Mindestens 29 Flüchtlinge sind vor Lampedusa erfroren, befürchtet werden noch viele Tote mehr. Nun wird Kritik laut an der EU-Operation «Triton»: «Würde die alte Operation noch laufen, wären die Menschen noch am Leben.»
Nach dem Kälte-Tod von mindestens 29 Flüchtlingen vor der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa ist die EU-Flüchtlingspolitik erneut in die Kritik geraten. «Die gegenwärtige Lösung ist nicht ausreichend», sagte die Sprecherin des Flüchtlingshilfswerks UNHCR, Carlotta Sami und gab mit Blick auf die Überfahrten der kommenden Monate zu Bedenken: «Wir sind nur am Anfang.» Die Bürgermeisterin von Lampedusa Giusi Nicolini sagte: «Wir dürfen nicht zulassen, dass Lampedusa erneut im Trichter der Gleichgültigkeit verschwindet.» Die 366 Toten vom Oktober 2013 hätten keine Wirkung gehabt.
Der damalige Schiffbruch unmittelbar vor Lampedusa hatte europaweit für Schlagzeilen und Bestürzung gesorgt. Papst Franziskus hatte anschliessend bei einem Besuch auf der Insel von der «Globalisierung der Gleichgültigkeit» gesprochen. Der für Flüchtlingsfragen zuständige EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos bedauerte das neue Unglück auf Twitter: «Das Drama geht weiter», schrieb Avramopoulos. «Wir müssen mehr tun.»
In der Nacht zu Montag war es im Kanal von Sizilien zu dem mutmasslich ersten Flüchtlingsunglück in diesem Jahr gekommen. Nach einem SOS-Ruf am Sonntagnachmittag erreichten zwei Schiffe der italienischen Küstenwache nach stundenlanger Fahrt gegen 22 Uhr drei Schlauchboote in Seenot. Sie navigierten etwa 110 Meilen, also rund 160 Kilometer weit entfernt von der Insel im Meer. Sieben Flüchtlinge sollen zu diesem Zeitpunkt bereits erfroren sein. Auf dem Weg nach Lampedusa, wo die Rettungsboote erst am Montagabend ankamen, starben nach übereinstimmenden Berichten weitere 22 Menschen an Unterkühlung.
Windstärke 8, meterhohe Wellen sowie ein eisiger Wind waren den Menschen aus Guinea, Senegal, Gambia und Niger zum Verhängnis geworden.
Mehrere der insgesamt 83 Überlebenden wurden in Krankenhäuser gebracht. Ein Flüchtling, der wegen Unterkühlung ins Koma gefallen war, wurde per Hubschrauber in eine Klinik in Palermo geflogen. Die widrigen Wetterbedingungen, Windstärke 8, meterhohe Wellen sowie ein eisiger Wind waren den Menschen aus Guinea, Senegal, Gambia und Niger zum Verhängnis geworden. Zwei der drei Schlauchboote waren nach Angaben der Retter nur noch mit wenigen Menschen besetzt. Da nicht auszuschliessen ist, dass sich auf den Schiffen mehr Menschen befanden, könnte die Zahl der Opfer wesentlich höher liegen. Die Staatsanwaltschaft Agrigent hat Ermittlungen eingeleitet und will die Überlebenden befragen, um Klarheit über den Hergang des Unglücks und die Hintermänner zu bekommen.
«Würde Mare Nostrum noch laufen, wären die Menschen noch am Leben», zitiert die italienische Zeitung «La Stampa» den Arzt Pietro Bartolo, der im Hafen von Lampedusa den Tod von 29 Menschen feststellen musste. Mare Nostrum, eine nach der Tragödie im Oktober 2013 von der italienischen Regierung eingesetzte Operation, war am 31. Oktober 2014 beendet und durch die EU-Operation Triton ersetzt worden.
Während bei Mare Nostrum die italienische Marine mit mehreren Schiffen weit vor der italienischen Küste patrouillierte und Flüchtlinge aufnahm, hat Triton einen wesentlich engeren Radius und defensiven Charakter. Nach offiziellen Angaben trug Mare Nostrum zur Rettung von rund 100’000 Menschen bei. Kritisiert wurde allerdings, die Schlepper würden durch die humanitäre Operation förmlich eingeladen, die Flüchtlinge im offenen Meer sich selbst zu überlassen.
«Würde Mare Nostrum noch laufen, wären die Menschen noch am Leben.»
UNHCR-Sprecherin Sami kritisierte, dass die bei der Triton-Operation verwendeten Schiffe der Küstenwache keine Ärzte an Bord hätten und bezog sich damit auf die Flüchtlinge, die erst auf den Rettungsbooten verstarben. Die gegenwärtigen Vorkehrungen seien nicht ausreichend. Bereits jetzt liege die Zahl der Ankömmlinge über den Werten des Vorjahres.
Während im Januar 2014 3300 Bootsflüchtlinge Italien über das Mittelmeer erreichten, waren es im Januar 2015 bereits 3709. Insgesamt kamen im vergangenen Jahr 170’000 Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Italien. Experten schätzen, dass die Zahl in diesem Jahr sogar noch übertroffen werden könnte. Nach UN-Angaben waren 2014 mehr als 3400 Menschen bei dem Versuch gestorben, Italien über das Mittelmeer zu erreichen.