An der Grenze, im Spital und im Auhafen: Zehn Tage lang prägten Soldaten den Alltag in der Region Basel. Was tun die eigentlich? Ein Streifzug von Übungsplatz zu Übungsplatz mit Videos, Einschätzungen und kuriosen Stimmungsbildern.
Die Karte zeigt die Stationen des Roadtrips. Durch Klicken auf die orangen Punkte können Sie sich die Videos zu jeder Station ansehen.
Dienstagmorgen, 7:30 Uhr, Grenzübertritt Schweiz–Frankreich in Allschwil. Marie Stierlin kommt zu Fuss von der französischen Seite her, sie überholt einen Wagen nach dem anderen. Die Automobilisten müssen auf den Einlass in die Schweiz warten. Vor dem Zollhäuschen stehen Soldaten in grüner Tarnuniform, sie haben eine orange Leuchtweste übergestreift, die Gewehre baumeln an den Schultern.
Wissen Sie, weshalb die Soldaten da stehen, Frau Stierlin?
Marie Stierlin: «Ich finde es gut, dass die da sind und die Grenzen wegen der Flüchtlingsströme verstärkt worden sind.»
Es handelt sich um eine Übung. Nächste Woche sind die Soldaten wieder zu Hause.
Das scheint Frau Stierlin zu enttäuschen. Sie überquert dann von den Soldaten unbeachtet die Grenze. Die Wagen aber halten sie allesamt an, fragen, ob verzollbare Ware mitgeführt werde. Einzelne Autos werden herausgewinkt, mit der Taschenlampe ausgeleuchtet und durchsucht. Einzelne Autos wenden, sobald sie das Militär erblicken.
Volltruppenübung Conex 15 in der Region Basel. Die TagesWoche ist mit dem Auto unterwegs auf einer kleinen Rundreise durchs Conex-Land. Nachschauen, was passiert, überprüfen, ob das Unbehagen im Vorfeld berechtigt war.
Wie viel Kritik hatte es doch gegeben. SP-Nationalrätin Silvia Schenker sagte: «Mit diesem Szenario sind Assoziationen zur aktuellen Situation viel zu schnell gemacht. In den Köpfen mancher Involvierter – aufseiten der Soldaten und der Bevölkerung – können Flüchtlinge so als Gefahr wahrgenommen werden statt als schutzbedürftige Menschen.»
Aufbruch im Morgengrauen: auf der Testfahrt zum vom Militär gesicherten Grenzübergang Allschwil–Hegenheim. (Bild: Jonas Grieder)
Man störte sich an der Geschichte, die das Militär in Basel erzählen wollte, am Plot des Einsatzes. Europa zerfällt, Flüchtlinge ziehen unkontrolliert umher. In der Schweiz kommt es zu Sabotageakten, Anlagen werden zerstört, Rohstoffe entwendet. Eine düstere Vision: das heutige Europa mit seiner Flüchtlingskrise in einer «Mad Max»-Travestie. Und das Militär als Retter in der Not.
Divisionär Andreas Bölsterli, oberster Militär der für die Übung verantwortlichen Territorialregion 2, beteuerte, das Szenario habe mit dem eigentlichen Drehbuch nichts zu tun. Es sei bereits vor drei Jahren so skizziert worden, zu Planungszwecken. Geübt werde die Zusammenarbeit mit zivilen Behörden. Wie das die Kritik entkräften sollte, bleibt ein Militärgeheimnis.
Bölsterli gibt der TagesWoche während des Roadtrips durchs Conex-Land ein Interview.
Wurde die Übung der Bevölkerung deutlich genug erklärt? Wir waren am Zoll und haben mit Leuten gesprochen, die dachten, es handle sich um einen Einsatz wegen der Flüchtlingsströme.
Andreas Bölsterli: Das ist definitiv falsch. Wie wir mehrfach versucht haben zu erklären, auch an der Medienkonferenz vom 15. September, geht es nur darum, das Grenzwachkorps im heutigen Alltag zu unterstützen. Verantwortlich für den Eintritt in die Schweiz, für die Identifikation, ist immer das Grenzwachkorps. Nicht der Soldat. Die Übung war überhaupt nicht auf Flüchtlinge ausgelegt. Die Soldaten haben gefragt, wie viele Kilo Fleisch gekauft wurden.
War es ein Fehler, das Szenario so prominent zu verkünden?
Es war definitiv kein Fehler. Das Szenario beschreibt eine Realität, die eintreten kann. Wir waren jetzt einfach näher an der Realität, als wir das beabsichtigt hatten. Das wird jetzt seitens der Medien als Chance genutzt, um Meinungen kundzutun.
Meinungen begleiten die Conex-Übung, wo immer die Soldaten stehen. «Das nervt manchmal schon», sagt eine Pflegerin im Unispital. Neben Praktikanten und neuen Teammitgliedern verlangen nun auch die zugeteilten Soldaten nach ihrer Aufmerksamkeit, die eigentlich den Patienten gelten soll. 150 Sanitäts- und Spitalsoldaten leisten während zehn Tagen übers ganze Unispital verteilt Dienst. Zuvor hatte sich die komplette Truppe im unterirdischen Notspital der Uniklinik auf den Einsatz vorbereitet.
Zumindest auf der Medizin 5.1 profitiert man vom Einsatz. Das sagt jedenfalls Steven Rodoni, Pflegefachmann. Auf der Station werden Patienten mit Herz-, Kreislauf- und Lungenproblemen behandelt. «Erst war ich sehr skeptisch», erzählt Rodoni. «Man hört ja viel über die Motivation von Soldaten im WK. Aber jetzt bin ich positiv überrascht. Die Jungs, die uns zugeteilt worden sind, kommen meist vom Fach und sind eine Hilfe.»
Realität statt zwei Wochen Bunker
Soldat Lorenz Widmer, 25, arbeitet während der Conex auf der Medizin 5.1 in der Pflege. Jeden Morgen verlässt er im Tarnanzug die Zivilschutzanlage bei der Messe, überquert den Rhein, betritt das Unispital, hängt die Uniform in den Spind, zieht sich Spitalkleider an und tut das, was er auch tut, wenn er keinen Dienst leistet: Er pflegt Patienten. Ausserhalb des Militärs arbeitet Widmer als Pflegefachmann im Basler Merian-Iselin-Spital. «Ich bin jetzt nicht gerade pro Militär», sagt er, «aber das ist für einmal ein sinnvoller WK.» Das habe er auch seinem Umfeld erklärt, das wenig Verständnis für Conex habe. «Was wir hier tun, findet in der Realität statt, zwei Wochen in einem Bunker zu sitzen nicht.»
Clash der Kulturen: Bevor das Militär in Muttenz seine Ausstellung zeigt, waren in der alten Fabrikhalle Sprayer am Werk. (Bild: Jonas Grieder)
Hat Widmer seine Tagespflicht erfüllt, schlüpft er wieder in den Kämpfer und macht sich auf den Weg zurück in die Unterkunft. Hat es wenig Leute im Tram, darf er einsteigen, ansonsten muss er zu Fuss gehen. Die Armee will den Einheimischen möglichst nicht auf die Nerven gehen. Nur einmal wurde gefahren, das war am Demo-Freitag. Mit einer Polizeieskorte seien sie zum Messeplatz verfrachtet worden, erzählt Widmer.
In der Zivilschutzanlage selber beginnt nach der Schicht die Aufbereitung des Erlebten. Die gestandenen Soldaten erklären den unerfahrenen Kollegen, wie man damit umgeht, Menschen leiden und sterben zu sehen. «Die Psychohygiene ist wichtig, ohne die kann die Belastung zu gross werden», sagt Widmer.
Eine Belastung der Bevölkerung durch die Übung kann Divisionär Andreas Bölsterli nicht feststellen. Er nimmt eine hohe Akzeptanz der Militärpräsenz wahr.
Woran machen Sie das fest? Haben Sie aus der Bevölkerung entsprechende Reaktionen erhalten?
Jeder Soldat hat Reaktionen bekommen, und diese waren positiv. Wenn ich daran denke, wie man mit den Leuten redet, gerade in Baselland und Solothurn, also dort, wo es um die Unterstützung der Grenzwache geht. Oder auch am Auhafen – dann sind das durchaus positive Resultate. Es gibt aber bei jedem Event den einen oder anderen, der eine kritische Stimme einbringt.
10.30 Uhr, Ankunft bei der Militär-Ausstellung (Expo) in Muttenz. Zwei Soldaten weisen uns einen Parkplatz zu, kurzer Disput zwischen den beiden, ob wir das Auto längs oder quer hinstellen sollen. Das Ausstellungsgelände ist eingezäunt. Eine Lautsprecherstimme schildert das laufende Programm, die Hundevorführung finde in zehn Minuten statt, das Programm werde in einer halben Stunde nochmals auf Englisch vorgetragen. Heute ist VIP-Tag, eine Schar geladener Gäste besucht die Expo, darunter Militärattachés aus 16 Ländern.
Am Vortrag demonstrierten auf dem Gelände Jungsozialisten, präsentierten Transparente gegen die Militärübung, blieben friedlich. Am vergangenen Freitag, 18. September, war das anders, es kam zu gewalttätigen Ausschreitungen in Basel.
Wie haben Sie diese Demo wahrgenommen, Herr Bölsterli?
Die Demo hat mich gestört. Nicht wegen der Demo als solcher, sondern weil es offensichtlich nicht möglich ist, zu erklären, was wir gemacht haben. Vielleicht will man das ja auch nicht. Eigentlich habe ich nichts gegen andere Meinungen, überhaupt nicht. Aber ich habe etwas dagegen, wenn man andere Meinungen nur mit Gewalt vertreten kann.
Inmitten des Expo-Geländes steht eine grosse Fabrikhalle. Die Buchstaben am Gebäude wurden weggekratzt, verblasst steht noch immer «Lastwagen-Terminal AG Muttenz». Wir treten ein. Ins Innere der Halle dringt kaum Licht, Festbänke wurden aufgestellt, das Militär besorgt das Catering: Schweinesteaks, Cervelats und Salate stehen auf dem Programm, der Gemüsespiess auf der Karte ist durchgestrichen. An den Wänden prangen Graffiti, Soldaten schreiten durch die Halle, die Szenerie erinnert an einen Ego-Shooter auf einer Spielkonsole.
Auf der anderen Seite der Halle wurde eine «Kinderkampfbahn» aufgestellt, gleich daneben das «Infanterie Foto-Shooting» mit Panzerfaust und Sturmgewehr. In einem langen grünen Zelt zeigt das Westschweizer Bataillon «Bat Car 14» seine Errungenschaften. Männer sitzen wie in einem Waffenladen hinterm Tresen, vor ihnen liegen Bubenträume aus Metall, sie reden über Tränengas. Auf einer Leinwand explodiert eine Granate, die Actionbilder der letzten Einsätze.
Neben den Infanteristen hat das Katastrophenhilfsbataillon sein Lager aufgeschlagen. Das neue Lenzsystem wird vorgestellt, die Pumpleistung sei enorm, sagt der zuständige Soldat nicht ohne Stolz.
Auch die nächste Generation braucht Soldaten. Darum wird der Nachwuchs altersgerecht ans Militär herangeführt. (Bild: Jonas Grieder)
In der Arena führt Adjutant Huber von der Hundetruppe den Gehorsam der Vierbeiner vor. Er ruft das «grosse Spielzeug» auf den Teerplatz, ein Soldat im Schaumstoff-Schutzanzug. Das Szenario: Auf militärischem Sperrgebiet wird ein Sprayer entdeckt. Der Hund springt den Mann an, streckt ihn nieder und hält ihn bellend in Schach. Schäferhund Elvis ist ein Franzose, erklärt Adjutant Huber fast entschuldigend. Doch der Missstand ist bald behoben: Das Projekt «Schweizer Zucht» sei in vollem Gange.
«Haben Sie die Hunde gesehen?», will beim Hinausgehen aus dem Areal Major Emanuel Trueb wissen. Trueb ist Chef der Expo und ansonsten Leiter der Basler Stadtgärtnerei. Er bezeichnet sich zunächst als «Kurator der Ausstellung», verneint dann und sagt: «Das ist unpassend.»
Trueb versucht im Gespräch etwas ins rechte Licht zu rücken, von dem er glaubt, es sei verrutscht. Es sei falsch, dass die Armee mit Töten und Krieg gleichgesetzt werde, sagt er. Für ihn hat die Armee den Zweck, der zivilen Gesellschaft zu helfen. Egal, was passiere, die zivilen Behörden hätten immer das Sagen und die Armee sei immer subsidiär.
In der aktuellen Armeereform wird dieser Auftrag regional gedacht. Die «Weiterentwicklung der Armee» sieht vor, dass die militärischen Regionen, Territorialregionen genannt, stärker in den Kantonen verankert werden. Die Expo und auch die Conex 15 sind das Schaulaufen der Territorialregion 2, eine Demonstration ihrer Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden und Institutionen.
Eine lokale Schutztruppe für eine lokale Bevölkerung. Für Trueb ist der Unterschied zwischen der gesamten Schweizer Armee und der Territorialregion wichtig. «Man hat heute keinen Draht mehr zur Armee», sagt er. Die Expo soll diese Verbindung wiederherstellen, mit der Präsentation der regionalen Einheiten wie der Hundetruppe, den Infanteristen und dem Katastrophenhilfsbataillon. Doch das Interesse der Bevölkerung hält sich in Grenzen. Am Sonntag sei es richtig voll gewesen, an den übrigen Tagen blieb der Andrang auf die Expo unter den Erwartungen.
Warten auf etwas, das nie eintreten wird: Conex erzeugte einen kleinen Ausnahmezustand, um einen grossen zu simulieren. (Bild: Jonas Grieder)
Wir binden den Luftballon, den uns das Bat Car 14 freundlicherweise mitgegeben hat, an den Rückspiegel und verschieben, wie es im Armeejargon heisst. Nächster Stopp: Auhafen Muttenz, 14.00 Uhr. Gleich nach der Einfahrt ins Hafengelände sichtbare Militärpräsenz. Die Strasse wurde verengt, ein bewaffneter Soldat stoppt unser Fahrzeug. «Wohin wollen Sie?», begehrt er zu erfahren. «Einen Kaffee trinken gehen», antworten wir. «Dann trinkt einen für mich mit», sagt der Soldat und winkt uns durch.
Kampftruppen stehen an den Geleisen, Fahrzeuge sind unter Tarnnetzen versteckt. Das Übungsszenario im Auhafen lautet: Bewachung der Hafenanlage. Reisebusse kommen an, die Militärattachés steigen aus, um sich die Besetzung des Hafens aus der Nähe anzuschauen. Während diese die Feinheiten des Einsatzes begutachten, kommt in uns ein Gefühl der Beklemmung hoch. Weil das Durchfahren der Checkpoints an Bilder aus der Hauptausgabe der Tagesschau erinnert. Weil die Armee hier nicht mehr Truebs Freund und Helfer ist oder der fleissige Pfleger im Unispital, sondern gefühlt eine Besatzungsmacht. Sie mischt sich in den Gang der Dinge in unserer Region ein. Erzeugt einen kleinen Ausnahmezustand, um einen grossen zu simulieren. Und sorgt dafür, dass in den Köpfen der Menschen aus dem «Nie» ein «Möglich» wird.
Herr Bölsterli, an der ungarischen Grenze wird jetzt auch die Armee eingesetzt, um Flüchtlinge abzuwehren – wenn Sie diese Bilder sehen, geht Ihnen dann durch den Kopf: Können wir so etwas auch bewältigen?
Selbstverständlich gehen mir diese Bilder durch den Kopf. Sie machen mich auch betroffen. Man überlegt sich, was wäre die Möglichkeit hier. Aber ob und wenn ja, was, ist ein Entscheid der Politik. Da haben wir nichts zu sagen. Wenn unser Auftrag kommt, dann führen wir den aus.
14.30 Uhr, Kraftwerkinsel Birsfelden. Letzter Halt auf unserer kleinen Reise durchs Conex-Land. Ein Soldat dreht sich eine Zigarette, sein Wachpartner schaut mit dem Feldstecher einem Mädchen nach. Ewiges Warten auf etwas, das nie eintreten wird. Drei Zweierteams patrouillieren auf dem Stauwehr. Stellen keine Fragen, hindern niemanden am Passieren. Die Schweizer Armee ist dort, wo sie viele vermuten: in einer eigenen, merkwürdigen, aber harmlosen Welt.