Die ‚Ndrangheta hat Kalabrien fest unter Kontrolle. Doch nun wollen sich Einheimische und Flüchtlinge gemeinsam aus dem Würgegriff der Kriminalität befreien.
Das Nichts ist an diesem Wintermorgen ausgesprochen grün. Es raschelt im dichten Blattwerk der Orangenbäume. Nach ein paar Sekunden erscheint ein Kopf. Man sieht erst die Mütze, dann die braune Jacke, Handschuhe und zum Schluss taucht auch das Gesicht von Mamadou Diakhate zwischen den Bäumen auf.
«Ciao, come stai?», grüsst er mit gewinnendem Grinsen. Wenig später wird er den denkwürdigen Satz sagen, den er das erste Mal von seinem Grossvater in Senegal gehört hat: «Wenn du etwas säen willst, dann gehe dorthin, wo nichts ist.»
Das Nichts ist in diesem Fall Kalabrien, die Spitze des italienischen Stiefels. Von überall ist hinter Olivenhainen und Orangenplantagen das tiefblaue Meer zu erspähen, doch das Mittelmeeridyll täuscht. Kalabrien, das bedeutet vor allem karge Hügellandschaft, am Rand der Landstrasse achtlos liegen gelassene Autoreifen, von Kugeln zersiebte Strassenschilder, Jugendarbeitslosigkeit von bis zu 75 Prozent, Tausende nach Norden abgewanderte Einheimische.
Die ‚Ndrangheta, die Mafia Kalabriens, hat auch den Landstrich der Locride an der ionischen Küste fest in der Hand. Diakhate, vor 40 Jahren im Senegal geboren, lebt hier seit mehr als einem Jahr im Bergdorf Monasterace, 3400 Seelen, ein heruntergekommener Flecken.
System der Unterwerfung
Nicht weit von Monasterace liegt das unwirtliche Bergdorf San Luca im Aspromonte-Gebirge. Hier lieferten sich zwei ‚Ndrangheta-Clans einen blutigen Machtkampf, der 2007 in einen sechsfachen Mordanschlag in Duisburg mündete. Die ‚Ndrangheta ist eine weltweit operierende und mit einem geschätzten Jahresumsatz von über 40 Milliarden Euro eine der mächtigsten kriminellen Organisationen der Welt.
Hier unten an der Stiefelspitze hat sie ihre Basis und pflegt ein jahrzehntelang erprobtes System der Unterwerfung. Die prekären Lebensumstände sind von den Bossen gewollt. Wer sich gegen ihre Herrschaft stellt, riskiert sein Leben. Und doch sagt Diakhate: «Ich will hier bleiben.»
Goel hat mutige Projekte zur Unterstützung psychisch geschädigter Jugendlicher aufgebaut, ein Reisebüro für verantwortlichen Tourismus sowie ein Modelabel. Der Ausweg soll aber vor allem mit der Kombination aus biologischer Landwirtschaft und der Integration von Flüchtlingen gelingen. Das klingt beinahe absurd angesichts der desolaten Verhältnisse, doch das Modell scheint zu funktionieren. Hinweis darauf sind nicht zuletzt die regelmässigen Attentate der ‚Ndrangheta.
Etwa 100 Leute sind in den Goel-Projekten beschäftigt. Die im Jahr 2003 gegründete Kooperative hat inzwischen einen Gesamtwert von etwa vier Millionen Euro und ist ein Wirtschaftsfaktor in der Region. Die Mafia kann die Initiative nicht mehr ignorieren.
Brände und Molotowcocktails
Marinella Fiorenza und ihre Familie haben das zu spüren bekommen. Seit 13 Jahren führen sie einen Landwirtschaftsbetrieb in Monasterace. Er heisst «’A Lanterna», die Laterne. Aus dem Nichts und einem geerbten Gut mit 67 Hektar Land haben die Fiorenzas ein leuchtendes Beispiel gemacht.
Sie betreiben den biologischen Anbau von Oliven, Zitronen, Bergamotte und Chilischoten, nehmen in ihrem Agriturismo Touristen und Schulklassen auf. Und sie beschäftigen Flüchtlinge zu fairen Bedingungen. Einer von ihnen ist Diakhate. «Vorher gab es so etwas nicht in der Gegend. Vielleicht stören wir deshalb», sagt Mariella Fiorenza.
Sieben Anschläge in ebenso vielen Jahren musste die Familie Fiorenza hinnehmen. Zuerst brannte im August 2009 ein Teil des Olivenhains ab, im Jahr darauf fand die Familie einen einsatzbereiten Molotowcocktail samt Feuerzeug vor der Locanda, eine unmissverständliche Warnung. Die Bewässerungsanlage wurde zerstört, zwei kleinere Brände wurden gelegt und zuletzt brannte im Oktober der Geräteschuppen samt einem Traktor ab.
«Sie wollen, dass du den Boss um Schutz bittest, aber dann entkommst du ihnen nie wieder.»
«Sie wollen dich zwingen, dass du zum lokalen Boss gehst und um Schutz bittest, aber dann entkommst du ihnen nie wieder», sagt Mariella Fiorenza. Als die Verbrecher im Januar vor vier Jahren Feuer im unbewohnten Haupthaus legten und zwei Ferienwohnungen sowie den Dachstuhl abfackelten, schloss sich «’A Lanterna» der Kooperative Goel an. Heute gehören dem Antimafia-Konsortium etwa 30 biologisch produzierende Agrarbetriebe an.
Dass Goel auch versucht, Flüchtlinge dauerhaft zu integrieren und sie nicht nur als Köder für staatliche Subventionen zu behandeln, geht vielen in der Locride gegen den Strich. Zahlreiche durch die Abwanderung verwaiste Gemeinden in der Gegend nehmen Flüchtlinge in grosser Zahl auf. Das Dorf Riace etwa ist durch diese Strategie gar zu internationaler Berühmtheit gelangt.
Goel beliefert Biosupermärkte und erhält pro Kilo Orangen 40 Cent statt der üblichen fünf. (Bild: Julius Müller-Meiningen)
Doch oft unterscheidet sich das Aufnahmemodell kaum von einem parasitären Klientelismus, wie er auch den kriminellen Organisationen nicht fremd ist. Riace bekommt pro beherbergten Flüchtling zwischen 35 und 80 Euro am Tag, meist aus EU-Töpfen oder vom italienischen Innenministerium.
Die 1800-Einwohner-Gemeinde bringt derzeit knapp 400 Immigranten unter und verdient auf diese Weise Millionen. Der Bürgermeister verteilt die Mittel in Form von Massnahmen zur Arbeitsbeschaffung, undurchsichtig und im Stile eines Autokraten. Sobald die von der Regierung abgesegneten Gelder ausbleiben, bricht das System in sich zusammen. Von Nachhaltigkeit keine Spur.
Monasterace geht einen anderen Weg
Bei Monsaterace stapeln sich am Wegesrand neben den Orangenbäumen 350 Kisten mit leuchtenden Früchten. Diakhate, der in einem kleinen Wohnprojekt im Dorf untergekommen ist, hat die Orangen gemeinsam mit zwei Flüchtlingen aus Bangladesch gepflückt. Jetzt, kurz nach dem Morgengrauen, kommt der Lastwagen und die drei Männer laden die Zitrusfrüchte ein.
Man kennt diese Szenen aus den italienischen Fernsehnachrichten. Afrikanische Saisonarbeiter, die für Hungerlöhne arbeiten und von Landwirtschaftsbetrieben ausgenützt werden, die oft auch noch von der ‚Ndrangheta kontrolliert sind. Im 70 Kilometer entfernten Dorf Rosarno gab es deshalb vor fünf Jahren einen Aufstand; drei Euro pro Stunde verdienen die Erntehelfer dort, schwarz. Diakhate lacht über das ganze Gesicht: «Ich habe einen Vertrag, mir geht es gut.»
Gewiss ist auch die Situation des 40-jährigen Senegalesen verbesserungswürdig. Vor drei Jahren kam er aus Afrika nach Italien, gelangte bis nach Norwegen und wurde wieder in den Süden abgeschoben. Wie es wäre, ein geregeltes Arbeitsverhältnis und ein gewisses Mass an Unabhängigkeit zu haben, konnte er sich damals nicht einmal vorstellen.
Faire Löhne im Kampf gegen Schwarzarbeit
Statt ihre ungespritzten Orangen für den üblichen Schleuderpreis von fünf Cent pro Kilo an den Grosshandel zu verkaufen, garantieren die ausgewählten Klienten des Goel-Konsortiums, etwa Biosupermärkte, einen Festpreis von 40 Cent pro Kilo. Mehr bezahlt niemand in Kalabrien.
Auch der Schwarzarbeit wird der Kampf angesagt. Die beiden asiatischen Kollegen von Diakhate werden regulär als Tagelöhner bezahlt. Diakhate ist der erste Flüchtling aus dem Aufnahmeprojekt in Monasterace, der einen Einjahresvertrag bei ‚A Lanterna bekommen hat, als Hilfsarbeiter für etwa 700 Euro im Monat. Das ist wenig, aber ein Anfang.
«Wenn sich das Modell wirtschaftlich nicht selbst trägt, ziehen die Immigranten weiter. Wir aber wollen, dass sie bleiben.»
Vincenzo Linarello, Vorsitzender der Kooperative Goel
«Wenn es keinen echten Ertrag gibt und sich das Modell wirtschaftlich nicht selbst trägt, ziehen die Immigranten weiter», sagt Vincenzo Linarello, der Präsident des Goel-Konsortiums. «Wir aber wollen, dass sie bleiben.»
Diakhate hat mit Unterstützung der Leute vom Flüchtlingsprojekt in Monasterace seinen Führerschein gemacht, gerade lernt er Traktorfahren. Sie haben den Kontakt zu Goel vermittelt. Trotz aller Hindernisse scheint es heute, als könnte die Geschichte von Diakathe und seinen neuen Arbeitgebern ein gutes Ende nehmen.
Vor kurzem ist der Gutsverwalter von ‚A Lanterna in Pension gegangen, möglicherweise wird Diakhate bald seinen Job übernehmen. Er würde dann gerne anderen Flüchtlingen auf die Sprünge helfen, damit sie denselben Weg gehen können. Wie hatte sein Grossvater im Senegal damals gesagt? «Wenn du etwas säen willst, dann gehe dorthin, wo nichts ist.» Heute spriesst in Kalabrien wie ein zartes Pflänzchen die Hoffnung.