Die Schweiz treibt die elektronische Demokratie voran wie kaum ein anderes Land. Das birgt Risiken, die über technische Sicherheitsfragen hinausgehen.
Eine einzige Stimme sorgte nach dem Urnengang vom 11. März 2012 für Aufruhr. Nicht dass die Internet-Stimmabgabe eines im Kanton Luzern wahlberechtigten Auslandschweizers etwas an der Zustimmung zur Zweitwohnungsinitiative geändert hätte. Das äusserst knappe Resultat basierte noch immer auf fast 30’000 Stimmen Unterschied.
Sondern weil sein Versuch, ein zweites Mal zu stimmen, vom E-Voting-System erkannt, gemeldet und korrigiert worden war. Die Bundeskanzlei nutzte dies, um im Pressecommuniqué einen Erfolg für das in zwölf Kantonen getestete Internet-Voting zu vermelden. Darauf reagierte die Piratenpartei mit einem geharnischten offenen Brief und forderte gemeinsam mit Politikern wie Toni Brunner, Balthasar Glättli, Lukas Reimann und Antonio Hodgers den «Stopp der Experimente».
Warum, mag man fragen, nachdem die doppelte Stimme gemäss den Genfer Behörden im System gelöscht worden und demnach also nichts passiert war? – Genau deswegen, erklärt Denis Simonet, Pressesprecher der Schweizer Piraten: «Es ist alles andere als nichts passiert», denn in einem elektronischen Wahlsystem dürfe eine doppelte Stimmabgabe nicht nur nicht möglich sein, noch viel weniger sollten einzelne Stimmen von den Behörden aus der elektronischen Urne gelöscht werden können.
Fehler gabs schon immer
Die «Experimente» dauern inzwischen schon fast zehn Jahre: Das Projekt «Vote électronique» geht zurück auf Abklärungen über die Internet-Demokratie, die der Bundesrat im Jahr 2000 in Auftrag gegeben hatte. Ab 2002 liefen erste Pilotprojekte, seit 2006 der Versuchsbetrieb in den Kantonen Genf, Neuenburg und Zürich.
Seither sind weitere neun Kantone in die Testphase einbezogen worden, in denen vorerst höchstens zehn Prozent und jeweils vor allem die Auslandschweizer per Internet wählen und abstimmen können. Sie eignen sich nicht zuletzt wegen ihrer «überschaubaren Zahl»: Sollte nämlich beim E-Voting etwas im grösseren Stil schieflaufen, dann haben ihre Stimmen kaum je genug Gewicht, um am Resultat etwas zu ändern und damit die Wahl ungültig zu machen.
Sicherheit, sagt Thomas Abegglen, Sprecher der Abteilung Politische Rechte in der federführenden Bundeskanzlei, habe oberste Priorität. Das Tempo bei der Einführung der elektronischen Wahl sei entsprechend gemächlich.
Das physische Wahlverfahren ist sicher, aber fehlerfrei ist es nicht. Der Berner Politologe Wolf Linder ortet ein Fehlerpotenzial schon in der Interpretation schriftlicher Stimmen (seit 1848 in der Eidgenossenschaft obligatorisch), die von den Stimmenzählern je nach Lesbarkeit als ungültig erklärt werden müssen. Fehlentscheide seien aber selten und dürften sich in der Gesamtheit gegenseitig aufheben.
Möglichkeit der Massenmanipulation
In einer Mausklick-Demokratie würden solche Ungenauigkeiten ganz wegfallen. Die Maschinen würden aber ein weit gravierenderes Problem schaffen: die Möglichkeit der Massenmanipulation. Denn während sich in der Papierwelt ein Betrüger mühsam Wahlzettel beschaffen oder Stimmberechtigte unter Druck setzen müsste, könnten Software-Verbrecher Schwächen im Abstimmungssystem im grossen Stil ausnutzen. Die Risiken sind vielfältig: Ob von aussen, durch Stimmberechtigte innerhalb des Systems oder gar Behördenvertreter selbst – die Szenarien für elektronischen Wahlbetrug sind vielfältig.
Die Systeme müssten mit komplexen Protokollmechanismen ausgestattet werden, die auch nachträglich alle relevanten Schritte überprüfbar machten. Das ist aufwendiger als die soziale Kontrolle im Wahllokal, wo wir uns darauf verlassen, dass die gewählten Büromitglieder die Identität jedes Stimmberechtigten kontrollieren, mit Stempel quittieren und sich später beim Auszählen der anonymen Zettel aus der Urne mit Argusaugen überwachen. Hier wäre eine beachtliche Verschwörung nötig, um nur schon in einem einzigen Wahllokal den Ausgang zu manipulieren.
Wahltrojaner auf dem PC?
In einem elektronischen System muss die Transparenz erhöht und zugleich das Wahlgeheimnis durch Anonymisierung gewahrt werden. Ein System an Verschlüsselungen macht dabei für jede Stimme nachweisbar, dass sie von einem Stimmberechtigten stammt, aber ohne dessen Identität preiszugeben. Ausserdem könnte das ausgezählte Resultat von jeder Bürgerin und jedem Bürger überprüft werden. Stimmen könnten weder gelöscht noch verändert werden. Die Methoden dazu existieren. Der Komplexitätsgrad der besten Lösungen ist so hoch, dass derzeit die Rechenleistung der Computer kaum für landesweite Abstimmungen ausreicht.
Thomas Abegglen sagt, dass der Bundesrat E-Voting niemals als Ersatz für herkömmliche Verfahren, sondern als zusätzlichen Kanal betrachte. Was durchaus auch der politischen Kultur geschuldet ist. Denn über die Auswirkungen der Digitalisierung auf die politische Gesellschaft gehen die Meinungen weit auseinander.
Wolf Linder beschrieb das Ritual des Urnengangs in einem Artikel 2003 als Zeichen seiner Bedeutung für die Bürger. Und der Publizist Beat Kappeler warnte als Vorsitzender eines vom Bundesrat einberufenen illustren Thinktanks zur «Digitalen Gesellschaft Schweiz», dass eine elektronische Beschleunigung der Politik diese zur Sklavin täglicher Umfragewerte und damit handlungsunfähig machen könnte.
Das sagte er 1998. Heute würde man wohl einfach feststellen, dass zwischen dem Protestmarsch von 2000 Unzufriedenen und den Protestklicks von 100’000 Facebook-Nutzern ein qualitativer Unterschied besteht.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 26.10.12