Mehr als nur ein leerer Kampfbegriff

Im Namen der Menschenrechte werden Kriege geführt, Terroristen gefoltert, Länder erobert. Sie sind ein Leitprinzip der heutigen Zeit. Wie ist es dazu gekommen?

Eine für alle: US-Senator Arthur Vandenberg beim Unterzeichnen der UN-Charta im Jahr 1945. (Bild: KEYSTONE /)

Im Namen der Menschenrechte werden Kriege geführt, Terroristen gefoltert, Länder erobert. Sie sind ein Leitprinzip der heutigen Zeit. Wie ist es dazu gekommen?

Wer Menschenrechte verteidigt, hat immer Recht. So erlebt man es häufig in politischen Debatten. Selbst Rechtspopulisten berufen sich auf die universalen Menschenrechte, wenn sie gegen Roma Stimmung machen. Es geht dann um «Kinderschutz», eine Errungenschaft der Menschenrechte. Es gibt keinen anderen Begriff, der in den letzten 70 Jahren eine vergleichbare Bedeutung erlangt hat. 

Ein Blick in die Geschichte zeigt, die Menschenrechte sind eine relativ neue Erfindung. Alles, was vor der Französischen Revolution liegt, hat nur wenig mit den Menschenrechten von heute zu tun. Im 19. Jahrhundert gab es einige Vorläufer, die sich aber meistens auf die «zivilisierte Welt» – also auf Europa – beschränkten.

Umdenken nach dem Zweiten Weltkrieg

Vor und nach dem Ersten Weltkrieg gab es einen Schwung an völkerrechtlichen Entwicklungen. 1864 entstand die Genfer Konvention, 1907 verschriftlichte man das Kriegsvölkerrecht und 1919 folgte der Minderheitenschutz – das alles hatte jedoch wenig mit den Menschenrechten zu tun.

Erst der Zweite Weltkrieg brachte die Menschenrechte hervor. Es war in erster Linie die Erfahrung des Holocausts, die zu einem Umdenken führte. Die Siegermächte entschieden einhellig: Es braucht ein neues Ordnungssystem, übergreifende Standards und Gesetze. Die Vereinten Nationen wurden gegründet und mit ihnen die UN-Charta der Menschenrechte. Völkerrechtler und Friedensaktivisten waren begeistert, jeder Mensch – egal welcher Hautfarbe – sollte universale Rechte erhalten, zumindest auf Papier.
Ein grosses Problem stellte die Gerichtsbarkeit dar. Wer sollte die Menschenrechte überwachen? Und wie konnten sie juristisch durchgesetzt werden?

Ein Beispiel gab es bereits: In den Nürnberger Prozessen mussten sich deutsche Kriegsverbrecher verantworten und wurden von einem internationalen Tribunal, von den Siegermächten einberufen, zu Strafen verurteilt. So etwas hatte es in der Geschichte noch nie gegeben.

Nach diesem Vorbild sollte die UN-Charta von einem internationalen Gericht überwacht werden: Der Internationale Gerichtshof (IGH) war geboren. Er blieb jedoch kaum mehr als ein Vorzeigeprojekt, ohne eigentliche Kompetenzen.

Nachzügler Schweiz

Währenddessen entstand auf dem Alten Kontinent ein neues Gremium. Der Europarat wurde 1949 als Kernstück der europäischen Einigung gegründet. Er verfolgte das Ziel, «einen engeren Zusammenschluss unter seinen Mitgliedern zu verwirklichen» (Art. 1, Satzung ER). Und mit dem Europarat entstand der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als wichtigste Instanz zur Überwachung der Menschenrechte. Nur hier konnten Menschen ihre Rechte gegenüber Staaten einklagen – jedoch nur gegenüber den Staaten, die Mitglied waren.

Die Schweiz blieb vorerst draussen, ein Beitritt stand lange nicht zur Debatte – die strikte Neutralitätspolitik sprach dagegen. Erst 1963 wurde die Schweiz Mitglied und 1974 unterzeichnete sie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Nicht zuletzt unter dem Druck des Europarats führte die Schweiz 1971 das Frauenstimmrecht ein, als eines der letzten Länder Europas.

Bis heute wurde die Menschenrechtspraxis ausgebaut und weiterentwickelt. Es kam beispielsweise die UN-Kinderrechtskonvention dazu, die die Schweiz 1997 unterzeichnete. Und vor wenigen Monaten hat sich die Schweiz verpflichtet, die Rechte für Menschen mit Behinderung zu fördern.

Eine leere Metapher?

Ist die Entwicklung der Menschenrechte also eine grosse Erfolgsgeschichte? Angesichts der Bedeutung, die die Formel erreicht hat, muss man sagen: Ja. Aber sind die Menschenrechte vielleicht zu einer leeren Metapher geworden, die von allen gebraucht wird, aber keinem etwas nützt?

Die Frage ist schwierig zu beantworten. Der Historiker Mark Mazower meint, die Menschenrechte seien ein Rückschritt gegenüber dem Völkerbundsystem in der Zwischenkriegszeit. Der Minderheitenschutz – eine Ansammlung an Rechten für ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen – wäre weitaus effektiver gewesen als die individuellen Menschenrechte. Eine gewagte These, die in der Geschichtswissenschaft viel Beachtung, aber wenig Zuspruch fand. Schliesslich konnten die Minderheitengruppen im Völkerbundsystem de facto fast gar nichts erreichen.

Wem nützt es, dass wir Menschenrechte haben? Nützt es der afghanischen Bevölkerung, wenn westliche Truppen am Hindukusch für Frauenrechte kämpfen? Nützt es den Irakern, wenn Kampfjets Raketen abwerfen, um ein totalitäres Regime zu stürzen? Kaum. Die Menschenrechte mutieren in manchen Fällen zu einem politischen Kampfbegriff, der das eigene Vorgehen legitimiert. Es ist dann häufig ein Abwägen zwischen Kriegsverlusten und möglichen Verbesserungen nötig.

Anders ist es beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Er verteidigt die Menschenrechte auf der untersten Ebene und nimmt Staaten in die Verantwortung. Die Menschenrechte bleiben ein mehrdeutiges Konstrukt: Kampfbegriff und Rechtsschutz zugleich.

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