Mehr Europa heisst mehr Freiheit

Vor 80 Jahren wurde in Basel die Europa-Union gegründet. Die Vorgängerin der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz stiess auf Widerstand – und wurde gar vom Staatsschutz überwacht.

Wie soll sich die Schweiz in Europa positionieren? Für die «Euro-Turbos» ist klar: mittendrin statt aussen vor. (Bild: ALESSANDRO DELLA VALLE)

Auch in der Schweiz gibt es Anhänger der europäischen Integration – und das seit 80 Jahren. Einst wollten sie Europa nach Schweizer Vorbild formen, heute beklagen sie, dass unser Land abseits steht, während die Demokratisierung des Kontinents voranschreitet.

Die heute als «Euro-Turbos» beargwöhnten Europa-Bewegten hatten es noch nie leicht, Anhänger für ihr abstrakt anmutendes Anliegen zu finden: die Universalisierung von Freiheit, Gleichheit und Menschenrechten über die Landesgrenzen hinweg. Vor 80 Jahren, am 24. Juni 1934, wurde im Basler Kino Capitol die Europa-Union, die Schweizerische Bewegung für die Einigung Europas (EUS), gegründet. Sie ist Vorgängerorganisation der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (Nebs), die sich heute für eine EU-Mitgliedschaft einsetzt.

Die EUS, deren führende Mitglieder noch bis 1952 von der Bundesanwaltschaft überwacht wurden, setzte sich die Gründung der Vereinigten Staaten Europas nach dem Vorbild der Schweiz zum Ziel, engagierte sich in der Nachkriegszeit aber auch für eine Mitgliedschaft der Schweiz im Europarat und in der UNO – die EU gab es seinerzeit ja noch nicht. Sie war einem föderalistischen Europa von unten verpflichtet – ganz im Gegensatz zu den grosseuropäischen Träumen von der anderen Rheinseite um das Gründungsjahr 1934.

Von oben oder von unten?

In ihrem ersten Programm forderte die Europa-Union die Schaffung einer europäischen Bundesverfassung mit einem Bundesparlament, einem Bundesgericht und gewählten Bundesräten. «Es war eine Mischung aus Sendungsbewusstsein und geistiger Landesverteidigung, welche charakteristisch für den Europagedanken der Schweizer Bewegung in den 1930er-Jahren war und in der gleichzeitigen Erhebung der Schweiz zum Vorbild und Sonderfall europäischer Staaten mündete», schrieb Thomas Brückner, der die Geschichte der Europabewegung in der Schweiz erforschte. Die Propagierung der Schweiz als Vorbild für ein geeintes Europa diente wohl immer auch einer Festigung der Willensnation gegen innen.



Richtungskämpfe innerhalb der länderübergreifenden Europa-Bewegungen prägten die Zwischenkriegszeit im letzten Jahrhundert. Die «Institutionalisten» wollten ein Europa «von oben nach unten» aufbauen, die «Konstitutionalisten» propagierten ein Europa «von unten nach oben».

Die Verfassung steht am Schluss

Zwar scheiterten alle bisherigen Versuche, Europa gewaltsam zu einigen – zu denken wäre etwa an Napoleon und dessen Bedeutung für das Bewusstsein eines gemeinsamen geschichtlichen, kulturellen und juristischen Erbes. Doch auch die «Konstitutionalisten» beziehungsweise «Föderalisten» – und mit ihnen die 1934 gegründete EUS – scheiterten mit ihrer Idee, den europäischen Einigungsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer Europa-Verfassung zu beginnen und Europa «von unten nach oben» aufzubauen, also mit einer Volksabstimmung in den zu vereinigenden Ländern.

Durchgesetzt haben sich bekanntlich die «Institutionalisten», die eine europäische Einigung durch Schaffung von Institutionen – etwa die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, auch bekannt als Montanunion – herbeiführen wollten. Die wirtschaftliche Einbindung sollte mehr oder weniger automatisch zu einem politischen Zusammenschluss führen.

Europa nahm den mühsamen technokratischen Weg der sektoriellen Teilintegration, ausgehend von beschränkten Gemeinschaftsprojekten (Kohle, Stahl, Atomenergie, Handel und schliesslich Währungsunion), und die Verfassung steht nicht am Anfang der europäischen Integration, sondern allenfalls am Schluss.

Die EU ist ein Demokratisierungsprojekt im Interesse der Bürgerinnen und Bürger.

Doch es wäre zu kurz gedacht, von einem Sieg der Wirtschaft über die Politik zu sprechen, von einem Europa «volksferner Technokraten» oder von Europa als einem neoliberalen Projekt, verhindern doch gerade die gemeinsamen Rahmenbedingungen, also das EU-Recht, dass die Wirtschaft diejenigen Länder gegeneinander ausspielen kann, die sich dieses gemeinsame Recht geben (oder sich diesem wie die Schweiz vertraglich unterstellen).

Die Gründung der Schweiz erfolgte ebenfalls massgeblich «von oben nach unten». Nach dem Sonderbundskrieg lehnten die (Teil-)Kantone Schwyz, Zug, Wallis, Uri, Nidwalden, Obwalden, Appenzell Innerhoden und Tessin die neue Bundesverfassung ab. In Fribourg brachten die Eliten nicht den Mut auf, das Volk über einen Schweizer Beitritt abstimmen zu lassen.

Übergeordnetes Recht macht Volk weniger erpressbar

Die Einschränkung der Autonomie der Kantone führte dennoch nicht dazu, dass die Macht der Mächtigen zunahm, sondern im Gegenteil die Freiheit der Menschen. Nachdem die Rechtsetzungskompetenz im Arbeitsrecht von den Kantonen zum Bund überging, konnten Fabrikherren beispielsweise nicht mehr mit einem Wegzug in einen Kanton drohen, der noch an der Kinderarbeit festhielt, um ein Volks-Nein zum Verbot der Kinderarbeit im eigenen Kanton zu erpressen (dieser «Angst-vor-Arbeitsplatzverlust»-Trick funktioniert leider heute noch). Mit dem neuen «suprakantonalen» Recht auf Bundesebene nahm die Erpressbarkeit des Volkes ab.

Genau dieselbe Freiheitschance bietet heute das supranationale EU-Recht, an welchem diejenigen kein gutes Haar lassen, die die Erpressbarkeit der Politik als «Standortwettbewerb» schönreden – als wäre es der Weisheit letzter Schluss, dass nicht nur Wirtschaftsakteure, sondern auch Gebietskörperschaften einander konkurrenzieren. Dass der Einigungsprozess von oben angestossen wurde, macht die EU nicht automatisch undemokratisch, im Gegenteil: Die EU ist – ähnlich wie damals die Gründung der Schweiz – schon von der Anlage her ein Demokratisierungsprojekt im Interesse der Bürgerinnen und Bürger.

Vorbildlich handelt die Schweiz gewiss nicht, indem sie von aussen gute Ratschläge für eine Integration erteilt, welcher sie sich selbst entzieht.

Heute gälte es, an diesem gemeinsamen Europa mitzubauen, das seit der Gründung der EUS vor 80 Jahren Wirklichkeit geworden ist. Die EU ist nie fertig gebaut, sie ist genauso ein «ewig unfertiges Werk» (FAZ-Mitherausgeber Günther Nonnenmacher) wie die Schweiz. Die alten Richtungskämpfe innerhalb der Europa-Bewegung sind Geschichte, es geht nicht mehr um die Frage, wie man den Integrationsweg beginnt, sondern wie man auf dem einmal eingeschlagenen Weg weitergeht. Eine Vertiefung der Demokratie erfolgte so oder so (und entgegen dem Pauschalurteil vom Demokratiedefizit der EU) durch die «Transnationalisierung» der Demokratie, also durch die Sprengung ihres nationalen Korsetts – ganz nach dem Vorbild der Schweiz, die die europäische Einigung im Kleinen vorgemacht hat. Mittlerweile hat die europäische Realität das Vorbild Schweiz überholt.

Zivilisatorischer Kraftakt für ein unerreichbares Ziel

Alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey forderte am 1. Juni an einer Veranstaltung in Basel eine «Verschweizerung der EU». Diese Forderung ist teilweise berechtigt, teilweise überholt und jedenfalls alt. Als Umschlagplatz für Europakonzepte propagierte die Schweiz immer die Übernahme des helvetischen Föderalismus, hielt sich im Internationalen aber so weit wie möglich aus dem Politischen heraus.

1992 musste der ehemalige EUS-Präsident Jean-Pascal Delamuraz als Bundesrat zur Ablehnung des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR) Stellung nehmen; heute wünschten sich wohl viele, wir hätten den EWR damals trotz fehlender Mitspracherechte angenommen. Ihrem eigenen Anspruch an die Demokratie genügt die Schweiz jedoch nur, wenn sie stimmberechtigtes Mitglied der EU wird, auch wenn die EU – ebenso wie die Schweiz – nie perfekt sein kann. Vorbildlich handelt die Schweiz gewiss nicht, indem sie von aussen besserwisserisch gute Ratschläge für eine Integration erteilt, welcher sie sich selbst entzieht.

Die heutige Europa-Bewegung Nebs will aufzeigen, dass mehr Europa nicht zu weniger Unabhängigkeit, sondern im Gegenteil zu mehr Freiheit führen kann – sofern differenziert wird, in welchen Bereichen es zu «entglobalisieren» und wo es zu «universalisieren» gilt. Der Prozess der Universalisierung von Freiheit, Gleichheit und Menschenrechten jenseits von Landesgrenzen als Prinzipien des Politischen holte in der Menschheitsgeschichte mit der Französischen Revolution erstmals richtig Schwung. Dieser Befreiungsprozess ist ein zivilisatorischer Kraftakt, der in jeder Generation engagierte Menschen braucht für die Erreichung eines letztlich nie zu erreichenden Ziels.

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Matthias Bertschinger
 ist Präsident der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz, Sektion beider Basel.

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