Schon in der Schule behauptete François Hollande, er werde einmal Staatspräsident. Das glaubte keiner dem Unscheinbaren aus der Provinz. Doch jetzt ist der «kleine Stagiaire» von dem sich die Koryphäen der «Parti Socialiste» den Kaffee bringen liessen plötzlich der mächtigste Mann Europas.
«Nicht im Traum» werde Hollande Staatspräsident, schätzte sein Parteifreund Laurent Fabius einmal hinter vorgehaltener Hand. Hollande war zwar Parteichef geworden. Aber eigentlich nur, weil der rundliche Bonvivant der einzige war, der die ambitionierten und heillos zerstrittenen Koryphäen des Parti Socialiste zusammenhalten konnte. Für Martine Aubry und Dominique Strauss-Kahn, Fabius und Royal blieb er «der kleine Stagiaire, der ihnen den Kaffee brachte», wie es ein Insider formulierte.
Hollande war der possenreissende Provinzler, gelegentlich Punchingball. «Pudding» nannten sie ihn, «Pedalo-Kapitän». Jetzt werden sie ihm die Glückwünsche bringen und ihn gnädigst um einen Ministerposten bitten. Denn jetzt ist François König im Präsidentenpalast – der Staatschef mit der grössten Machtfülle in ganz Europa. Der Mann, an dem in der französischen Politik fünf Jahre lang niemand vorbeikommen wird.
Der Vater, ein giftiger Rechtsextremist
Und das Verrückteste: Fränzchen hatte alles vorhergesehen. Schon in der Schule sagte er seinen Kollegen, er werde einmal Staatspräsident. Damals wohnte er noch in Rouen, der Provinzstadt der Normandie. Sein Vater war Arzt, Algerien-Nostalgiker und giftiger Rechtsextremist, seine Mutter Sozialarbeiterin und Linkskatholikin. Folglich schlug François‘ Herz auch links, doch sein Vater zog 1968 aus Angst vor den Roten in den Pariser Nobelvorort Neuilly-sur-Seine um, wo auch ein gewisser Nicolas Sarkozy aufwuchs. Franz war 13 und bekam von den Studentenunruhen wenig mit. Er genoss eine bürgerliche Erziehung und absolvierte ein Jura-Studium, die Handelsschule HEC, die Eliteverwaltungsschule ENA, dann die Polituniversität Sciences Po.
Dort kam er mit Sozialisten in Kontakt, dort lernte er auch Ségolène Royal kennen, mit der er in der Folge vier Kinder haben sollte. 1981 traten beide in den Dienst von François Mitterrand ein, welcher der Linken die Pforten zum Elysée geöffnet hatte. Dem Präsidenten fiel eher Royal auf; sie schaffte es in der Folge auch in mehrere Regierungsämter. Hollande war das nie vergönnt. Ihn schickte Mitterrand in die noch tiefere Provinz zurück, das Departement Corrèze, wo als gaullistischer Gegner ein grosses Kaliber wartete – Jacques Chirac.
Von Jacques Chira schaute er ab, wie man Hände schüttelt
In seinem ersten Duell unterlag Hollande schon im ersten Wahlgang. Er blieb seiner neuen Wahlregion aber treu und kämpfte hart um lokale Mandate; und selbst wenn er verlor, reiste er nicht wie andere Pariser ENA-Absolventen verärgert ab. Von Chirac schaute er ab, wie man Hände schüttelt, Marktfrauen küsst, mit Unbekannten scherzt. Nach langen Jahren brachte er es 2001 zum Bürgermeister der Stadt Tulle, 2008 zum Vorsteher des Departementsrates.
So hatte sich Hollande in geduldiger, zäher Kleinarbeit – eines seiner Lieblingsbücher ist «Der Mythos des Sisyphos» von Albert Camus – seine Hofburg geschaffen. Sie sollte ihm nach Chiracs Vorbild als Sprungbrett ins Elysée dienen und war ihm damit wichtiger als eine Technokraten-Karriere in Paris. Dort wurde er durch Vermittlung von Lionel Jospin Vorsteher des Parti Socialiste. Er blieb es elf Jahre, wurde landesweit bekannt, fiel aber sonst nicht weiter auf.Dafür verwaltete er die zerstrittene Partei mit sicherer und einigender Hand.
«Hollande, das ist nichts, das ist das Ding, das niemanden stört.»
2007 unterstützte er mit seinem Parteiapparat die Präsidentschaftskandidatur von Ségolène Royal. Die beiden gaukelten der Nation vor, sie seien noch ein Paar; dabei war Hollande bereits mit der Paris Match-Journalistin Valérie Trierweiler zusammen. Politisch schien seine nationale Karriere aber gelaufen. Hollande, nie auch nur Minister, wirkte am Fernsehen blass; ein hohes Mitglied der Sarkozy-Partei UMP meinte: «Hollande, das ist nichts, das ist das Ding, das niemanden stört.»
Als er im März 2011 erklärte, er wolle Präsident werden, war das Echo gering. Die Sozialisten hatten mit Strauss-Kahn bereits einen Spitzenfavoriten. Bis er im Mai 2011 sensationell über eine New Yorker Sexaffäre stürzte. Für Hollande war die Bahn frei, Ende 2011 gewann er die Primärwahlen. Aber er blieb der Apparatschik ohne Charisma, der Mann ohne Eigenschaften und ohne Visionen – das pure Gegenteil seines extravaganten Gegenspielers Sarkozy.
Frankreich wollte einen Antihelden
Und genau das wollte Frankreich: einen Anti-Sarkozy, einen Antihelden.
Zudem hatte Hollande vorgearbeitet. Seine Partnerin Trierweiler, die ebenso ambitiös aus der Provinz – dem Loiretal – nach Paris «hochgestiegen» war, wie man sagt, verordnete ihm einen neuen Look. Er speckte ein Dutzend Kilos ab, färbte die Haare und ging ins Medientraining. Er scherzt weniger, spricht mit mehr Nachdruck. Die Metamorphose vom Biedermann zum Präsidenten konnte beginnen.
Sie erfolgte in zwei Schritten. Im Januar legte Hollande in Le Bourget (bei Paris) eine Rede hin, die den 10 000 Zuhörern Schauer über den Rücken jagte: Da sagte einer ganz einfach, was er wollte, nämlich soziale Gerechtigkeit; er sprach geradlinig und ohne Firlefanz, nicht wie ein Pariser Salonlinker oder ein verblendeter Revoluzzer.
Den letzten Schritt Richtung Elysée tat Hollande vier Tage vor seiner Wahl: In einem aggressiven TV-Duell hielt er dem rhetorisch bisher ungeschlagenen Sarkozy stand und besiegte ihn nach zwei Stunden Redeschlacht mit seiner furchtbarsten Waffe, der Rechtschaffenheit. Jetzt glaubten nicht mehr nur 10 000, sondern zehn Millionen Bürger an Hollande. Gestern haben sie den Unscheinbaren, den ewig Unterschätzten zum Staatspräsidenten gewählt. Sisyphos hat seinen Mythos überwunden: Monsieur Nobody ist im Präsidentenpalast.