Anastasia Magazova ist auf der Krim aufgewachsen. Doch weil sie gegen den Beitritt zu Russland ist, hat sie sich mit Familie und Freunden überworfen. Die Fakultät für Ukrainisch, an der sie studierte, wurde geschlossen. Binnen weniger Wochen ist der Journalistin ihre Heimat fremd geworden.
Es ist furchtbar, ein Flüchtling zu sein. Ein Flüchtling im eigenen Land zu sein ist doppelt furchtbar. Es ist ein erniedrigendes Gefühl, wenn ein Fremder in dein Haus eindringt und dich dazu zwingen will, nach seinen Gesetzen zu leben. Das bricht einem das Herz.
Ich bin 25 Jahre alt, ich arbeite als freie Journalistin, ich schreibe Analysen und Essays zur politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lage in der Ukraine. Ich wurde in Simferopol – der Hauptstadt der Krim – noch zu Sowjetzeiten geboren. Mein ganzes Leben verbrachte ich auf der Krim, ich habe hier Abitur gemacht und die Universität besucht.
Mein gesamtes Erwachsenenleben spielte sich in der unabhängigen Ukraine ab, deswegen fühlte ich mich immer als Ukrainerin. Meine Eltern sind auch von der Krim, sie sprechen wie die meisten hier nur Russisch. In der Grundschule entdeckte ich meine Begeisterung für die ukrainische Sprache, weswegen Ukrainisch für mich schon immer wie eine zweite Muttersprache war. Nach der Matura ging ich an die Fakultät für ukrainische Philologie unserer Universität.
«Niemand braucht hier Ukrainisch»
Natürlich löste diese Wahl Unverständnis und Groll bei meiner Familie aus. Sie sagten: «Du findest doch keine Arbeit auf der Krim, niemand braucht hier Ukrainisch.» Dennoch – ich schloss mein Studium mit Auszeichnung ab und arbeitete einige Jahre als Ukrainischlehrerin. Ich war zufrieden mit meinem Beruf.
Eine Woche vor dem Referendum am 16. März, bei dem eine große Mehrheit für den Beitritt zu Russland stimmte, wurde meine Fakultät geschlossen. Das kann man als eine persönliche Tragödie verbuchen. Vorzügliche Wissenschaftler verloren ihre Jobs. Studenten verloren die Chance, ihren Wunschberuf zu erlernen.
Die Begründung der russischen Regierung für die militärische Besatzung der Krim – der Schutz der russischsprachigen Bevölkerung vor Repressalien – kommt mir völlig absurd vor: 85 Prozent der Krimbewohner sprechen Russisch. Eigentlich müsste man hier die ukrainische Sprache schützen. Als Anfang März die so genannten «grünen Männchen», Russen in Uniformen ohne Rang- und Hoheitszeichen, auf den Strassen Simferopols auftauchten, ist etwas in der Gesellschaft auf der Krim zerbrochen.
Bruder gegen Bruder, Freund gegen Freund
Gerade in den vergangenen Jahren hatte sich einiges getan. Ukrainer, Russen, Krimtataren haben in dieser Zeit endlich gelernt, friedlich miteinander zu leben. Diese Balance ist jetzt für immer verloren. Das gegenseitige Vertrauen ist weg. Jetzt stehen sich plötzlich Bruder gegen Bruder, Sohn gegen Mutter, Freund gegen Freund auf den Barrikaden gegenüber. Ihre Kämpfe kann man nicht als bloße Generationenkonflikte abtun – sie finden selbst unter Gleichaltrigen statt.
Leider bin auch ich persönlich betroffen. Ich musste Freundschaften mit Menschen kündigen, mit denen mich innige Erinnerungen verbinden. Und, warum sollte ich es verheimlichen, selbst meine Eltern teilen nicht meinen Standpunkt. Sie sind noch nicht alt, aber sie wurden in der UdSSR geboren und erzogen. Sie empfinden Nostalgie für das einfache und leicht verständliche Leben ihrer Jugend. Wenn ein Herrscher alle Entscheidungen für dich trifft, ist dein Leben bereits vor deiner Geburt durchgeplant, du kannst dem Ersten Programm im Fernsehen und der wichtigsten Zeitung im Land vertrauen.
Ich darf nicht darüber urteilen, ob das gut oder schlecht war. Aber ich bin in einer anderen Atmosphäre erwachsen geworden. Für meine Generation war das Leben immer ein Konkurrenzkampf, wir haben alles in Frage gestellt. Wir haben gelernt, kritisch zu denken. Doch Menschen wie meine Eltern sind auf der Krim in der Mehrheit, dort gibt es nicht viele Ukraine-Patrioten.
Kiew, die Verrückten
Als in Kiew der Euromaidan begann, konnten auf der Krim viele nicht verstehen, warum und weshalb all diese Menschen auf die Straße gingen. In Simferopol fanden nur kleine Unterstützungskundgebungen statt. Die Bevölkerung vor Ort bemühte sich, die Demonstranten in Kiew zu ignorieren. Man hielt sie für verrückt.
Nach der russischen Besatzung Anfang März fühlte sich die pro-russische Bevölkerung überlegen und stark. Zwischen den Bürgern der Krim begann ein wahrer Krieg. Den Ausgang des Referendums mit über 90 Prozent Wahlbeteiligung – absolut unvorstellbar in einer demokratischen Gesellschaft – bestimmte die mächtige russische Propaganda.
Als Erstes stellte man auf der Krim ukrainische Fernsehsender ab und ersetzte sie durch russische. Von den Bildschirmen herab zwang man den Menschen ein Feindbild auf, das Feindbild von vermeintlichen «Faschisten» und sogenannten «Banderowets», benannt nach dem Faschisten Stepan Bandera, dem Held rechtsradikaler Ukrainer. Das säte Hass und Zwietracht.
Solcher blinden Aggression bin auch ich begegnet, als ich in Simferopol unterwegs war. Eine ältere Dame kam angerannt und begann, mir mein traditionelles Hemd, Teil der ukrainischen Tracht, vom Leib zu reissen. «Banderowka! Verräterin! Faschistin!», schrie sie. Das war erniedrigend.
«Ich muss meine Heimat verlassen»
Nun gibt es im Bewusstsein der Bewohner der Krim keine Grenze mehr zwischen ukrainischen Patrioten und Faschisten. Gesprochenes Ukrainisch löst Verachtung aus, man spricht nicht mehr mit einem. Für Leute wie mich gibt es auf der Krim keinen Platz mehr.
Viele meiner Bekannten haben die Krim bereits verlassen und wollen ein neues Leben auf dem ukrainischen Festland aufbauen. Das macht Angst und tut weh, doch ich bin da keine Ausnahme. So leid es mir tut, ich muss meine Heimat verlassen. Ich verlasse das sinkende Schiff, das nicht gerettet werden will.
Ich habe kein Zuhause und kein Stimmrecht mehr. Das Leben wirft Menschen wie mich in andere Städte, wo Fremde einem mit der Zeit näher stehen als die eigene Familie. Ich konnte mir nie vorstellen, dass mit meinem Land, mit mir selbst, so etwas passieren könnte. Ich verlasse meine Eltern, mein Haus, meine Arbeit, ich suche ein neues Leben in einer neuen Stadt, tausende Kilometer entfernt von meiner Krim.
Jetzt muss ich in ein anderes Land reisen, um meine Verwandten zu besuchen. Ich brauche eine Genehmigung von einem fremden Staat. Meine eigenen Lebenspläne beziehen sich eigentlich noch auf die Krim. Doch über meine Zukunft bestimmt nun der Wille des Großen Bruders.