Mit neun Bildern pro Sekunde durch Sibirien

Das Entrevues Féstival du Film zeigte «Les Soviets plus l’électricité» des französischen Cinéasten Nicolas Rey: Die Geschichte einer Reise durch Sibirien nach Magadan am pazifischen Ozean auf den Spuren der Vergangenheit.

Das Entrevues Féstival du Film zeigte «Les Soviets plus l’électricité» des französischen Cinéasten Nicolas Rey: Die Geschichte einer Reise durch Sibirien nach Magadan am pazifischen Ozean auf den Spuren der Vergangenheit.

In den nächsten 175 Minuten, das sind zwei Stunden und fünfundfünfzig Minuten, werde ich eine filmische Offenbarung erleben. «Les Soviets plus l’électricité» läuft ratternd an. Es ist dieses Geräusch des 16mm-Projektors im Rücken von uns, das den Rhythmus legt, die Gleise auf denen sich unsere Kinoreise vorwärts bewegt.

Eingeladen hat die künstlerische Leiterin des Entrevues Féstival du Film in Belfort, Lili Hinstin. Zum 30-Jahr-Jubiläum leistet sich das Festival den Luxus einer aussergewöhnlichen Filmreihe «Mattiere & Memoire».

Nicolas Rey spürt in seinem 2001 erschienenen Werk mit der Kamera der Textur der Landschaft nach und zeichnet die Topografie der Begegnungen mit Mensch und Natur auf die Leinwand. Dabei orientiert er sich an einem Urahnen der Filmerei. Von Dziga Vertov, dem experimentierfreudigen russischen Filmkünstler der 1920er Jahre, in die Filmgeschichte als «Der Mann mit der Kamera» eingegangen, übernimmt er die Laufgeschwindigkeit seiner kleinen S-8 Kamera: Neun Bilder pro Sekunde. Ab der doppelten Geschwindigkeit werden die Bewegungen geschmeidig, nah an der realen Wahrnehmung unseres Auges. Aber hier wackelt und zuckelt alles, nah an der Körperlichkeit der bebilderten Reise im Zug. Einerseits lässt sich so Material sparen und andererseits bleibt der filmische Prozess sichtbar. Überhaupt macht Rey auf seiner Reise das Filmen an sich immer wieder zum Thema.

Köstlich wie er in Kiew bei einem Filmlaborangestellten unter der Hand einige Bobinen des russischen S-8 Material Orwo erhandelt und die belichteten Rollen zur Entwicklung gleich da lässt. Die Vorgänge protokolliert er sachlich, fast lakonisch auf seinem Diktaphon in der Art des Ethnografen. Am Anfang meist losgelöst vom gefilmten Bild hören wir die Sätze vor der schwarzen Leinwand.

Eine Etappe führt über Kiew nach Omsk bis nach Novosibirsk. Knapp die Hälfte der Wegstrecke sitzen wir noch bequem in der Eisenbahn. Danach steigt Nicolas Rey auf öffentliche Busse um, versucht mit dem Schiff weiterzukommen und durchquert per Anhalter mit dem Lastwagen die sibirische Taiga. Bis er feststellt, dass er wohl aussehe, wie einer der zu viel gereist sei in der letzten Zeit.

Im Gepäck die Kassette des russischen Liedermachers Wladimir Vissotski, in den 1970er Jahren der Star des sowjetrussischen Chansons. Er besingt das Ziel unserer Reise: Magadan. Diese Stadt, wo man hinkommt, nicht weiss warum und nicht mehr weggeht. Eine genaue Anspielung, ist Magadan doch der Ort, der mit der russischen Geschichte der Deportationen nach Sibirien und des Gulags untrennbar verknüpft ist.

«Ich bin in Irkutsk im Gefängnis gewesen. Danach habe ich die Stadt nicht mehr ausgehalten. Hier im Wald lebte ich mit meiner Freundin ein gutes Leben. Leider ist sie abgehauen. Aber bis meine Tochter zwei Jahre alt ist, bleibe ich noch hier. Später dann zeige ich ihr die Stadt und die Mutter.» Mit grossem Respekt schildert der Film diese Begegnung mit einem Einsiedler.

Auch der Cinéast Nicolas Rey ist auf den Spuren seiner Vergangenheit unterwegs. Sein Vater hat als Ingenieur und Kommunist mitgearbeitet beim Aufbau der Sowjetunion. Als der Sohn dann am riesigen Staudamm in Bratsk mitten in Sibirien steht, wo der Vater Lenins Definition von Sozialismus als «Macht der Räte und Strom für das ganze Land» in Beton gegossen hat, weiss er, dass sein Film «Les Sovjets plus l’électricité» zehn Jahre nach dem Zusammenbruch der UdSSR ein gebrochenes Bild der Zeit abgibt. Diese Brüche sind sein Terrain.

Wir kommen zur dritten und letzten Etappe Irkutsk – Magadan. Schwieriger Boden erwartet den Reisenden, 2000 Kilometer keine geteerten Strassen mehr. Rey ist in seinem Element. Kurzes Durchschnaufen, Schulternrollen und Rollenwechsel hinten am Projektor. Ich staune: Der Saal hat sich kein bisschen geleert. Viele Schüler und Schülerinnen rekeln sich in den bequemen Kinosesseln und harren der Dinge die da kommen werden. In den letzten zwei Stunden hat kein Handy geklingelt.

Wir sind angekommen. Doch wo? Ganz im Osten. Auch das eine Frage des Standpunktes. Auf dem nördlichen Breitengrad wo auch Oslo oder Helsinki liegen. Bis 1991 lag die Stadt Magadan im militärischen Sperrgebiet, nicht zugänglich. Sie war das Eingangstor zu den Lagern im sibirischen Hinterland.

Von der filmischen Reise bleibt in Erinnerung die Querung der menschenleeren Tundra. Gegen Ende wie der Lastwagen fast abgesoffen ist in einer dieser immer wiederkehrenden Flussfurten. Und der verlassene Lunapark in der nach der Atomkatastrophe nicht mehr bewohnbaren Zone bei Tschernobyl am Anfang. In der Anstrengung mit der man sich der Wahrnehmung dieses Films hingeben muss, liegt etwas Versöhnliches. Die Kraft des Mediums offenbart sich unaufgeregt. Nun haben Bild und Ton in «Les Soviets plus l’électricité» immer mehr zu einander gefunden. Das Schwarz, die Auslassung ist schwächer als am Anfang.

Als Nicolas Rey in Magadan von Polizisten kontrolliert wird, antwortet er auf die Frage wie er hergekommen sei, wahrheitsgemäss: mit Bus, Schiff und Lastwagen. Das nehmen die Polizisten zum Anlass weiterer Abklärungen. Man muss die Vorgesetzten auf der Wache informieren. Das wiederum ist Anlass eine Wodkaflasche zu öffnen und anschliessend Rey auf eine Stadtrundfahrt einzuladen. Er geht mit, nicht ganz freiwillig.

Am Aussichtspunkt mit Sicht in die Bucht mit Hafen sagt Rey, wie schön die Nagajew-Bucht hier liege. Der Polizist schaut ihn mit zugekniffenen Augen an. Er wähnt sich kurz davor einen Spion an der Angel aus dem Trüben zu ziehen. «Woher weisst Du wie die Bucht heisst? Warst Du schon mal hier?» «Nein, aber Vissotski singt davon.» «Ach so.» Die Polizisten verlieren ihr Interesse und lassen ihn stehen. In seinem Hotelzimmer im Central tröstet sich Nicolas Rey mit der Gewissheit, dass das gegenüberliegende Hotel Magadan ebenfalls kein warmes Wasser hat.

Fragen bleiben. Wer mit diesen das nächste EntreVues Filmfestival in Belfort in einem Jahr besuchen will, ist damit am richtigen Ort. Hier zeigt sich das internationale Kino von seiner frischesten Seite. Und nach Belfort sind es von Basel aus nur 77 Kilometer.

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Armin Biehler ist ein Basler Filmemacher und Velokurier. Nach «Chicken Mexicaine» steht sein zweiter Kinospielfilm «venez avec moi» kurz vor der Veröffentlichung: biehler-film.org 

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