändert. Im Gegenteil: Der Staat schikaniert jene NGOs, die Prävention und Unterstützung leisten. Die Stiftung Andrej Rylkow, die in Moskau ein Programm zum Spritzentausch organisiert, wurde auf die Liste der «ausländischen Agenten» gesetzt.

Chalidowas NGO in Jekaterinburg könnte die nächste sein, da sie auf finanzielle Unterstützung aus dem Ausland angewiesen ist. Beiträge erhält sie zum Beispiel von der deutschen Organisation «Brot für die Welt». So lange der Staat die Problemgruppen nicht direkt anspreche, sondern sie ignoriert oder einsperrt, werde sich das Virus weiter ausbreiten, sagt Chalidowa.



Novoye Vremya, AIDS, HIV, Jekaterinburg, Russland, Marina Jewa (l.), HIV infizierte Mutter mit ihrem Kind im Gespraech mit der Direktorin der Hilfsorganisation Novoye Vremya Marina Chalidowa. (c) 2016 Frank Schultze / Zeitenspiegel

Marina Chalidowa (rechts) im Gespräch mit einer HIV-infizierten Mutter: Ihre NGO könnte jederzeit als «ausländischer Agent» eingestuft werden, da sie auch Spenden aus Deutschland erhält. (Bild: Frank_Schultze)

Immerhin: Bei Mascha und Lena hat die Therapie gut angeschlagen. Ihre Blutwerte sind gut, die Nebenwirkungen gering. Die 14-jährige Mascha ist kräftig, treibt gerne Sport und liebt es, zu tanzen. Kürzlich haben Mutter und Tochter gemeinsam ein Home-Video gedreht. Mascha in einem weissen Kostüm, blutüberströmt, eine Art russische Zombie-Apokalypse im Birkenwald. Doch am Ende verwandelt sie sich in eine Sportlerin, die ihre Runden um den Sportplatz dreht.

Demnächst wird Mascha das Video bei einer HIV-Konferenz in Bukarest zeigen. «Wenn du nicht so aussehen möchtest, musst du ein gesundes Leben führen», heisst es aus dem Off. Aufstehen, weitermachen, die Dinge selbst in die Hand nehmen. «Jeder ist für sich selbst verantwortlich», fügt Lena hinzu.

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