Meine Studenten, die «Regenschirm»-Revolutionäre

Dem Expat sticht zunächst das geldgetriebene Hongkong ins Auge. Seit den Studentenprotesten hat sich das geändert: Hier engagieren sich junge Leute für einen Kapitalismus, der ein soziales Gewissen hat. Augenzeugenbericht eines ehemaligen Basler Medienprofessors, der jetzt in Hongkong lehrt.

Der Studentenstreik in Hongkong heisst «Regenschirm-Revolution», weil sich die Protestierenden mit Schirmen vor Pfefferspray- und Tränengaseinsätzen zu schützen versuchen. (Bild: SHANNON STAPLETON)

Dem Expat sticht zunächst das geldgetriebene Hongkong ins Auge. Seit den Studentenprotesten hat sich das geändert: Hier engagieren sich junge Leute für einen Kapitalismus, der ein soziales Gewissen hat. Augenzeugenbericht eines ehemaligen Basler Medienprofessors, der jetzt in Hongkong lehrt.

Die Spitznamen politischer Bewegungen verraten entweder deren Selbstverständnis oder Fremdwahrnehmung: die «Nelkenrevolution» in Portugal 1974, die «samtene Revolution» in der Tschechoslowakei 1989, die «Twitter»-Revolutionen in Nordafrika 2011, die sich dann zum «Arabischen Frühling» auswuchsen. 

Der Studentenstreik in Hongkong heisst seit dem 28. September «Regenschirm-Revolution», weil sich die Protestierenden mit Schirmen vor den Pfefferspray- und Tränengaseinsätzen der Polizei zu schützen versuchten.

Ein fotogener Spitzname

Damit bekam der Regenschirm, der in Hongkong auch an Sonnentagen zum Stadtbild gehört, eine politische Bedeutung. Seitdem wird der Regenschirm als Zeichen vielfach variiert, mitunter makaber, wenn der Regen rot ist, oder kämpferisch, wenn das metallene Mittelstück des Schirms in eine rote Wolke mit China-Stern sticht. Ein passender Spitzname und ein sehr fotogener dazu. 

Der zivile Ungehorsam, für den man sich entschieden hat, ist voller Entschuldigungen. «Wir entschuldigen uns für die verursachten Umstände», ist von den Studenten immer wieder zu hören.

Der zivile Ungehorsam, für den man sich entschieden hat, ist voller Entschuldigungen. «Wir entschuldigen uns für die verursachten Umstände», ist von den Studenten immer wieder zu hören. (Bild: BOBBY YIP)

Und doch: Als Deutscher in Hongkong fragt man sich, ob nicht ein anderer noch viel besser passen würde. Als ich vor einem halben Jahr nach Hongkong kam, erklärte mir ein einheimischer Akademiker: In China gilt Aristoteles’ binäre Logik nur eingeschränkt, denn anders als im Westen sind Gegensätze (gut und böse, Freund und Feind) hier keine Widersprüche, sondern liegen in der Natur vieler Dinge und Ereignisse.

Schwert und Schild zugleich

Der Begriff dafür lautet «maodun». Die Anekdote dazu besagt, dass man zugleich ein Schwert verkaufen kann, das alles durchtrennt, als auch einen undurchdringbaren Schild. Hongkong ist das aktuellste Beispiel für «maodun»: Es ist China – und es ist nicht China.

In diesem Widerspruch lebt Hongkong seit 1997, als die staatliche Hoheit der britischen Kronkolonie vertragsgemäss wieder an China überging und zum einen der Staatspräsident der Volksrepublik China formell Hongkongs Staatsoberhaupt wurde, zugleich aber das Hongkonger Grundgesetz («basic law») für 50 Jahre den besonderen Status der Stadt festschrieb: die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems – einschliesslich seiner relativen Pressefreiheit und demokratischen Struktur.

Ein Land, zwei Systeme – so lautet die Kurzbeschreibung des Widerspruchs, und die bange Frage für viele Hongkonger ist seitdem, ob Hongkong im Jahr 2047 wie China sein wird oder umgekehrt.

Der Studentenprotest zeigt auch: In Hongkong ist die Konsumkultur noch durchlässig für politische Konflikte.

Angesichts der Ruhe, Disziplin und Geordnetheit, mit der dieser Protest weltweit beeindruckt, scheint jede Entschuldigung unnötig. Auch am Abend sah ich nicht eine Bierflasche unter den Studenten, dafür aber viele Studenten, die umhergingen, den Abfall einzusammeln und für das Rezyklieren zu sortieren.

Diese Protestler kaufen zwar kein Ticket, aber sie halten den Bahnsteig sauber, den sie erstürmen. Nichts macht den Unterschied zu Protestbewegungen anderswo (man denke nur an die ausgedehnten Strassenschlachten der Vem-Pra-Rua-Bewegung im Sommer 2013 in Brasilien) so deutlich wie die geöffneten Shops sogar in den Strassen, die von den Studenten besetzt sind. Hier kommen der «maodun»-Modus und die Bahnsteig-Metapher zusammen: Es ist zwar Revolution, aber es ist, wie das Schild vor einer Mall verkündet, zugleich auch «business as usual».

Hausaufgaben trotz Demonstrationen

Die Studenten haben sich im Vorfeld nicht nur bei den Anwohnern schriftlich für die Störungen entschuldigt, sondern auch bei den Lehrern fürs Fernbleiben vom Unterricht. Die E-Mails haben alle den gleichen Wortlaut: «Ich schreibe, um meine Abwesenheit im Kurs wegen meiner Teilnahme am von der Hong Kong Federation of Students organisierten Studentenstreik zu begründen. Bitte akzeptieren Sie meine Entschuldigung für die verursachten Umstände. Ich möchte zugleich die Gelegenheit nutzen, meine durchdachte Entscheidung zu erläutern.»

Dann folgen 200 Wörter über die Notwendigkeit demokratischer Wahlen und die Überzeugung, dass Studenten sich für Demokratie und eine bessere Zukunft einsetzen sollten, sowie das Versprechen, den Lehrstoff aufzuholen und alle Hausaufgaben zu erledigen.

Während das Versprechen fast amüsiert, ist die Rhetorik des Streikkomitees sehr prägnant. «Heute vorbereiten auf die morgige Welt», das ist ein Satz, den ich jede Woche auf dem Weg zu meiner Vorlesung im Universitätsgebäude lese. Er steht unter einem Bild mit Studenten und Lehrkräften in einem Labor. Jetzt tun die Studenten genau dies auf der Strasse, für ganz Hongkong.

Schwung durch Tränengas

Entsprechend heisst es im Streikaufruf: «Boykott des Unterrichts bedeutet nicht, mit dem Lernen aufzuhören. Wissen ist grenzenlos, innerhalb und ausserhalb der akademischen Arena. Wir versprechen, den Streik als Gelegenheit zu nutzen, über die Probleme unserer Stadt nachzudenken. Dies ist eine gute Zeit, unsere Verantwortung für die Schaffung einer freien, demokratischen Gesellschaft zu bedenken.» Für diesen Boykott befragt man zwar nicht den Bahnhofsvorsteher, wohl aber die Universitätsleitung und die Professoren.

Und die Revolution? Die scheint derweil langsam wirklich eine zu werden. Und zwar in dem Masse, als sie über ihr ursprüngliches Ziel hinausgeht. 

«Der Streik ist eine Einladung an alle Hongkonger, gemeinsam über unsere Zukunft nachzudenken», heisst es in einem Manifest der Studenten. «Streik ist der Ruf der Jugend an die älteren Generationen, sich zu vereinen und Widerstand zu leisten.»

«Der Streik ist eine Einladung an alle Hongkonger, gemeinsam über unsere Zukunft nachzudenken», heisst es in einem Manifest der Studenten. «Streik ist der Ruf der Jugend an die älteren Generationen, sich zu vereinen und Widerstand zu leisten.» (Bild: TYRONE SIU)

Das Tränengas gab der schon etwas erschöpften Bewegung neuen Aufschwung und ein neues Ziel. Nun wollte man nicht nur wirkliche demokratische Mitbestimmung bei der Wahl des nächsten «chief executive» in drei Jahren, man wollte dieses Recht sofort ausüben und den aktuellen Regierungschef Leung Chun Ying durch einen neuen, kompetenteren und eben demokratisch legitimierten ersetzen.

Der mächtigste Mann Chinas kann auf keinen Fall minderjährigen Studenten nachgeben.

Wenn die Absetzung ohne Neuwahl ginge, wäre Peking vielleicht einverstanden. Immerhin hat erst Leungs unprofessionelles Krisenmanagement Millionen Hongkonger auf die Strasse getrieben.

Aber Peking, das sagen alle ausser die Studenten, wird keinen Kompromiss eingehen. Aus dreierlei Gründen: Es ist eine Diktatur, die sich rühmt, aus den Fehlern der Sowjetunion gelernt zu haben. Es will jeden Domino-Effekt der Hongkonger Ereignisse in Restchina verhindern. Es will vor allem – ein weiterer wichtiger Aspekt chinesischer Kultur – das Gesicht wahren. Und da dies hier viel mit der Autorität zu tun hat, die man repräsentiert, kann der mächtigste Mann Chinas auf keinen Fall minderjährigen Studenten nachgeben.

Ihr Gesicht wahren wollen auch die Protestanten, die nicht wissen, wie sie all die mobilisierte Energie nun eigentlich einsetzen sollen. So sitzen sie geduldig da, umringt von «They can’t kill us all»-Plakaten, besprechen miteinander die Situation oder lesen in ihren Smartphones und erledigen nebenbei vielleicht wirklich Hausaufgaben.

Wo ist der Grund, um aufzuhören?

Und wenn sie ihre Lehrer sehen, grüssen sie erfreut und fragen besorgt: Was passiert als Nächstes? Als ich einen Studenten mit Flugblättern fragte, wie es weitergeht, sagte dieser, niemand unter den Studenten habe mehr die Kontrolle oder einen Plan. «Viele denken, das Ziel ist erreicht, man hat Peking Bescheid gegeben.» Dann fügte er hinzu: «Wir hatten einen Grund zu beginnen, nun brauchen wir einen, um aufhören zu können.»

Das war am 1. Oktober, 22 Uhr, noch vor dem Ultimatum an den Regierungschef und vor den Angriffen der Hongkonger Unterwelt. Zwar hatte man Peking noch gar kein Zugeständnis abgerungen, aber in gewisser Weise hatte dieser Student trotzdem recht.

Vieles war erreicht seit den ersten Protesten neun Tage zuvor im Tamar-Park. Denn ging es nicht längst um mehr als um das Nominierungsrecht der Wahlkandidaten? War aus der politischen Aktion nicht inzwischen ein kulturelles Ereignis geworden, das weit stärker sein konnte als die Frage nach dem nächsten Regierungschef?

Studieren, um zu konsumieren

Ich hatte Hongkong als aggressive, eher kalte Gesellschaft kennengelernt, «very money minded», wie die Hongkonger sagen, «hard workers», die von Markenwaren besessen sind. Dies ist die Stadt, wo Geschäfte auch an Feiertagen bis 22 Uhr offen sind, wo junge Frauen anstehen, um sich mit «Birkin Bags» fotografieren zu lassen, wo junge Männer glauben, keine Frau zu bekommen, solange sie nicht eine Wohnung oder wenigstens einen BMW kaufen können.

Hongkong wirkte auf mich wie eine Gesellschaft im Aufbruch und zugleich am Ende der Geschichte, wenn das «richtige Leben» nur noch als «gutes Leben» verstanden wird. Geldverdienen und Konsumieren – das Studieren schien lediglich eine Bedingung für beides zu sein. Wie der «BBC Business Report» am 3. Oktober formulierte: «It is time to stop the protest and get back to what Hongkong is best at: making money.»

Seit den Protesten hatte sich etwas geändert. Auf dem Weg zur Arbeit sah man auf den Bildschirmen der U-Bahn und der Omnibusse neben Werbung für Louis Vuitton, Rolex und Mercedes die Bilder der Demonstration. Schon das zeigt, was Hongkong von China unterscheidet: Hier ist die Konsumkultur noch durchlässig für politische Konflikte.

Wie New York nach dem Schneesturm

Geht Hongkong für diesen Unterschied auf die Strasse? Geht es am Ende darum, dass Konsum nicht alles ist? Dass Kapitalismus ein soziales Gewissen braucht?

Der wahrscheinlich wichtigste Faktor dieser Revolution sind die vielen «speaker’s corner», wo Vertreter aller Generationen von ihrem Leben in Hongkong berichten, von ihrer Wut, von ihrer Hoffnung. Hier formt sich die Identität der Bewegung und das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit. Im ältesten Medium der Mitteilung: Als Rede vor Publikum, das fünf Minuten und länger aufmerksam zuhört, bevor es selbst zum Mikrofon greift.

Die Studenten – viele noch gar nicht im wahlberechtigten Alter – haben die Revolte (oder: Einkehr) begonnen, nun fühlen sich alle Altersgruppen angesprochen. Man nimmt sich Zeit füreinander, erfährt Hongkong als gemeinsame Aufgabe.

Genau so, wie es im Streikaufruf vorgesehen war: «Der Streik ist eine Einladung an alle Hongkonger, gemeinsam über unsere Zukunft nachzudenken. Streik ist der Ruf der Jugend an die älteren Generationen, sich zu vereinen und Widerstand zu leisten.» Die Revolution schafft eine Entschleunigung, aus der eine neue Nähe wächst – ein bisschen wie New York nach dem Schneesturm.

Wollen die Protestler das, wofür China einmal angetreten war – eine Gesellschaft sozialer Gerechtigkeit?

Wenn dies überlebt (und wie viele meinen, das kann es nur, wenn entweder die Studenten den Streik rechtzeitig beenden oder die Regierung dies gewaltsam tut), bleibt genug, könnte man meinen. Aber es wäre gerade deswegen zu wenig. Denn je mehr die Hongkonger ihre Stadt als gemeinsame soziale Verantwortung betrachten, desto wichtiger ist ein Regierungschef, der von ihrer Zustimmung abhängt, statt von Pekings Gnaden. Es gehört zum Einmaleins der Demokratie: Nur wer abgewählt werden kann, fühlt sich verantwortlich.

Eine Regierung, die nicht von Peking-treuen Geschäftsleuten, sondern von allen Hongkongern gewählt ist, so die Hoffnung, würde endlich etwas tun gegen die zunehmende Schere zwischen Reich und Arm in dieser Stadt, in der prozentual die meisten Millionäre Asiens wohnen und zugleich eine ganze Generation von Alten ohne soziale Absicherung lebt – täglich wahrnehmbar anhand von gebückten alten Frauen, die Karren mit gesammeltem Abfall vor sich her schieben.

Zu wenig kommunistisch für die Kapitalisten?

Ist das eigentliche Ziel dieser Revolution – und damit verdiente sie sich diesen Namen wirklich – gar nicht nur politische Mitbestimmung, sondern gesellschaftlicher Wandel? Wollen die Protestler im Grunde genau das, wofür China einmal angetreten war – eine Gesellschaft sozialer Gerechtigkeit? Oder handelt es sich vielmehr um eine weitere Mittelstands-Revolution wie vor einem Jahr in Brasilien: gegen Korruption, für ungestörte Geschäfte. 

In jedem Fall: Es ist nicht ohne Ironie, dass der Studentenstreik gerade an dem Tag zu einem Massenprotest wurde, da China mit staatlichem Pomp die Gründung der sozialistischen Volksrepublik vor 65 Jahren beging.

Es wäre vielleicht übertrieben zu sagen, dass China dem kapitalistischen Hongkong nicht mehr genug kommunistisch ist. Aber es stimmt wohl, dass ihm ein kruder Kapitalismus unter kommunistischer Führung dann doch ein «maodun» zu viel ist.


Roberto Simanowski ist seit 2014 Professor für Digital Media Studies an der City University of Hongkong; zuvor war er Professor für Medienwissenschaft an der Uni Basel.

 

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