Das Drämmli bietet bei der Fahrt durch die unterschiedlichsten Quartiere die Möglichkeit zu soziologischen Betrachtungen. Wir fahren deshalb in den kommenden Wochen immer wieder einmal von einer Endstation zur anderen und berichten, was wir auf den verschiedenen Linien beobachten. Nach dem 8er ist nun der 11er an der Reihe.
Der Tramführer hat das Anzeigeschild über dem Führerstand noch nicht umgestellt. Noch immer steht da «St. Louis Grenze»: Es ist die Endstation der Tramlinie 11 im äussersten St. Johann. Das gelbe Tram steht wartend in der Kehrschleife, in der Mitte das schmucklose Kioskhäuschen. Von hier sind es nur wenige Meter bis zum Grenzübergang nach Frankreich.
Die Uhr zeigt 16.29, noch drei Minuten, bis das Tram wieder losrollt in Richtung Aesch: anderer Ort, anderer Kanton, anderes Milieu. Der Tramchauffeur kommt aus dem Kioskgebäude, schliesst die Türe zum Führerhaus auf und legt den Gashebel um.
Ein knappes Dutzend Passagiere sitzen bei der Abfahrt bereits auf ihren Plätzen. Männer mit müdem Blick auf dem Nachhauseweg von der Arbeit, eine junge Frau, zwei Eltern mit ihrem Kind. Das Tram rollt weiter durchs Industriegebiet in Richtung Voltaplatz.
Plötzlich alles ganz anders
Die Elsässerstrasse ist in diesem Abschnitt eine einzige Baustelle, Leitungen werden neu verlegt und eine Fahrradspur eingerichtet. Hinter den rotweissen Baustellenabsperrungen säumen die Labors von Novartis, der Fleischverarbeiter Bell, Coop und das Chemieunternehmen Brenntag die Strasse. Es ist kurz vor Feierabend. Bei der Haltestelle Hüningerstrasse steigen weitere Arbeiter zu. Mit Ankunft beim Voltaplatz endet das Industriegebiet: Auf der Voltamatte spielen ein paar Kinder auf dem Grün. Daneben steht der neugebaute Robinsonspielplatz in Rostfarbe.
Auf der anderen Strassenseite ziehen die ersten Wohnhäuser vorbei. Mit elegantem Schritt steigt an der nächsten Haltestelle eine Frau in grauem Hosenanzug ins Tram, etwas umständlich hievt sie ihren Rollkoffer hinter sich die Stufen rauf. Kaum hingesessen, beginnt sie auf ihrem Handy mit gedämpfter Stimme ein Gespräch in Englisch. Der Novartis-Campus ist hier gleich um die Ecke.
Das Tram rollt weiter durch die Elsässerstrasse. Auf dem Trottoir schlendern Menschen unterschiedlichster Herkunft. Cafe reiht sich an Lebensmittelgeschäft, Tattoostudio an Drogerie. In diesem Teil wurde die Strasse während den letzten Jahren deutlich aufgewertet.
Die Sitzplätze füllen sich mit jeder Station, das Publikum durchmischt sich zunehmend. Vorbei am St. Johanns-Park, am St. Johanns-Tor weiter in Richtung Innenstadt. Ab dem Marktplatz sind alle Sitzplätze besetzt. Zwei Schülerinnen sprechen hämisch über eine abwesende Freundin. Ein Kleinkind fängt schrill zu schreien an.
Männer in der Minderheit
Beim Bankverein erreicht die Auslastung ihren Höhepunkt. Die Fahrgäste sind bunt durchmischt, verschiedensten Alters und Milieus. Einzig bei der Geschlechterverteilung zeigt sich ein auffallend einseitiges Bild: 35 Frauen sitzen im hinteren Teil des Tramwagens, die Männer sind mit einem Dutzend klar in der Minderheit.
Beim Bahnhof kommt es wie erwartet: Das Tram leert sich. Weiter geht es über das Hochtrassee entlang dem gläsernen Peter-Merian-Haus. Auf den darunterliegenden Geleisen fährt ein Regionalzug in den Bahnhof ein.
Nach dem Bahnhof steigt der Altersdurchschnitt an
Als das Tram am Dreispitz vorbei fährt, bricht die Sonne durch die Wolken und erhellt die Gesichter der verbliebenen Fahrgäste. Der Altersdurchschnitt ist in der Zwischenzeit deutlich gestiegen. Ein Herr mit Anzug und Krawatte telefoniert ununterbrochen – seit er beim Aeschenplatz zugestiegen ist. Eine weisshaarige Frau krault dem Hündchen auf ihrem Schoss hingebungsvoll die Ohren.
Beim Einkaufscenter Gartenstadt leert sich das Tram erneut fast gänzlich. Die Passagiere werden zu Kunden und schreiten zielstrebig in das Einkaufszentrum hinter der Tramhaltestelle. Es wird ruhig, einzig der Geschäftsmann vom Aeschenplatz ist immer noch am Handy.
Nach dem Speckgürtel wirds dörflich
Die Häuser am Strassenrand werden zunehmend kleiner, die Gärten grösser. Hinter roten Ziegeldächern zeigt sich ein erstes Mal der Gempen, bevor die Häuserzeilen enden und sich der Blick vollends über ein erstes Feld auf die bewaldete Hügelkette öffnet.
Doch die Idylle ist von kurzer Dauer. Beim Lochacker tauchen wir erneut in ein Industriegebiet ein. Ein Arbeiter in Latzhose wirft seine Zigarette auf den Boden und steigt leichten Schrittes ins Tram. Bald rollt das Tram wieder durch ein Wohnquartier. Nach Reinach Süd haben wir den Speckgürtel der Stadt endgültig verlassen. Saftig grüne Felder auf beiden Seiten, ein Traktor mit angehängtem Pflug beackert die Erde.
Bevor das Tram in Aesch ankommt, erneut vereinzelte Industriegebäude, Autowerkstätten und Metallbaufirmen. Dann wieder Einfamilienhäuser. «Aesch Dorf, Endstation», kündigt die elektronische Tramstimme durch die Lautsprecher an. Das Tram kommt in Aesch in der Kehrschlaufe zum Stehen. Der Herr mit Krawatte verstaut sein Telefon in der Tasche, wirft sich den Mantel über die Schultern und steigt aus. In sieben Minuten ist Abfahrt – Richtung St.Louis Grenze.