Mit 10 Schritten zu neuem Glanz für die Demokratie

Nationale Wahlen in der deutschsprachigen Schweiz scheinen von einer weltweit einzigartigen Krankheit befallen zu sein: Je schwieriger ein politisches Problem ist, desto weniger wird es vor den Wahlen öffentlich diskutiert. Obwohl nichts so viel zur Meinungsbildung beitragen und zur Wahl motivieren kann wie gute Diskussionen.

Im Vorfeld der Wahlen wurde es wieder deutlich: Unsere Demokratie muss saniert werden, damit das Kunstwerk wieder strahlen kann.

(Bild: Nils Fisch)

Nationale Wahlen in der deutschsprachigen Schweiz scheinen von einer weltweit einzigartigen Krankheit befallen zu sein: Je schwieriger ein politisches Problem ist, desto weniger wird es vor den Wahlen öffentlich diskutiert. Obwohl nichts so viel zur Meinungsbildung beitragen und zur Wahl motivieren kann wie gute Diskussionen.

Diese eigenartige Entpolitisierung der Wahl in die Bundesversammlung, immerhin ein Kerngeschäft in jeder Demokratie, das ist, als würden bei einer Tour de Suisse die Rennfahrer von ihrem Velo steigen, bloss weil ihnen ein speziell steiler Berg bevorsteht. Dabei sind es gerade die Duelle am Berg, die faszinieren, und weniger die Pedalerei des ganzen Feldes in den Ebenen.

Es sind nun aber nicht die Kandidatinnen und Kandidaten, die vor der Wahl den Berg scheuen. Die Fahrer wären bereit, sich anzustrengen. Die Lust dazu scheint vielmehr bei einigen Rennteams zu fehlen, sprich bei einigen Parteien. Oder meiden diese bloss den Streit, weil sie Angst haben, es könnte ihnen argumentativ der Schnauf ausgehen?

Was hinzu kommt: Die Strasse zum Gipfel hinauf ist voller Löcher. Zum Teil ist der Asphalt aufgerissen, zum Teil von der Sonne aufgeweicht. Der Veranstalter hat also ein Rennen auf einer Strecke versprochen, die sich schlicht nicht befahren lässt. Er hat zu viel versprochen. Die Voraussetzungen fehlen.

Leicht und bequem

Genau so bei den Wahlen. Auch hier fehlt die Grundlage, die Rennstrecke. Nämlich die politische Öffentlichkeit, in der diskutiert, gestritten, um ein Thema gerungen werden kann. Natürlich fehlt sie nicht komplett. Doch vor allem in der deutschen Schweiz scheinen die wichtigen Medien – Fernsehen, Radio, grosse Zeitungen – höchstens noch bereit zu sein, Einzelzeitfahren zu zeigen. Noch lieber zeigen sie, um beim Bild zu bleiben, Homestories von den Fahrern. Wie sie ihre Jungen zur Schule bringen. Was sie kochen. Was sie von der Politik halten.

Ein Streitgespräch unter vier, fünf Sachverständigen aus verschiedenen Parteien zu einem wichtigen Thema wie Europa, AHV, Krankenversicherung, Verkehrspolitik, Energiewende, Lohngleichheit, Siedlungspolitik, Bildung, Service Public, dies einmal pro Woche, wöchentlich ab Ende der Sommerferien, und zusammen mit Belegen über das Schicksal entsprechender Vorlagen in der letzten Legislatur, ergänzt mit dem Stimmverhalten der verschiedenen Fraktionen: Nada! Fehlanzeige! Nicht mehr zu sehen, nicht mehr zu lesen, nicht mehr zu hören.

Je schlimmer es um ein Thema steht, desto weniger kommt es vor den Wahlen zur Sprache.

Auch die Zeitungen haben aufgehört, darüber zu berichten. Über Debatten, die nicht sie organisiert haben. Kommentieren, das heisst: Argumente erweitern, auch das machen die Zeitungen nicht mehr. Zu «aufwendig» sei das – zu anstrengend halt. Aber ohne Arbeit gibt es auch keine Orientierung. Durchblick und Verständnis sind nicht auf dem Sofa zu finden.

Ein zentrales Thema, das alle angeht und das uns abhanden zu kommen scheint, fehlt auch dort, wo zumindest die Parteien noch versuchen, thematische Schwerpunkte zu setzen und programmatisch zu entwickeln: die Demokratie. Auch hier scheint das Paradox zu gelten: Je schlimmer es um ein Thema steht, desto weniger kommt es vor den Wahlen zur Sprache. Obwohl allen klar ist, dass die Thematisierung vorher die Voraussetzung – nicht die Garantie! – dafür ist, dass wir uns danach auch darum kümmern.

Programm zur Sanierung der Demokratie

Deshalb sei hier das Sanierungsprogramm für unsere erodierende Demokratie nachgeliefert. Es beinhaltet zehn Aufträge an die Liebhaber des Gesamtkunstwerks – immerhin die Grundlage unserer Freiheit sowie Bedingung für weniger Ungerechtigkeit. Und es ist ein Vorschlag, wie die schwach, dünn und fragil gewordenen Mosaikteile restauriert und um solche ergänzt werden könnten, die das ganze Werk wieder erstrahlen liessen:

  1. Die Demokratie muss inklusiver werden. Es darf nicht sein, dass fast ein Drittel derjenigen, die von den Entscheiden betroffen sind, vom Entscheidungsprozess ausgeschlossen werden. Drei Jahre, nachdem sie sich in der Schweiz niedergelassen haben, dürfen auch Menschen ohne Schweizer Pass an den National- und Ständeratswahlen teilnehmen.
  2. Auf Bundesebene ist das Initiativrecht zu grob. Es steht uns nur die grosse Kiste der Verfassungsinitiative zur Verfügung. Wie in den Kantonen benötigen wir die Gesetzesinitiative. Und angesichts der zunehmenden Bedeutung der Welt und Europas und der dortigen vorläufigen Dominanz der Regierungen benötigen wir ein EU-Initiativrecht, mit welchem dem Bundesrat entsprechende Aufträge erteilt werden kann.
  3. Die schweizerische Demokratie muss vom Geld befreit werden. Wer Geld in die Politik wirft, muss sagen, woher es kommt.
  4. Der politische Wettbewerb muss fairer werden. Die Werbebudgets vor Wahlen und Abstimmungen dürfen nicht zu ungleich sein. Es braucht einen Ausgleichsmechanismus.
  5. Die Demokratie darf nicht länger gegen die Menschenrechte ausgespielt werden. Es braucht in der Verfassung einen Schutz der Menschenrechte. Die Mehrheit darf nicht länger über Grundrechte von Minderheiten abstimmen können.
  6. Demokratie will auch gelernt sein. Demokraten fallen nicht vom Himmel. Wir müssen die politische Bildung stärken. Für jeden Franken, den die Gemeinden und Kantone dafür ausgeben, zahlt ihnen der Bund 90 Rappen zurück.
  7. Die politische Öffentlichkeit muss restauriert werden, der Service Public ist zu erweitern. Aus dem Topf, den wir heute in Form der Radio- und TV-Gebühren füllen, müssen künftig auch Qualitätszeitungen unterstützt werden, entsprechend der Seiten, die sie für Meinungsbildung und Diskussionen bereitstellen.
  8. Demokratie ist keine Sache des Wochenendes oder des Feierabends. Sie muss auch hinter den Bürotüren und Werktoren Einzug nehmen. In Unternehmen sollten die Arbeitenden auch Betriebsräte wählen dürfen, die ihre Interessen vertreten und bei Investitionen mitreden dürfen.
  9. Die Demokratie braucht Europa wie die EU die Demokratie. Wir müssen die Demokratie in einer europäischen föderalistischen Bundesverfassung europäisieren und transnationalisieren.
  10. Die Globalisierung der Wirtschaft ruft nach der Globalisierung der Demokratie. Anders können der Markt und das Kapital nicht zivilisiert werden. Dazu brauchen wir die Globalisierung des Strassburger-Modells mit einer Globalen Menschenrechtskonvention (GMRK), die jedem Menschen angesichts jeglicher Macht Rechte verschafft, die er oder sie im Notfall vor einem Weltgerichtshof einklagen kann.

 

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